Der entmündigte Leser (eBook)

Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31298-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der entmündigte Leser -  Melanie Möller
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Literatur muss frei sein, wild, darf böse sein und muss auch weh tun können, sonst verliert sie ihren Reiz, sagt Melanie Möller. Sie muss ein Freiraum bleiben für ungeschützte Gedanken und scharfe Worte. Dafür liefert die Autorin einen wilden Ritt durch mehrere Jahrhunderte Literaturgeschichte im Kampf für die Freiheit des Worts.   Bibelverbot für Schulen in Utah, Verbannung von Klassikern aus Lehrplänen und Schulbüchern, glättende Übersetzungen, zensierte Klassiker, politisch korrekte Vorgaben für Literatur, Sensitivity-Reading, Triggerwarnungen, Verbot ?schwieriger? Vokabeln: Ein Verhängnis!, sagt Melanie Möller und warnt davor, den Leser zu unterschätzen. In Sachen Kunst darf es keine Abstriche geben. Wer verwässert, entmündigt den Leser - und der ist schlauer, als man denkt.   »Was fehlt, ist ein leidenschaftlicher Kampf für die Autonomie der Literatur, der diese schützt wie eine bedrohte Minderheit - und zwar kompromisslos«, so die Autorin. Melanie Möller führt ihn.

Melanie Möller ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Sie schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen und hat u.a. Monographien zu Cicero, Ovid, Homer und zur Rhetorik verfasst.

Melanie Möller ist Professorin für Latinistik an der Freien Universität Berlin. Sie schreibt regelmäßig für verschiedene Tageszeitungen und hat u.a. Monographien zu Cicero, Ovid, Homer und zur Rhetorik verfasst.

1. Homer und die Bibel


Von epischer Gewalt und anderen Ungeheuerlichkeiten

Befragen wir in Sachen Sensibilität zunächst drei der ältesten und einflussreichsten Texte überhaupt: die Epen Homers, Ilias und Odyssee, sowie die Bibel.

Diese drei stellen für die heutige Lesewelt eine besonders große Herausforderung dar, nicht nur, weil sie aus so fernen zeitlichen Dimensionen stammen, sondern weil sie erst recht kulturell »fremd« wirken – zumal die überlieferten Texte mehrere einander überlagernde historische Schichten repräsentieren. Außerdem gestaltet sich die Frage von Autoridentität und Autorität als besonders komplex: Die Identität Homers bietet seit jeher eine hübsche Projektionsfläche für vielfältige Phantasien. Gab es den Herrn überhaupt? War es einer, waren es mehrere? Um wen geht es hier eigentlich? Eine beachtliche Plausibilität hat jedenfalls die Vermutung, hinter Ilias und Odyssee stehe ein Kollektiv aus Autoren verschiedener Generationen. Von den Autoren der Bibel lässt sich bekanntlich noch weniger sagen – und wenn wir das Werk für Gottes Wort hielten, so würde diese Annahme die Autorfrage nicht eben vereinfachen.

Auf dieser fragilen Grundlage sind, könnte man meinen, nachträglichen »Korrekturen« jedweder Art Tür und Tor geöffnet: Ist es nicht legitim, Texte dem Zeitgeist anzupassen, die von jeher einem gewissen historischen Wandel unterworfen waren? Ja und nein; denn mag es auch geboten sein, die Überlieferung und den Zustand der Texte in ihren Kontexten immer aufs Neue zu überprüfen und dem aktuellen philologischen Kenntnisstand anzupassen, so heißt das noch lange nicht, dass irgendjemand ihm unliebsame Inhalte (oder Formen) kosmetisch bereinigen sollte oder dürfte. Gewiss, das Problem der Übersetzung in unterschiedliche Sprachen zu verschiedenen Zeiten entfaltet hier eine besondere Dynamik; dennoch gilt es, dem Glutkern der Originaltexte möglichst nahe zu kommen, ihn am Glühen zu halten, und das ist sehr gut möglich, weil jede Sprache genug Material zur Verfügung stellt, das, was die zu übersetzenden Texte ausmacht, in adäquate Sprachkleider zu hüllen. Und das bedeutet in diesem Fall, dass die Kleider aus eben dem Stoff gefertigt werden sollten, den das Original verlangt – sonst hätten wir es in der Tat mit kultureller Aneignung zu tun.

Bleiben wir zunächst bei Homer. Was die in Rede stehenden Texte angeht, Ilias und Odyssee, so können sie den aktuellen Ansprüchen an Literatur und ihre Vermittlung beileibe nicht standhalten. In diesen archaischen Heldenepen wird auf nichts Rücksicht genommen, schon gar nicht auf die Befindlichkeiten etwaiger Minderheiten: Die Frauen vor allem sind rechtlos und werden versklavt. Noch dazu werden sie primär nach ihrem Äußeren bewertet. Ihre Relevanz beziehen sie zu einem wesentlichen Teil aus der Bedeutung, die sie für Männer haben: Die von Paris entführte Helena und die von Agamemnon ihrem ›Eigentümer‹ Achill aus Verdruss entwendete Lust-Sklavin Briseis sind Auslöserinnen der kriegerischen Auseinandersetzungen und Zuspitzungen vor Troja und führen eher nolens als volens den Untergang der Stadt herbei, wobei zahllose Opfer auf Seiten beider Kontrahenten zu beklagen sind. Ist das nicht eine ganz überflüssige Feier egomanischer männlicher Eitelkeiten, die empfindliche Leserinnen der heutigen Welt an problematische Erfahrungen in ihrem eigenen Leben, womöglich Auseinandersetzungen mit marodierenden Männern oder zornigen Zuhältern, gemahnen könnte? Überhaupt mag man es aus dieser Perspektive als wenig zeitgemäß empfinden, dass ein 24 Bücher umfassendes Epos ausdrücklich dem garstigen Groll eines Einzelnen gewidmet ist und seiner tausendfaches Leid bewirkenden Rache, und das unter Beteiligung der verstimmten Götter. Hier sei an die legendären Auftaktverse erinnert: »Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus, / Der zum Verhängnis unendliche Leiden schuf den Achaiern«. Manch einem mag auch die persönliche Abrechnung des Menelaos mit dem diskreditierten Königssohn Paris verdrießlich erscheinen. Diese baut nicht zuletzt auf verhärtete Klischees: Paris hat ’ne Frau geklaut, die schönste von allen dazu, und alle Männer müssen sich, da qua Eid gebunden, am blutigen Rachefeldzug beteiligen; der Täter indes wird als verweichlichtes, verweiblichtes, lediglich auf sein äußeres Erscheinungsbild fokussiertes Subjekt diffamiert: »Unglücksparis, du Held von Gestalt und Mädchenverführer! / Wärest du nie geboren und unvermählt doch gestorben!« (Ilias 3, 39f.[5]). Nicht nur die bewährten Vorurteile sind augenfällig, auch die Todeswünsche könnten bei sensiblen Gemütern Missfallen erregen – es ist ja mindestens unchristlich, jemandem den Tod zu wünschen und auch noch nachträglich das gelebte Leben absprechen zu wollen. Menschen, die, zum Beispiel, leidvolle Kriegserfahrungen gemacht haben oder überhaupt einfach sensibel sind, könnten sich re-traumatisiert fühlen, wie es neuerdings so schön heißt. Dabei sind Wunden doch sehr individuell, ähnlich wie Leseerfahrungen, und es ist schon deswegen ein Ding der Unmöglichkeit, Vorab-Rezepte verteilen zu wollen.

 

Es mag manch einen erstaunen, dass auch die Frauen in den homerischen Epen mit individuellen Zügen ausgestattet sind, zumindest einige von ihnen. Nehmen wir Helena: Wie viel persönliche Verantwortung trägt eigentlich die Königin von Sparta an dem Untergang Trojas? Ob sie ein Opfer göttlich-männlicher Intrigen oder zumindest in Teilen selbstverantwortlich war für ihr Schicksal und dessen verheerende Folgen, wurde schon in der Antike heiß diskutiert, bevorzugt in der Rhetorik: Dort hat man sie von Schuld freigesprochen, man sieht in ihr ein Opfer, jedoch in erster Linie ein Opfer der Sprache, von betörenden Worten; dies etwa die Einschätzung der berühmten Rhetoriker Gorgias und Isokrates im 5./4. Jahrhundert vor Christus.

Doch Helena wird eben nicht nur unter diesem Schuldkomplex betrachtet; ihr eignet insofern eine Ausnahmestellung, als sie zumindest teilweise als Redakteurin ihres eigenen Schicksals erscheint, so zum Beispiel in der berühmten Teichoskopie (»Mauerschau«; Ilias 3, 121–244), wo sie Priamos und Hekabe als Berichterstatterin, also Deuterin der Ereignisse, zur Verfügung steht. Hier zeigt sich, dass Helena über »agency« verfügt und ihre Rezeption bis zu einem gewissen Grade mitgestalten kann.

Damit steht Helena in merklichem Gegensatz zu einer Vielzahl der anderen Protagonistinnen. Briseis etwa, als unfreiwillige Konfliktverschärferin, verliert kaum ein Wort; ihre einzige längere Rede in Buch 19 der Ilias im Anschluss an den Tod des Patroklos weist sie als bedingungslose Adeptin ihres Schicksals aus, das heute von manch einer Interpretin für beklagenswert gehalten wird: »Dennoch ließest du [= Patroklos] nicht, als der schnelle Achilleus den Mann mir / Tötete und die Feste zerstörte des göttlichen Mynes, / Mich dort weinen, sondern versprachst, mich zur Ehegemahlin / Geben zu wollen dem hehren Achill, nach Phthia zu segeln / Und mir die Hochzeit zu richten im Volke der Myrmidonen«. Ein Opfer, das noch dazu zur Verräterin am eigenen Volke wird, an der eigenen Familie, am eigenen Geschlecht sogar? Wohl kaum – sie ist sich der Ehre, die ihr im Leid widerfährt, vollauf bewusst und nimmt sie dankbar an.

Kassandra, die von Apoll als zurückgewiesenem Liebhaber gestrafte Seherin, ist als äußerst wortgewandte Figur gestaltet; angehört wird sie, gemäß der Strafe, jedoch nicht: Ein beredtes Beispiel für misslungene Kommunikation. Mit Polyxena wird eine weitere Priamostochter sogar geopfert, am Grabe des seiner Fersenwunde erlegenen Achill – wenn dies auch eine der vielen Folgen des Trojanischen Krieges ist, die nicht in der Ilias, sondern in den in ihrem Umkreis entstandenen Fortschreibungen dargestellt wird. Wie das beim Mythos so üblich ist, gibt es von Polyxenas Hinrichtung leicht variierende Versionen: Mal stürzt sie sich rechtzeitig selbst ins Schwert, mal überragt sie ihre Peiniger moralisch wie in Ovids Metamorphosen, wo sie den rachsüchtigen Achilles-Zögling Neoptolemus (Pyrrhus) mit sprachlicher Souveränität bezwingt: »Da ich Polyxena bin, hätte ich ja doch niemandes Sklavin sein wollen«; und noch während ihr nach dem Todesstoß durch den unwilligen Priester, der damit beauftragt war, »die Knie versagten und sie zur Erde sank, blieb ihr Antlitz unerschrocken bis zum letzten Augenblick« (Met. 13, 439ff.).

Dennoch: Eine Frau als Sühneopfer für einen tollwütigen Mann – keine Seltenheit in antiker Literatur. Manche entscheiden sich sogar aus freien Stücken für die Selbstaufopferung – die berühmteste ist wohl Antigone. Diese Frauen bieten reichlich tragisches Potenzial, und sie sind deswegen auf die Bühnen der Dramatiker gewandert. Man darf sie auch bedauern und betrauern. Moralische Bewertungen ihres fingierten Schicksals oder der Gesinnung ihrer Bearbeiter haben sie hingegen weder nötig noch verdient. Erst recht eignen sie sich nicht dafür, sie als Identifikationsobjekte für eigene biographische Misshelligkeiten oder als Vergleichsfiguren für historische Ereignisse zu missbrauchen. Dem steht allerdings der jüngste Trend selbsternannter zeitgemäß-einfühlender Lektüren entgegen: Aus dieser Perspektive werden mitleidige Blicke auf diese auf ihre Opferrolle reduzierten Frauen geworfen; häufig werden sie als Opfer von Erzählungen männlicher Stimmen betrachtet. Diese Frauen werden unter Wert gedeutet, als unselbstständig nämlich.

Am...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte cancel culture • Debattenbuch • Gendern • Kunstfreiheit • Literatur-Geschichte • Streitschrift • Zensur
ISBN-10 3-462-31298-7 / 3462312987
ISBN-13 978-3-462-31298-0 / 9783462312980
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