Die Sprache des Kapitalismus (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491933-1 (ISBN)
Simon Sahner, geboren 1989, ist freier Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber des feuilletonistischen Online-Magazins »54books«. 2023 erschien sein Buch »Beim Lösen der Knoten - Nachdenken über Krebs«. Simon Sahner lebt in Freiburg.
Simon Sahner, geboren 1989, ist freier Autor, Literatur- und Kulturwissenschaftler und Mitherausgeber des feuilletonistischen Online-Magazins »54books«. 2023 erschien sein Buch »Beim Lösen der Knoten – Nachdenken über Krebs«. Simon Sahner lebt in Freiburg. Daniel Stähr, geboren 1990, ist Ökonom und Essayist. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FernUniversität Hagen, wo er zum Thema »Narrative Economics« promoviert. Seit 2022 erscheint seine Kolumne »Geldgeschichten« bei »54books«. Daniel Stähr lebt in Frankfurt am Main.
Kapitalismuskritische Bücher gibt es zuhauf. Doch Sahner und Stähr wählen einen erfrischenden Ansatz. Und sie machen nicht bei der Sprachanalyse halt, sondern dekonstruieren auch beliebte Narrative.
Eine erhellende Sprachkritik mit vielen Aha-Momenten
Wie die Sprache des Kapitalismus darüber bestimmt, wie wir sprechen und denken, beschreiben Daniel Stähr und Simon Sahner in ihrem hervorragenden Buch.
Die (Autoren) haben, man kann es nicht anders sagen, nämlich einen guten Job gemacht.
Dass ein anderes Sprechen über unsere Wirtschaftsform nicht möglich sei, wird man nach diesem Buch nicht mehr behaupten können.
KAPITEL 1 Preise steigen nicht … – was wir unter der Sprache des Kapitalismus verstehen
»Es gibt Erklärungen. Es gab sie schon immer; für jedes Menschheitsproblem gibt es eine bekannte Lösung – passend, plausibel, und falsch.«[1]
Henry Louis Mencken
Am 12. Juni 2005 hielt Steve Jobs, damals CEO von Apple, eine Rede bei der Graduiertenfeier der Universität Stanford. Die sogenannte Commencement Speech, bei der berühmte Persönlichkeiten den Absolvent*innen inspirierende Gedanken mit auf den weiteren Lebensweg geben, hat an US-amerikanischen Universitäten Tradition. Viele dieser Reden finden weit über das ursprüngliche Publikum hinaus Verbreitung. So auch die von Steve Jobs. Drei Geschichten, so begann er, wolle er erzählen, nur drei Geschichten aus seinem Leben: »Das ist alles. Kein großes Ding.«[2] Auch wenn er tatsächlich nur drei Geschichten erzählte, stimmte das natürlich nicht wirklich. Geschichten sind immer ein »großes Ding«, gerade in einem solchen Kontext. Und Steve Jobs erzählte sie zeitlebens meisterhaft. Seine Produktpräsentationen im schwarzen Rollkragenpullover gerieten r egelmäßig zur Predigt, in der er an die ganz großen Narrative der Menschheitsgeschichte anknüpfte. Gerade als der Apple-CEO vor zukunftsfreudigen Absolvent*innen einer renommierten Universität über die Herausforderungen und Chancen des Lebens sprach, waren seine Geschichten Erzählungen über das Leben als Firmengründer, als Tech-Prophet und als Selfmademan. In seiner Rede berichtete Jobs zunächst, dass er sein Studium abgebrochen hat, sich eine Zeitlang mit Pfandflaschensammeln durchkämpfen musste und ihn genau das auf den richtigen Weg führte. In der zweiten Story erzählte er von der Gründung der Firma Apple, davon, dass er dadurch früh gefunden habe, was er liebt, es verloren habe und wiederbekam. Die dritte Geschichte handelte von der Vergänglichkeit des Lebens, von seiner Krebserkrankung, von der er damals dachte, er habe sie überwunden. Inspirierend ist das ohne Frage. Aber Erzählungen handeln oft von mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Steve Jobs’ Geschichten sind auch Geschichten des Kapitalismus. Denn Jobs spricht die Sprache des Kapitalismus.
Als Sprache des Kapitalismus bezeichnen wir bestimmte Sprachbilder und Metaphern, Redewendungen und Phrasen, Mythen und Erzählungen sowie einzelne Begriffe, mit denen ökonomische Zusammenhänge beschrieben und erzählt werden. Diese Sprache ist im Laufe der vergangenen Jahrhunderte in unser Denken, unser Erzählen und unser Sprechen eingedrungen, so dass sie längst auch unser Privatleben und unsere Beziehungen erfasst hat – sie ist Teil unseres Alltags. Es ist eine Sprache, die der Kapitalismus hervorgebracht und weiterentwickelt hat und die unter anderem unsere Vorstellung davon, was es heißt zu wirtschaften, enorm beeinflusst. Sie durchdringt alle Bereiche unseres Zusammenlebens: unser Arbeits- und Privatleben, unsere individuellen Entscheidungen und nicht zuletzt die großen gesellschaftlichen Fragen und Debatten. Das zeigt sich, wenn wir eine Altersvorsorge abschließen oder ein Auto kaufen ebenso wie im politischen Umgang mit Krisen. Es ist eine Sprache, die wir automatisch sprechen und verstehen, wenn wir im Kapitalismus sozialisiert worden sind oder lange in ihm gelebt haben. Es ist eine Sprache, die wir oft nicht wahrnehmen und über die wir nicht mehr nachdenken müssen, weil sie für uns zur Alltagssprache geworden ist. In ihr werden sprachliche Bilder entworfen, Metaphern geschmiedet, Geschichten erzählt und Mythen weitergetragen.
Ein besonders wirkmächtiger Mythos, den Jobs auch in seiner Rede pflegt, ist die berühmte Erzählung vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Zentral in seinen drei Geschichten ist das, was er erreicht, nachdem er als Studienabbrecher und Pfandsammler in der Garage seiner Eltern Apple gegründet hat. Gelungen ist ihm dies, so behauptet er, aus eigener Kraft – kein Sozialstaat, keine finanzielle Förderung, nicht einmal die Unterstützung anderer Menschen spielen in der Erzählung seines Aufstiegs eine zentrale Rolle. Folgt man diesem Narrativ, hat Jobs es letztlich allein geschafft, durch Leistung und Innovation vom Bordstein zur Skyline aufzusteigen – der kapitalistische Traum (und der US-amerikanische). Es gibt unzählige solcher Selbsterzählungen von Gewinner*innen innerhalb des kapitalistischen Systems. Die meisten davon sind unvollständig und verbergen Entscheidendes, viele sind schlicht und ergreifend falsch. Warum sind sie dennoch so erfolgreich?
Sprache stand und steht seit einigen Jahren immer wieder auf dem Prüfstand. Wir haben, angestoßen durch die Arbeit vieler Aktivist*innen, unsere Sprache auf sehr viele Untiefen hin abgesucht. Es wird darüber debattiert, wo in unserer Sprache sexistische, rassistische, queerfeindliche und/oder ableistische – kurz: diskriminierende – Sichtweisen und Vorstellungen eingegraben sind. Manchmal so tief, dass vor allem privilegierte Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen sie jahrzehnte- und jahrhundertelang nicht erkannt haben, nicht erkennen wollten oder sie vielleicht auch einfach bewusst ignoriert haben. Das Problem an dieser Art von sprachlichen Mustern ist ihre Macht, Realitäten nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu schaffen. Das simpelste und vielleicht meistdiskutierteste Beispiel dafür ist das generische Maskulinum und sein Gegenteil, die inklusiv gendernde Sprache. Wenn wir immer nur von Ärzten und Krankenschwestern sprechen statt von Ärzt*innen und Pflegekräften, sind Menschen in weißen Kitteln und hoher Position in Krankenhäusern in unserer Vorstellung männlich und Menschen, die Pflegearbeit leisten, weiblich. Diese Vorstellungen beeinflussen unser Denken und Handeln.
Das Bewusstsein für die diskriminierende Wirkung von Sprache wurde in den vergangenen Jahren also endlich großflächig geweckt. Bis heute wird ausgehandelt, wie wir damit umgehen. Neben diesen wichtigen Debatten, in die wir uns nicht hineindrängen wollen, braucht es eine weitere. Wir müssen darüber sprechen, wie der Kapitalismus in unserer Sprache wirkt.
Wir wollen den sprachlichen Mustern und Spuren nachgehen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat und die ihn gleichzeitig stützen. Wie funktioniert die Sprache des Kapitalismus? Welche Begriffe werden verwendet, in welchen Metaphern wird gesprochen, und an welche Sprachbilder haben wir uns gewöhnt? Welche Akteur*innen bedienen sich dieser Sprache in besonderem Maße und profitieren von ihr? Was erzählen sie über Kapitalismus, welchen rhetorischen Strategien folgen ihre Narrative, und wie beeinflussen diese Strategien ihr Auftreten in der Öffentlichkeit?
Wir sprechen in einer Sprache über unser Wirtschaftssystem, die die Funktionsweise ökonomischer Prozesse verschleiert, Handlungsmöglichkeiten unsichtbar macht und dadurch bestehende Machtstrukturen festigt. In den folgenden Kapiteln werden wir anhand zahlreicher Beispiele zeigen, wie wir durch diesen Sprachgebrauch in eine passive Position gedrängt werden. Gleichzeitig erzeugt dieses Sprechen falsche oder irreführende Vorstellungen davon, wie unser Wirtschaftssystem und seine Abläufe funktionieren. Das führt dazu, dass wir unsere eigene Rolle in diesem System falsch einschätzen. Um ein Beispiel zu nennen, auf das wir noch öfter zurückkommen werden, weil es so prägnant wie einfach zu verstehen ist: Wir sind es gewohnt, davon zu sprechen und zu hören, dass Preise – zum Beispiel für Gas im Herbst 2022 oder für Lebensmittel durch die Inflation – steigen. Fakt ist aber, dass Preise erhöht werden oder – im Fall der Finanzmärkte – durch menschengemachte Algorithmen steigen. Was sie nicht tun, ist einfach von sich aus zu steigen, um dann mit Mühe und Not davon abgehalten zu werden, damit wir uns im Winter das Heizen und den Glühwein leisten können. Ein kleiner Unterschied mit großer Wirkung. Wenn wir davon sprechen, dass Preise steigen, wird verschleiert, dass es Gründe dafür gibt und jemand oder etwas die Verantwortung trägt. Steigende Preise verbergen im Gegensatz zu Preisen, die erhöht werden, dass es Menschen gibt, die davon profitieren und vielleicht sogar ein Interesse daran haben, dass Konsument*innen sich nicht fragen, wer für die hohen Preise verantwortlich ist. Heutzutage reicht es vielen Medien nicht mehr, Preise steigen zu lassen. Nein, inzwischen explodieren die Preise sogar. Selbst die Tagesschau hat in den vergangenen Jahren in ihrer Berichterstattung über die Preise für Zucker, Baumaterialien oder Gas Preisexplosionen heraufbeschworen.[3]Und im Sommer 2022 stellte sie ganz lapidar fest: Preisexplosionen überall.[4]
Das heißt nicht, dass diese Sprache immer bewusst verwendet wird oder dass sie Teil einer Verschwörung ist, um ahnungslose Bürger*innen hinters Licht zu führen. Wir unterstellen nicht allen Personen, die in diesen Mustern kommunizieren, dass sie raffgierige und unsoziale Kapitalist*innen seien, die unschuldige Verbraucher*innen unwissend halten wollen. Im Gegenteil: Wir alle sprechen die Sprache des Kapitalismus, erzählen seine Geschichten und merken es teilweise nicht einmal. Umso wichtiger ist es, dass wir lernen, die Sprache des Kapitalismus zu verstehen.
Ein weiterer zentraler Aspekt ist, dass Systeme Strukturen entwickeln, die dazu...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 54books • Big Data Planwirtschaft • Börsencrash • Buch über Alternativen zum Kapitalismus • Chicago Boys • Degrowth Kommunismus • der kranke Mann Europas • Die unsichtbare Hand • Diskriminierung • Finanzwelt • freier Markt • George Akerlof • green growth • Kapitalismuskritik • Klimakrise • Klimaneutralität • Kommunismus • Literatur über Geld und Wirtschaft • Literatur über kapitalistische Diskurse • Milton Friedman • Mythen • Narrative Economics • Postkapitalismus • Sachbuch über Kapitalismus • Sprachkritik • Systemsturz • Technologieoffenheit • The Sad Millennials • The Wolf of Wall Street • Überlebenswirtschaft • Über-Reichtum • Ulrike Herrmann • Wie Geschichten unser Leben bestimmen |
ISBN-10 | 3-10-491933-X / 310491933X |
ISBN-13 | 978-3-10-491933-1 / 9783104919331 |
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