Heult leise, Habibis (eBook)
192 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-5963-2 (ISBN)
Die größte diverse Minderheit sind die vernünftigen Stillen. Es ist an der Zeit, sie in unserer Gesellschaft mitzudenken und zu berücksichtigen. Dieses Buch richtet sich gegen alle ignoranten Dauerempörten, die getrieben von ihren Komplexen ihre eigene Perspektive als Nabel der Welt verstehen und nicht einsehen wollen, dass sie vernunftbegabte Stimmen mit ihrem Egoismus mundtot machen und damit unsere Demokratie gefährden.
Während die Lauten also einfach mal leiser werden müssen, müssen die vernünftige Stillen lauter werden. Es braucht dringend ein neues Gleichgewicht der Stimmen, wenn wir unsere Gesellschaft nicht in den Abgrund führen wollen.
<strong>Sineb El Masrar</strong> ist als langjährige Publizistin und Autorin für Print, Online, TV und Theater tätig. Sie schreibt eine monatliche Kolumne fürs Goethe-Institut und tritt als Moderatorin für verschiedene TV-Formate auf. Zu ihren langjährigen Themenfeldern gehören u.a. Feminismus, Migration, Islam, Radikalisierung, Medien und Antisemitismus in unserer postmigrantischen Gesellschaft. Als Medienpionierin und Verlegerin des multikulturellen Frauenmagazin <i><b>GAZELLE</b></i> (2006-2011) sowie als Autorin von Sachbüchern wie <i><b>MUSLIM GIRLS</b></i>, <i><b>EMANZIPATION IM ISLAM</b></i> und <i><b>MUSLIM MEN</b></i>hat sie immer wieder wichtige Impulse in die deutschsprachige Gesellschaft eingebracht. Sineb El Masrar hat mit neuen Perspektiven und Ideen maßgeblich die Debatten des vergangenen Jahrzehnts beeinflusst. Darüber hinaus ist sie eine der Hauptinitiatorinnen der Neuen Deutschen Medienmacher, langjährige CIVIS Jurorin und stellt u.a. in diversen Kulturinitiativen als Kuratorin ihr fundiertes Wissen zur Verfügung.
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Trifft ein Lauter einen Stillen in der Bar …
Wenn Mensch sich an zurückliegende Gesprächsrunden erinnert, an Debatten im TV oder den Schlagabtausch auf Social Media, geht man oft davon aus, dass sich nur die Extrovertierten dort tummeln. Das stimmt allerdings so, in der Einfachheit, nicht. Denn gerade in der Anonymität von Social Media lässt sich aus dem stillen Kämmerlein heraus auch als introvertierter Mensch schreibend kommentieren, diskutieren und auch herumpöbeln. Ein anderes Beispiel für das zwangsläufige Auftreten von Introvertierten in der Öffentlichkeit sind Teilnehmende an TV-Diskussionsrunden oder Schauspieler*innen, die für einen neuen Film die großen Promotion-Runden drehen und jedem Reporter Rede und Antwort stehen oder sich auf dem roten Teppich ablichten lassen müssen, obwohl sie vielleicht eher schüchterne Persönlichkeiten sind. Besonders stark fällt diese Diskrepanz auf, wenn es sich um Personen handelt, denen beim Familienessen sonst jedes Wort aus der Nase gezogen werden muss. Oder wenn man diese Menschen, die zu den Personen des öffentlichen Lebens gehören, im Backstagebereich als eher zurückhaltend erlebt. Dort erinnern sie nicht selten an schüchterne Verwandte oder andere introvertierte Menschen aus dem privaten Umfeld. Schüchternheit, die extrovertiert auftritt, gestaltet sich wiederum anders als das, was wir in unserem Alltag als schüchtern kennen.
Es war einmal: Genie und Blödsinn
Der Psychiater Carl Gustav Jung spricht von einem Introversions- und einem Extraversionstyp. Er betont, dass alle Menschen Introversion und Extraversion in sich tragen. Die Gewichtung dieser beiden Pole ist aber individuell unterschiedlich ausgeprägt. Ob die extrovertierte oder introvertierte Seite zum Tragen kommt, hängt von der Umwelt ab, z. B. von der Erziehung und den Erfahrungen, die in der Kindheit und Jugend gemacht wurden.
Oft wird in Bezug auf Introvertierte davon ausgegangen, dass sie zurückgezogen leben und scheu und einsam sind. Dabei gibt es durchaus introvertierte Menschen, die einen großen Freundeskreis pflegen und sehr gesellig sind. Das liegt auch daran, dass im Zuge der Vereinfachung von Erklärungen und Begriffen aus Introversion (die bei Jung vor allem eine Hochsensibilität beschreibt) die Introvertiertheit wurde.
Bei den Fachbegriffen Introversion und Extraversion geht es aber um weit mehr als um soziale Verhaltensweisen. Laut der US-amerikanischen Juristin und Autorin Susan Cain erleben Introvertierte allgemein eine stärkere und schnellere Stimulation als Extrovertierte. Das führt dazu, dass sie bei neuen Reizen schnell überstimuliert sind. Daher können sich Extrovertierte beispielsweise auch länger größeren Menschenansammlungen oder Partys aussetzen, während Introvertierte sich wegen der Überstimulation zeitig in ihre eigenen vier Wände zurückziehen müssen.
Extrovertierte beziehen laut Jung Energie aus dem Außen: von anderen Menschen und aus ihrem Umfeld. Introvertierte dagegen beziehen die Kraft aus ihrem Inneren und richten auch ihren Fokus nach innen.
Dies wirkt auf viele schüchtern, und Schüchternheit findet sich in unserer Gesellschaft unterschiedlichen Umfragen zufolge bei jeder fünften Person. Hat Mensch aber gleich eine Sozialphobie, wenn er sich lieber im Hintergrund als im Vordergrund bewegt? Es lässt sich wohl sagen, dass eher zurückgenommene Persönlichkeiten in ihrem Umgang mit jenen, die sich als wichtig und unentbehrlich inszenieren, ein Gefühl von Sozialphobie entwickeln können. Der Kraftaufwand, wenn man sich solchen Menschen gegenüber verteidigen muss oder sie kritisieren soll, kann sehr ermüdend sein. Darüber hinaus kann es passieren, dass die Art, in der zurückgenommene Menschen sich in die Dinge vertiefen und sich gleichzeitig zurückziehen, ihnen als Überempfindlichkeit oder Pedanterie ausgelegt wird. Und letzten Endes will Mensch sich auch nicht mit jedem anlegen, der eine mühsam entwickelte Idee, die Introvertierter gerade noch im Vertrauen jemandem zaghaft formuliert hat, im nächsten Moment dieser in einer Runde als seine eigene ausgibt – ohne dabei rot zu werden.
Derlei ist mir schon unzählige Male passiert. Ich werde nie vergessen, wie ich bei einer meiner ersten Dreharbeiten mit einem Regisseur zu tun hatte, der meine Ideen und Vorschläge entweder einfach stumpf ignorierte (was sich inhaltlich später als keine gute Idee von ihm herausstellte) oder meine Vorschläge in meiner Anwesenheit hemmungslos als die seinen verkaufte. Innerlich kam ich aus dem Stauen gar nicht heraus. Daheim beim Bügeln, vor Freunden und im Beisein meines Partners regte ich mich natürlich über dieses Verhalten auf. In der Situation selbst war ich dazu nicht in der Lage.
Auch von Gesprächspartnern bei Podiumsdiskussionen, Sitzungen, Konferenzen oder vor der Linse wurden von mir formulierte Gedanken und Eindrücke im nächsten Moment als die eigenen ausgegeben. Wenn das jemand von den Verantwortlichen mitbekam, wurde es gelegentlich beim Schnitt berücksichtigt, oder in Gesprächsrunden wurde mir Gelegenheit gegeben, je nach Kontext und Situation das Thema nochmals aufzugreifen. Einmal war sogar jemand so dreist, in der laufenden Sendung einfach stumpf meine Analyse ein paar Minuten später zu wiederholen, ohne auf mich zu verweisen. Ich ließ es mir natürlich nicht entgehen, freundlich, aber bestimmt darauf hinzuweisen, dass ich das eben ja bereits gesagt hatte. So viel Zeit muss dann schon sein, und Frau lernt dazu.
Aber so etwas gelingt nicht immer, und es braucht dazu auch eine gewisse Lebenserfahrung, die mir als junge Frau oft noch fehlte. Da war ich meist viele Stunden, manchmal auch Tage, mit entgeistertem Staunen beschäftigt. Oft habe ich dieses Verhalten bei (jungen und älteren) Männern erlebt. Aber auch bei Frauen kam es vor, und man kann auch nicht sagen, dass es sich immer um extrovertierte Persönlichkeiten gehandelt hätte.
Ich selbst bin eher introvertiert, kann aber, wenn es erforderlich ist, auch meine extrovertierten Anteile zum Einsatz bringen. Allerdings kostet mich das Energie. Wo es nicht sein muss, wird Mensch von mir auch nichts hören. So geht es vielen, die größere Introversionsanteile haben. Nicht selten kommt Mensch sich aber durchaus blöd und sonderbar dabei vor.
Heute wissen wir, dass Introvertierte große Leistungen vollbringen können. Der introvertierte Albert Einstein hat die Relativitätstheorie hervorgebracht. Der introvertierte Freddy Mercury schrieb und sang die legendären Hits seiner Band Queen und riss die Fans auf den Konzertbühnen mit sich. Und der introvertierte Fréderic Chopin komponierte unvergessliche Werke, die weltweit geliebt, gehört und gespielt werden. Introvertierte können einflussreiche Staaten regieren, zum Beispiel Angela Merkel oder Barack Obama. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, eine kleine Zeitreise in das Jahr 1907 zu machen und einen Blick in das Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe zu werfen. Dort wird »Blödheit« wie folgt beschrieben: »… ist die aus Urteilsschwäche und Mangel an Selbstvertrauen entsprungene Schüchternheit gegen andere.«1 Dabei waren beispielsweise Chopins Kompositionen schon viele Jahre vor Erscheinen des Wörterbuchs bekannt. Mensch kann nur mutmaßen, dass Chopins Fähigkeiten eher der Kategorie »Genie« zugeordnet wurden. Denn laut Wörterbuch ist das Gegenteil der »Blödheit« das »Genie«. Dazu heißt es: »… bedeutet eine gewöhnliche Begabung, welche nicht nur Originelles, sondern Musterhaftes hervorbringt. Denn Originalität ohne Musterhaftigkeit kann auch Narrheit sein! … Fehlt es ihm an Schulung, so verwildert es und zerfällt mit dem Leben und sich selbst (Günther Lenz).«2
Nun gut: Um Blödheit handelt es sich bei der Schüchternheit nicht. Wohl eher um einen Aspekt der Unsicherheit, seine eigenen Fähigkeiten wahrzunehmen, einzuschätzen und im richtigen Moment auch durchaus mit erhobenem Haupt zu präsentieren. Denn gerade die Fähigkeit, mit sich und seinen Gedanken allein sein zu können, Dinge geduldig auszuprobieren, herumzutüfteln, zu analysieren und sich mit Sorgfalt und Konzentration einer Sache hinzugeben, ist eine Leistung und Fähigkeit, die den Extrovertierten oft fehlt. Sie beziehen aus der Gelegenheit, mit Dingen und Gedanken allein zu sein, aufgrund ihres ausgeprägteren Extroversionanteils keine Energie. Sie brauchen Action. Und so springen sie nicht selten hyperaktiv über jeden Stock, den man ihnen hinhält, und suggerieren Aktivität, wo keine ist.
Diese scheinbare Aktivität kann in dem Bereich, wo es um Kommunikation geht, auch in einer Empörungskultur enden. Womit wir bei dem Schlamassel angekommen wären, den wir heute gefühlt stündlich als digitale Wesen im World Wide Web erleben.
Ganze Digitalunternehmen, die sich auf Social-Media-Plattformen spezialisiert haben, leben von einer Interaktion, die in Wirklichkeit keinen Austausch zum Erkenntnisgewinn zum Ziel hat, sondern reine Aktivität, manchmal Hyperaktivität. Im Sekundentakt posaunt in jeder digitalen Ecke jemand etwas heraus, seien es Personen aus dem Aktivismus, der Politik oder dem Medienbetrieb. Der Zweck: maximale Aufmerksamkeit. Bilder, Kommentare, Verlautbarungen in Form von Postings, die einzig und allein dazu dienen, wahrgenommen zu werden. Egal, ob im negativen oder positiven Sinne. Gemäß dem weit verbreiteten Motto, wonach auch schlechte PR gute PR sei. PR-Berater*innen wissen natürlich, dass das Mumpitz ist, aber das ist heute, wo es schon antiquiert und spießig wirkt, wenn man über Dinge erst einmal etwas vertiefender nachdenkt,...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Antisemitismus • Beleidigungen • Brasilien • Debattenkultur • Demokratie • Demonstrationen • Diskriminierung • Diskussionskultur • Drohungen • Empörung • Eskalation • Europa • Feminismus • Frieden • Gaza • Gewalt • Hass • Ignoranz • Irak • Iran • Isolation • Israel • Italien • Jammern • Konflikt • Kraft • Krieg • Libanon • Lösungen • Minderheiten • Plädoyer • Politik und Gesellschaft • Protest • Rassismus • Russland • Social Media • Stillen • Streit • Toleranz • Türkei • Ukraine • USA • Verantwortung • Vernunft • Widerstand • woke • Zeitenwende |
ISBN-10 | 3-7517-5963-8 / 3751759638 |
ISBN-13 | 978-3-7517-5963-2 / 9783751759632 |
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