Who cares? (eBook)
144 Seiten
Riva Verlag
978-3-7453-2375-7 (ISBN)
Steffen Lüder ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin und führt seit 2008 die nunmehr letzte Kinderarztpraxis in Berlin-Neu-Hohenschönhausen. Zudem leistet er ehrenamtlich Notdienst in der Kinderrettungsstelle einer Berliner Klinik.
Steffen Lüder ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin und führt seit 2008 die nunmehr letzte Kinderarztpraxis in Berlin-Neu-Hohenschönhausen. Zudem leistet er ehrenamtlich Notdienst in der Kinderrettungsstelle einer Berliner Klinik.
Sag mir, wo die Praxen sind, wo sind sie geblieben?
Montag, 28. November 2022, 7:45 Uhr. Noch eine Viertelstunde, bis meine Praxis öffnet. Meine zwei Medizinischen Fachangestellten und ich trinken einen Schluck Kaffee zum Start in den Tag. Währenddessen machen wir ein bisschen Small Talk und besprechen das eine oder andere Dienstliche. Sieben Stunden werden wir heute geöffnet haben, 23 Termine für Impfungen und Vorsorgen standen im Kalender, die restliche Zeit war für akute Fälle vorgesehen, die bei mir keinen Termin erbitten müssen, sondern einfach kommen und dann nach Dringlichkeit und Wartezeit abgearbeitet werden. Ein normaler Start in einen Tag, von dem wir noch nicht wussten, dass wir ihn nicht so schnell vergessen würden.
Schon seit Oktober rollte eine Infektwelle durch ganz Deutschland. Der Berliner Stadtbezirk Lichtenberg-Hohenschönhausen, wo sich meine Praxis befindet, bildete da keine Ausnahme. Jeden Tag kamen zu uns viele, viele Kinder mit Atemwegsinfekten, über alle Altersklassen hinweg. Die Isolation unter Corona hatte dazu geführt, dass sie ihr Immunsystem nicht mit den üblichen kleinen Infekten hatten trainieren können. Waren im Jahr 2021 noch deutlich weniger Fälle von Grippe und der Atemwegserkrankung RSV aufgetreten als üblich, traf nun vor allem das RS-Virus auf mehr oder weniger abwehrschwächere Kinder und Jugendliche.
Als wir an diesem Montag um 8 Uhr die Praxistür öffneten, füllte sich unser Warteraum rasend schnell. Bald war jeder Sitzplatz besetzt, zwischen den Stühlen und im Flur standen Eltern und Kinder, einige saßen auf dem Boden. Das Ende der Warteschlage reichte bis weit vor die Einlasstür.
Wir sind ein flottes Team. An der Anmeldung wird eine Kurzanamnese gemacht, also knapp abgefragt, welches das Hauptanliegen ist, und dieses im Rechner notiert. So weiß ich, bevor die Eltern mit dem Kind das Sprechzimmer betreten, worum es geht. Im Arztzimmer untersuche ich gezielt, spreche die Befunde laut in den Raum, die Zimmerschwester notiert alles, druckt nebenbei Rezept und Krankenschein auf meine Ansage hin aus. Kurze Beratung, Tschüss, der Nächste. Dieses Vorgehen hat mir schon einige Ein-Stern-Bewertungen bei Google eingebracht, von »ungeduldig« über »Fließbandarbeit« bis hin zu »Ist der überhaupt ein richtiger Arzt?«. Aber nur so schaffe ich es, dass die Menschen ab Einlesen der Chipkarte im Schnitt lediglich 20 Minuten bei mir im Wartezimmer sitzen, bis sie das Arztzimmer betreten dürfen.
Anders an diesem 28. November: Gegen 10 Uhr bemerkte ich meinen kalten Kaffee, nur ein Schluck fehlte. Wir arbeiteten und sahen kein Ende. Wir schlossen später zur Mittagspause und öffneten früher. Hielten die geplanten Vorsorgen so kurz wie möglich. Behandelten im Drei-Minuten-Takt, um überhaupt eine Chance zu haben, alle Wartenden wenigstens kurz zu sehen. Kein Elternteil beschwerte sich, da jeder der Virenhölle so schnell wie möglich entkommen wollte. Ist das Kind krank, sind die Eltern entweder auf Hochspannung – es sind im Behandlungszimmer schon Stühle geflogen – oder mangels Nachtruhe gänzlich ohne Energie. Wie die meisten, die an diesem Tag bei mir vorstellig wurden. Die Energie ging auch mir und meinen beiden Medizinischen Fachangestellten zunehmend aus. Das Telefon klingelte Sturm, am anderen Ende der immer gleiche Satz: »Mein Kind hat Fieber, Halsschmerzen, atmet so komisch und ist richtig krank …« Was sollten wir sagen außer: »Ja, kommen Sie vorbei, wenn es schlimm ist, aber hier ist es supervoll.«
Zwar war die Krankheitsgeschichte und deren Verlauf in Abstufungen immer gleich. Aber dies zu nutzen, um die Abläufe zu beschleunigen, wäre riskant gewesen. Denn genau dann läuft man Gefahr, in der Hektik etwas Gravierendes zu übersehen, nach dem Motto: Wenn die 15 Kinder zuvor diesen Befund hatten, wird es beim 16. schon auch so sein. Zwei Kinder hatte ich an diesem Tag bereits einweisen müssen, sie gingen in meine Ausbildungsklinik, da ist der Dienstweg sehr kurz. Die Berliner Kinderkliniken waren zu diesem Zeitpunkt randvoll, es gab kaum noch belegbare Betten. Wenn man ein Kind in eines der Krankenhäuser einweisen wollte, telefonierte man üblicherweise mit der Aufnahme. Dort bekam man die Antwort: »Wir haben aktuell kein freies Bett, aber schon zwei Notaufnahmen. Rufen Sie doch in zwei Stunden noch mal an.« Dieses Trauerspiel erlebte man dann mit der nächsten Klinik gleich wieder. Am Ende schickte man die Eltern mit Kind einfach in die Patientenaufnahme, sollte man sich doch dort weiter kümmern. So kam es, dass schließlich Kinder in andere Bundesländer verlegt wurden.
Langsam wurde es draußen dunkel, und irgendwann hatten wir es geschafft, das Wartezimmer war so leer wie unsere Köpfe: Bei einer Mutter hatte ich komplett vergessen zu fragen, ob sie eine Krankschreibung brauchte, dafür hatte ich mich bei einer anderen gleich zwei- oder dreimal danach erkundigt. Ich fühlte mich wie betrunken. Kein Wunder, denn zum späten Feierabend sagte der Rechner: 145 Patienten. Zu den geplanten 23 Terminen waren an diesem Montag im November 122 ungeplante Akutfälle gekommen. Ein Rekord. Aber keiner zum Feiern.
Dieser Tag mag nur ein Beispiel sein, ein kleiner Ausschnitt und eine individuelle Erfahrung, die andeutet, dass in den Kinderarztpraxen einiges im Argen liegt. Aber es ist ein Beispiel von vielen – und wenn sich Beispiel auf Beispiel auf Beispiel stapelt, dann handelt es sich irgendwann nicht mehr um eine persönliche Wahrnehmung, sondern um ein flächendeckendes Problem.
Betroffen von langen Wartezeiten und Versorgungsengpässen sind längst nicht mehr nur ländliche Regionen, wo die Versorgungsstrukturen weniger engmaschig sind als in den Städten.
Auch in großen Städten wird es zunehmend schwierig. In Hamburg ist beispielsweise die Versorgungslage so angespannt, dass »zahlreiche Familien inzwischen für ihr Kind keinen Kinderarzt mehr finden können«, wie Dr. Claudia Haupt, Vorsitzende des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, berichtet. Eine Kollegin berichtet von Beschimpfungen, Bitten und Betteln oder Weinen der Mütter, die sie mit ihren Kindern abweisen muss. Und davon, dass diese Reaktionen sie und ihre Medizinischen Fachangestellten stark belasten. »Die Bedarfsplanung macht eine flächendeckende Versorgung schwer bis unmöglich«, schimpft Peter Andreas Staub, Vorstandsmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz. Denn wo Kinderärzte genau arbeiten dürfen und wie viele es in einem Gebiet sein sollen, dafür gibt es eine Bedarfsplanungsrichtlinie.
Sie wurde 1993 eingeführt. Damals hatten wir eine Ärzteschwemme, das heißt, es gab mehr Bewerber als Stellen im medizinischen Bereich – obwohl es in den 90ern insgesamt weniger Ärzte gab als heute. Verrückt, oder?
Die Krankenkassen hatten damals Angst, dass es zu viele niedergelassene Ärzte geben würden, die zu viele Patienten behandeln. Sie fürchteten, dass die Ärzte zu viel Leistung erbringen und abrechnen würden. Ihre Klagen fanden beim damaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer Gehör: Er brachte die Bedarfsplanung auf den Weg.
Diese Richtlinie sollte dabei helfen, die medizinische Versorgung besser zu steuern. Sie sollte also dafür sorgen, dass es in Deutschland genügend Praxen gibt, um allen Menschen, allen Kindern, die krank werden, zu helfen. Wobei genügend bedeutet: weder zu wenige noch zu viele. Denn die Krankenkassen müssen ja die abgerechneten Leistungen jeder Praxis bezahlen – und da ihr finanzielles Budget begrenzt ist, sind sie natürlich darauf bedacht, möglichst nur so viel auszugeben wie unbedingt nötig. Wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass die Bedarfsplanung nicht der Planung und Sicherstellung der Versorgung dient, sondern dazu, die Ausgaben der Krankenkassen zu kontrollieren und zu begrenzen. Das erkläre ich weiter hinten im Buch noch einmal genauer.
Wie groß der Bedarf an ambulanten Fachärzten in einem bestimmten Gebiet ist, regelt der Gemeinsame Bundesausschuss. Dort überlegt man sich, wie viele Menschen auf einen Hausarzt kommen sollten, wie viele Frauen auf einen Gynäkologen und eben auch wie viele Kinder auf einen Kinder- und Jugendarzt. Daraus errechnet man dann den Bedarf. Pi mal Daumen. So unglaublich das klingt: Es gibt meines Wissens keinen belastbaren Schlüssel für die Berechnung.
Vielmehr ist es wie bei einer Geburtstagsparty: Da überlegt man sich auch, wie viele Männer kommen, wie viele Frauen, wer wie viel Bier, Wein oder Limo trinkt, und überschlägt dann grob, wie viel man einkaufen muss. Wer schon einmal eine Party geplant hat, der weiß: Solche Schätzungen sind in den seltensten Fällen zutreffend. Und meiner Erfahrung nach ist es mit der Bedarfsplanung ganz genauso.
Die Planer legen also eine Maßzahl fest, wie viele Kinder und Jugendliche ein Arzt mit einer 40-Stunden-Woche betreuen können müsste. Im April 2023 lag diese Maßzahl in Berlin zum Beispiel bei circa 2043 Kindern und Jugendlichen bis zu einem Alter von 18 Jahren. Dann fragen die Planer beim jeweiligen...
Erscheint lt. Verlag | 21.1.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ärztemangel • Betreuung • Fachärzte • Handlungsbedarf • Kindergesundheit • Kinderklinik • Kindermedizin • Krankenversorgung • Politik • Praxis • Probleme • Überlastung • versorgungsengpässe • Versorgungslücke • Warnruf • Wartezeit |
ISBN-10 | 3-7453-2375-0 / 3745323750 |
ISBN-13 | 978-3-7453-2375-7 / 9783745323757 |
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