'Sie stehen nicht auf der Liste' -  Amonte Schröder-Jürss

'Sie stehen nicht auf der Liste' (eBook)

Sätze, die ein Leben verändert haben
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31658-7 (ISBN)
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Sätze, die ein Leben für immer verändert haben.
Und die Geschichten dahinter

»Sie stehen nicht auf der Liste.«

Manchmal braucht es nur einen Satz - und das Leben nimmt eine Wendung. Das kann ein einfacher Satz sein, ein Alltagssatz. Einer, der politisch ist, Mut macht oder verletzt. Amonte Schröder-Jürss hat 24 Lebenssätze aus den Erinnerungen prominenter und nicht prominenter Menschen zusammengetragen. Die Geschichten, die sich dahinter verbergen, sind schön und traurig, machen hoffnungsvoll und wütend. Und: Sie alle sind einzigartig.

Die letzte WhatsApp-Nachricht einer Mutter, der Kriegsoffizier im sibirischen Winter, der Polizist, der den Reichstag verteidigte. Unvergessliche Sätze, über Jahre aufgezeichnet.

Amonte Schröder-Jürss ist Journalistin und Autorin. Sie studierte am Hildesheimer Literaturinstitut. Ihre Reportagen wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hansel-Mieth-Preis und dem Axel-Springer-Preis. Nach Stationen beim Süddeutsche Zeitung Magazin und der ZEIT, arbeitet sie seit 2023 beim stern. Schröder-Jürss lebt in Hamburg.

Ich habe mich gefragt, als ich von dieser Buchidee hörte, ob das oft vorkommt. Dass ein einziger Satz so einflussreich ist, wie es bei mir der Fall war: »Versuche, dein Leben zu machen«. Wie fängt man so etwas an? Wie habe ich angefangen? Ich meine, mit nichts.

Ich war auf dem Weg von der Nachtschicht nach Hause zu meiner Familie, meiner Mutti und meinem Bruder Ralph. Wir wollten fliehen. Nach Schlesien zu Verwandten. Eine letzte Möglichkeit. Zu der Zeit wohnten wir schon nicht mehr daheim, sondern in einer »Judenwohnung« in der Skalitzer Straße, Haus Nummer 32. Seit zwei Jahren musste ich bei den Deuta-Werken in Berlin zwangsarbeiten. In der Nachtschicht waren alles Juden. Es war der 20. Januar 1943. Ich hatte mit Mutti verabredet, dass ich mich nach der Nachtschicht krankmelden würde. Man sollte mich am nächsten Tag nicht in der Fabrik erwarten.

Die Deuta-Werke waren in einer Nebenstraße von der Skalitzer Straße, also konnte ich laufen. Den Brief mit meiner Krankmeldung hatte ich bereits bei der Fabrik in den Kasten geschmissen. Um diese Zeit, 12, vielleicht 13 Uhr, war es mittags eher ruhig. Ich war also auf dem Weg nach Hause. Und sah dann diesen Mann, der anders aussah als die Menschen, die die Skalitzer Straße sonst hochkamen. Er trug einen Mantel und einen Hut. Wenn der ins Haus geht, sei vorsichtig, dachte ich. Und als er hineinging, in die Hausnummer 32, da sagte ich mir: Was mache ich?

In dem Haus wohnten viele Leute, er hätte auch zu jemand anderem gehen können. Ich muss nach Hause, dachte ich, die Mutti erwartet mich, wir sind verabredet. Er ist ins Treppenhaus, genau wie ich, und ich immer eine halbe Etage unter ihm. Dann sah ich, dass er vor unserer Tür stehen blieb. Ich konnte mich nicht mehr umdrehen, ohne dass er es mitbekommen hätte. Es war ja nur eine halbe Etage zwischen uns. Ich bin also kühn an ihm vorbeigegangen und dann eine Etage höher, von der zweiten in die dritte, obwohl ich die Bewohner nur vom Sehen kannte. Man hat damals keinen Kontakt mit Nicht-Juden gehabt, das war ja alles verboten. Die Nachbarin wusste nicht, wer ich war, aber sie kannte Frau Meißner, die uns aufgenommen hatte. Die Familie hatte früher ein Geschäft in dieser Straße. Eine jüdische Frau, deren Mann und Sohn in diesen Transport nach Polen gezwungen worden waren. Eine Aktion, die noch vor der Kristallnacht stattfand, die Polenaktion. Nur Frau Meißner und ihre Tochter, die durften in Berlin bleiben. Sie hat nie mehr von ihnen gehört.

Ich klingelte bei der Nachbarin. Sie erzählte, dass es sehr laut gewesen war in dem Haus, nur ein paar Stunden vorher. AUFMACHEN, AUFMACHEN. Treppengepolter. Dann lief sie ans Fenster und sah, dass Frau Meißner, ein junger Mann, eine junge Frau und mein Bruder Ralph in den Polizeiwagen gestoßen wurden.

»Und meine Mutter?«, fragte ich.

»Deine Mutter war nicht dabei.«

Sie war, wie ich, nicht zu Hause gewesen, um sich von einer Cousine zu verabschieden, die ebenfalls fliehen wollte. Die Nachbarin erzählte, dass sie auf meine Mutter gewartet habe. Als diese nach Hause kam, habe sie ihr sofort alles berichtet. Meine Mutter hätte dann gesagt, dass es hier nicht sicher sei und sie zu Bekannten gehen würde. Zwei Häuser weiter in der Skalitzer Straße. Jüdische Leute, die Einzigen, die wir kannten.

Stundenlang saß ich dort oben. Es wurde Nachmittag, es war Januar, und es ist zeitig dunkel geworden. Als ich mich schließlich eine Etage tiefer, in den zweiten Stock, gewagt habe, hat der Mann da nicht mehr gewartet. Und ich sah, dass die Tür versiegelt worden war.

Unsere jüdischen Bekannten wohnten im Hochparterre. Von draußen sah ich ihre dunklen Schatten. Nicht aber den meiner Mutter. Nur Schatten. Die Freundin meiner Mutter machte die Tür auf. Wartete, bis ich drin war.

»Sie ist gegangen«, hat sie dann gesagt.

»Hat sie mir was hinterlassen?«, fragte ich. »Eine Nachricht?«

»Ich soll dir etwas ausrichten.«

Mutter hätte sie gebeten, sie solle mir sagen: »Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.«

Das war’s.

Ich weiß nicht mehr, wie ich mich gefühlt habe, als ich diese Nachricht bekommen habe: »Ich gehe mit Ralph. Versuche, dein Leben zu machen.« Habe ich geweint? War ich entsetzt? War ich böse? Ich weiß es nicht. Ich habe, glaube ich, mir gesagt: Ich will’s versuchen. Doch wie fängt man das an, wenn man dasteht, 21 ist, nichts hat? Ich hatte noch nie eine Entscheidung alleine getroffen. Ich hatte noch kein eigenes Leben, mein Leben war das Leben mit meiner Familie, mit meiner Mutter und meinem Bruder.

Im Korridor, an der Tür, gab sie mir Muttis Handtasche. Darin das Notizbuch und die Bernsteinkette meiner Mutter. Ein kleines Heftchen aus Karopapier. Die Adressen mit Füllfederhalter geschrieben, andere schnell hingekritzelt: Visastellen, Reisebüros, Konsulate. Kontakte, die mir helfen könnten. Die Kette bestand aus goldgelben Bernsteinen, manche waren auch dunkler, fast rötlich. Die Tasche, die ist verloren gegangen. Aber bei der Kette und dem Heft ist es mir gelungen, sie durch alles zu retten, durch das Lager und Amerika zu bringen. Bis heute.

Mein Bruder war anders als ich. Ruhig, nachdenklich, hochintelligent. Als Hitler an die Macht kam, war ich zwölf und er noch klein. Wir waren vier Jahre auseinander. Als er abgeholt wurde, war er 17. Er soll absolut brillant gewesen sein. Klassenbester. Er ging mit Hans Rosenthal, dem späteren Moderator der Fernsehsendung Dalli Dalli, in die Klasse. Auch ein Jude. Von dem weiß ich, dass Ralph anderen Schülern immer geholfen hat. Er hat sehr schön Geige gespielt. Und er war im Makkabi-Boxclub. Wie kann man boxen, wenn man die Hände zum Geigespielen braucht?, habe ich mich gefragt. Als er ein kleiner Junge, ein kleiner Steppke, drei oder vier war, hat mein Lieblingsonkel immer gesagt: »Da geht der Herr Verwalter.« Schritt für Schritt ist er mit den Händen auf dem Rücken dahingestolpert. Der Jüngste und doch der Älteste, in der ganzen Familie. Ich habe immer gesagt, in den Jahren danach, wenn wir gewusst hätten, wie wenig Zeit wir miteinander haben, hätte ich mich bemüht, ihn besser kennenzulernen. Doch er hatte seine Freunde, und ich hatte meine.

»Versuche, dein Leben zu machen«, wie fängt man das an?

Der Tag, an dem mein Bruder abgeholt wurde und meine Mutter ihm folgte, war auch der Tag, als ich den Judenstern abnahm und in den Untergrund ging. Ich lief los mit der Handtasche und nichts weiter, wusste nicht, wohin. Geendet bin ich am Moritzplatz, bei einem Bekannten aus dem ehemaligen Kulturbund, eine Vereinigung jüdischer Künstler. Am nächsten Morgen um sechs bin ich die Straßen entlanggegangen. Vorsichtig. Um acht Uhr öffneten die Geschäfte. Ich kam an einem Friseurladen vorbei, das Mädchen hat gerade aufgemacht, da habe ich mir die Haare tizianrot färben lassen. Juden haben keine roten Haare, dachte ich.

Zwei Nächte bin ich am Moritzplatz geblieben. Dann gab mein Bekannter mir einen Zettel. »Das ist die Adresse, merk sie dir und schmeiß den Zettel weg.« So begann mein Verstecken im Untergrund bei verschiedenen Personen für mehr als 15 Monate.

Als meine Mutter mir den Satz ausrichten ließ, war mein Vater nicht bei uns. Meine Eltern hatten sich ein Jahr vor Kriegsbeginn scheiden lassen. Eine erste Trennung war bereits 1935, aber sie haben es dann noch mal versucht. In der Kristallnacht hatten wir nichts von Papa gehört. Als er ein paar Tage später zurückkam, er hatte sich versteckt, erzählte er: »Mein Geschäft gehört mir nicht mehr, es wurde arisiert.« Zweieinhalb Monate später bekam mein Vater einen Pass, da er Geschäftsbeziehungen nach Dänemark, Schweden und Holland hatte. Man wollte diese Beziehungen erhalten, um die Devisen weiter zu bekommen, und der Vater sollte die neuen Inhaber einführen. Vater sagte uns auf Wiedersehen. Wir haben ihn aber nie mehr gesehen. Erst nach dem Krieg erfuhr ich, was geschehen ist. Er ist nach der Reise am nächsten Tag direkt nach Belgien, später nach Frankreich gegangen.

Er hat uns alleingelassen. Mutti hat ihm einmal eine Postkarte geschrieben. Es gab diese Idee, dass ich einen jungen Mann heiraten sollte. Ein Mann, der uns helfen wollte. Viele sind damals Pseudoehen eingegangen. Aber dafür brauchte ich Papas Genehmigung, da ich noch nicht volljährig war. Vater hat die Karte nie bekommen. Im Nachhinein ein Glücksfall, dass wir nicht geheiratet haben, denn mein Pseudoehemann war in einem der ersten Züge nach Riga. Und ich wäre mit, wenn ich seine Frau gewesen wäre.

Nur durch die Wiedergutmachung 1953 weiß ich, dass mein Vater in Frankreich verhaftet wurde und in drei Lagern gewesen ist. Einen weiteren Brief hat Mutti ihm geschrieben, als wir eine Chance hatten, nach Schanghai auszuwandern. Er antwortete mit einer einzigen Postkarte: »Was willst du mit zwei Kindern in Schanghai? Verhungern kannst du auch in Berlin.« Es wäre die letzte Chance für uns gewesen rauszugehen. Doch da mein Vater seine Zustimmung nicht gegeben hat, sind wir in Berlin geblieben. Es hätte uns retten können.

Wie ich zu meinem Vater stehe, wie meine Gefühle sind, jetzt, nach all den Jahren? Es ist schwierig für mich. Zu viele Jahrzehnte sind vergangen. Mein Vater ist auch in Auschwitz ermordet worden. Und meine Gedanken sind natürlich immer: Was hatte er sich dabei gedacht? Warum hat er uns zurückgelassen? In den frühen Jahren, als man noch hätte gehen können, als andere Verwandte ins Ausland gegangen sind, war mein Vater erstaunt, dass sie ein gutes Geschäft aufgaben. »Ich bleib, das ändert sich.« Er hat noch 1935 nicht daran geglaubt, dass es ernst ist. »Die...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Alltagsweisheit • Aus dem Leben • Blickwinkel • Buchgeschenk • Düzen Tekkal • eBooks • Familiengeschichte • Feminismus • Feuilleton • Geschenk Freundin • Geschichtensammlung • Gesundheit • Gleichberechtigung • Inspiration • Lebenssinn • Lebenssituationen meistern • Lebensweisheiten • Mensch • Natalie Amiri • Neuerscheinung • Protest • Reportage • Schicksal • Schicksalsbewältigung • Schicksalsschlag • Teilhabe • Unsichtbare Frauen • Zeitmagazin • Zuhören
ISBN-10 3-641-31658-8 / 3641316588
ISBN-13 978-3-641-31658-7 / 9783641316587
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