Versteckte Köder (eBook)

Die Macht der Belohnungsreize und wie wir uns davon befreien

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-28031-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Versteckte Köder -  Heike Melzer
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Likes, Shopping, Candy Crush - wo verstecken sich Belohnungsreize in unserem Alltag und wie abhängig sind wir?
Belohnungsreize sind allgegenwärtig. Soziale Netzwerke, Onlineshopping, Sexualität, Ernährung, Gaming: Geködert werden wir überall. Ungesteuerter Dauerkonsum und emotionale Enthemmung nehmen zu. Belohnungsaufschub, Fokussierungsfähigkeit, Frustrationstoleranz und Impulskontrolle werden zum Problem. Die Neurologin und Sexualtherapeutin Heike Melzer deckt auf, wo sich Belohnungsreize im Alltag verstecken, was sie bewirken und wie wir die Kontrolle zurückgewinnen. Fundiert und praxisnah gibt sie erhellende Einblicke in die Risiken und Chancen im Umgang damit. Ein notwendiges Buch, das hilft, den Alltag in Zeiten des Überflusses selbstbestimmt zu gestalten.

Heike Melzer ist Neurologin, ärztliche Psychotherapeutin und Business-Coach. Sie führt eine Praxis für Paar- und Sexualtherapie in München und auf Sylt. Sie ist gefragte Dozentin, Referentin und Interviewpartnerin. 2018 erschien ihr Buch Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution.

1  Vom Mangel zum Überfluss


Lebendes Fossil in digital beschleunigten Zeiten


Als Angehörige der Generation der Babyboomer war es für mich im letzten Jahrhundert noch möglich, mit dem technischen Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes Schritt zu halten, ohne von ihm überrollt zu werden. Im Vergleich zu meinen mit Smartphone und Flatrate aufgewachsenen Kindern der Geburtsjahre 2001 und 2009 komme ich mir heute beinahe schon wie das ausgestorbene Fossil einer technologisch längst überholten Vergangenheit vor, obwohl sie noch gar nicht so lange her ist. Mein im letzten Jahrhundert sozialisiertes Gehirn beherbergt eine Unsumme an längst ausgestorbenen Geräuschen, die für mich auch heute noch jederzeit abrufbar lebendige Erinnerungen und Gefühle generieren: das Piepsen, Fiepen und Rauschen der Tonabfolge meines 56k-Modem bei der Einwahl ins Internet, das kreischend laute Geräusch meines Neun-Nadel-Druckers, das wie eine Kreuzung aus Schreibmaschine und Kreissäge klang, das stoische Rattern der Wählscheibentelefone, das intermittierende Surren im Diskettenlaufwerk beim Speichervorgang auf einer 3,5-Floppy-Disk, das Hochfahren einer VHS-Kassette im Videorekorder, das metallische Klicken beim Auftreffen des Schreibkopfs auf das Farbband der elektrischen Schreibmaschine und das Spulgeräusch des Kassettenrekorders. Während meines Medizinstudiums in den 80er-Jahren musste ich noch die MS-DOS-Prüfung bestehen, um am raumausfüllenden Großrechner des Uniklinikums arbeiten zu dürfen. Für meine Doktorarbeit leistete ich mir 1989 meinen ersten PC mit Intel-386-Prozessor und 20-MB-Festplatte für »günstige« 2000 D-Mark. Damals löste bei mir der Satz »Sie haben Post« noch ähnlich starke Gefühle aus wie bei Meg Ryan und Tom Hanks in der Filmkomödie e-m@il für Dich, die 1998 Kinosäle füllte. Für das Herunterladen von wenigen Sekunden pornografischem Material brauchte es gefühlt Stunden, und meinen ersten Chat mit einem Unbekannten über das Internet empfand ich als ein psychologisches Experiment der Extraklasse, das sich mir unvergesslich eingebrannt hat.

All diese Erinnerungen sind mittlerweile gut dreißig Jahre her, gerade mal ein Zehntausendstel der Zeitspanne seit Beginn der Menschheitsgeschichte vor gut 300.000 Jahren. Für die heute digital beschleunigte Welt sind diese Erlebnisse uralte Kamellen, die es nicht mal mehr wert sind, dass man sie in die hinterste verstaubte Schublade eines Archives einmottet. Selbst um die Jahrtausendwende herum wäre es für die meisten von uns kaum vorstellbar gewesen, welchen Einfluss die immer schneller werdenden Innovationszyklen der global vernetzten Intelligenz von Milliarden von Menschen auf unser aller Leben haben würden.

Lassen Sie uns die Menschheitsgeschichte einmal auf die Zeit eines Jahres mit 365 Tagen verteilt anschauen, um ein besseres Gefühl für Zeitverläufe zu bekommen. Erst Ende August (vor 70.000 Jahren) kristallisiert sich der Homo sapiens aus der Steinzeit durch die Weiterentwicklung von Sprache heraus. In der Adventszeit am 13. Dezember (vor gut 10.000 Jahren) wird der Mensch sesshaft, und am Zweiten Weihnachtstag bilden sich erste Städte. Silvester ist der Tag, an dem um 10.37 Uhr die Dampfmaschine erfunden und um 15 Uhr die industrielle Revolution eingeleitet wird. Um 18.15 Uhr geht das erste Auto vom Band, in bester Feierlaune um 22 Uhr entsteht das Internet, und um 23.34 Uhr, kurz vor dem Bereitstellen der Sektgläser zum Anstoßen, ist die Geburtsstunde des ersten iPhones. Meine zuvor geschilderten Erlebnisse sind alle erst in den letzten paar Minuten vor Ende des Jahres passiert, und trotzdem fühlen sie sich an, als lägen sie eine Ewigkeit zurück.

Unser auf Mangel geprägtes Belohnungssystem


Sich ständig verkürzende Innovationszyklen und weltweit eingeschleuster Content treffen heute auf Individuen, deren Körper, Psyche und Sinne seit Jahrtausenden durch evolutionär bewährte Erfolgsrezepte programmiert worden sind. Von Generation zu Generation wurden vor allen Dingen die Erfolgsfaktoren weitergegeben, die beim Kampf ums Überleben, der Weitergabe der eigenen Gene und der erfolgreichen Aufzucht von lebenstauglichen und widerstandsfähigen Nachkommen nützlich waren. Das Ergebnis der klugen Entscheidungen unserer Vorfahren spiegelt sich in unser aller Leben wider, denn ohne sie gäbe es uns nicht. Die altbewährte Rezeptur unseres Belohnungssystems reagiert auf Veränderungen ähnlich stoisch und langsam wie ein am Baum hängendes träges Faultier. Gespeist wurde es aus Jahrtausenden des Mangels und nicht des Überflusses. Als Bild stellen Sie sich bitte einmal eine Wüstenlandschaft vor, deren Flora und Fauna darauf ausgerichtet sind, mit geringsten Wassermengen zu überleben. Interessanterweise sterben in der Wüste mehr Menschen durch Ertrinken als durch Verdursten. Dies liegt daran, dass der verkrustete und ausgetrocknete Boden der Wüste die Wassermengen sintflutartiger Regenfälle nicht aufnehmen kann. Im Nu verwandeln sich einst ausgetrocknete Flussläufe zu reißenden Gewässern. Menschen rechnen mit Durst und Hunger in der Wüste und haben ausreichend Reserven und Navigationsgeräte parat, um sich zu versorgen und nicht zu verirren. Auf plötzlich anflutende Sturzgewässer, die sie mitreißen und ertrinken lassen, sind sie nicht gut vorbereitet. Die archaische Programmierung unseres Körpers und Geistes gleicht dabei einer auf Mangel spezialisierten Wüstenlandschaft. Überflutet werden wir heute zunehmend von immer stärker werdenden Belohnungsreizen und Informationen, die unsere Stoffwechselvorgänge im Gehirn und Körper ans Limit bringen. Nicht der Mangel macht uns heute zu schaffen, sondern der Überfluss und die damit verbundenen Entscheidungen, was wichtig und was unwichtig, was wahr und was falsch und was gesund oder ungesund ist.

Schauen wir uns die Mangelerfahrung unserer Vorfahren einmal näher an. Dazu brauchen wir unseren eigenen Stammbaum nicht sehr weit zurückzuverfolgen. Die kritischen Erfolgsfaktoren zum Überleben waren seit Beginn der Menschheitsgeschichte Sexualität, Nahrung und Schutz gewährende soziale Strukturen einer Gemeinschaft oder Familie. Auch wenn es im antiken Rom bereits ausschweifende Orgien mit berauschendem Wein und Völlerei im Übermaß gegeben haben soll, so waren sie einer extrem kleinen Oberschicht vorbehalten und würden den modernen Menschen mit völlig anderen Ess- und Komfortgewohnheiten kaum noch aus der Reserve locken. Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein war es üblich, in Zeiten von Fülle Vorräte für planbare oder absehbare Mangelzeiten anzulegen, sei es durch gut gefüllte Speisekammern, durch Fettreserven am eigenen Körper oder durch die gegenseitige Unterstützung in der Gemeinschaft. Ein paar Kilo zu viel waren damals Zeichen für Wohlstand, Status und Gesundheit. Sie steigerten die Überlebenschancen in Zeiten von Hunger und Knappheit. Im Bereich der Fortpflanzung hüteten Frauen als Gatekeeper für Sexualität ihre Eizellen mit äußerster Vorsicht, denn Schwangerschaft und Geburt gingen mit immenser Gefahr für Leib und Leben einher. Zudem kostete die Aufzucht von Kindern über Jahre hinweg wertvolle Ressourcen, die nur sehr begrenzt zur Verfügung standen. Männer hingegen versuchten evolutionär ihr Sperma breitflächig zu verteilen. Ihre Kernkompetenz war es dabei, Frauen aufmerksam nach Zeichen sexueller Paarungsbereitschaft zu screenen. Derjenige, der schnell den Fuß in die Tür bekam, nahm an der evolutionären Lotterie der Gene teil. Dabei kamen auch die raffiniertesten Exemplare männlicher Verführungskunst auf kaum mehr Partnerkontakte, als man an zwei Händen abzählen konnte. Sollten Sie die Gelegenheit haben, Ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern in einer ruhigen Minute hierzu zu befragen, werden Sie vermutlich überrascht sein, wie niedrig die Anzahl an Partnern war. Pornografisches Material war schwer zugänglich und durch die zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten ihrer Zeit begrenzt. Aufgrund von hohen finanziellen und persönlichen Abhängigkeiten und strikten...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abhängigkeit • Achtsamkeit • ADHS • Bin ich abhänigig? • Bin ich normal? • Bin ich süchtig? • Dopamin • Gaming • Ich fühle mich überreizt • Ist mein Sohn spielsüchtig? • Kann das Smartphone abhängig machen? • Online-Shopping • Philippa Perry, Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen • Pornographie • Psychotherapie • Scharfstellung • Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder • Smartphonesucht • Spielsucht • Stefanie Stahl • Supernormative Stimuli • Verhaltensstörung • Verhaltenssucht • Zwangsstörung
ISBN-10 3-446-28031-6 / 3446280316
ISBN-13 978-3-446-28031-1 / 9783446280311
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