Viel Lärm um Achtsamkeit (eBook)

Oder warum es so schwer ist, in unserer Gesellschaft ein gutes Leben zu führen. Mit einem Vorwort von Hartmut Rosa

(Autor)

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2024
224 Seiten
Kösel-Verlag
978-3-641-30688-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Viel Lärm um Achtsamkeit - Jacob Schmidt
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»Die Sache mit dem gelingenden Leben: Sie bleibt kompliziert.«
Achtsamkeit ist längst im Mainstream angekommen, in den Teeregalen im Supermarkt und in den Personalabteilungen der Konzerne. Millionen Deutsche meditieren regelmäßig. Das Versprechen ist verlockend: Stille und Frieden finden in unserer hektischen, schnelllebigen Zeit. Ein In-sich-Ruhen, das neue Kraft schenkt und nebenbei mitfühlender macht, konzentrierter, belastbarer.

Der Soziologe Jacob Schmidt hat den anhaltenden Trend untersucht und findet: Achtsamkeit verspricht viel mehr, als sie zu bieten hat. Sein Buch ist eine überfällige Auseinandersetzung mit diesem schillernden Begriff, hinter dem sich häufig wenig mehr als kapitalismusfreundliche Selbstoptimierung versteckt. Zugleich fordert Schmidts Analyse heraus, die gesellschaftlichen Gründe für die große Sehnsucht nach Ruhe und einem anderen Zusammenleben ernst zu nehmen - und für eine bessere Welt zu streiten, statt sich aufs Kissen zu setzen.

»Jacob Schmidt ist mit dieser Studie eine beeindruckende Analyse, ja ein großer Wurf gelungen.« Hartmut Rosa

Dr. Jacob Schmidt, geb. 1988, studierte Psychologie und Gesellschaftstheorie in Jena und promovierte zum Thema »Achtsamkeit als kulturelle Praxis«. Die meditative Welthaltung fasziniert ihn schon seit seiner Jugend, doch erst eine einigermaßen zufällige intensive Auseinandersetzung mit der Achtsamkeitsmeditation rückte sie in den Fokus seines wissenschaftlichen Interesses. Seitdem pendelt er zwischen der Faszination für diese besondere Welthaltung und der Überzeugung, dass es ihr, wie unserer Zeit, an einer politischen Haltung mangelt. Jacob Schmidt arbeitet als Referent für strategische Kommunikation in der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Brandenburger Landtag. Er lebt seit kurzem in Würzburg.

Einleitung: Aus der Zeit fallen

Es war nicht schwer, ihn zu erkennen: gelbbraunes Gewand, kahler Kopf, asketischer Körperbau. Ich stand, etwas nervös, am Terminal des Ben-Gurion-Airports in Israel, mitten in der Nacht. Es muss gegen drei Uhr gewesen sein.

Ich begrüßte ihn betont ruhig. Ziemlich unbeeindruckt hastete er zum Taxi. Wahrscheinlich war er müde vom langen Flug aus Nepal, dachte ich mir, während ich ihm hinterherhetzte. Der Taxifahrer schaute eine ganze Weile verdutzt in seinen Rückspiegel, bevor er anmerkte, es sei schon etwas ungewohnt für ihn, einen buddhistischen Mönch (das sei er doch, oder?) herumzufahren.

In der Unterkunft angekommen, fragte mich der Mönch als Erstes nach dem WLAN-Passwort. Er wolle noch ein paar E-Mails checken. Etwas überrascht kramte ich es hervor.

Nach ein paar Stunden Schlaf machte ich Frühstück und bot es ihm an. Nehmen, so war ich zuvor angewiesen worden, dürfe er von sich aus nichts. Er nahm dankend an. Nach einer zweiten kurzen Bettruhe kochte ich etwas zu Mittag. Bei Nudeln in Zucchini-Champignon-Soße mit Salat und anschließendem Muffin echauffierte er sich über die Baupolitik seiner Heimatstadt. Um kurz vor zwölf Uhr waren wir rechtzeitig fertig. Rechtzeitig, denn nach Mittag durfte er nichts mehr essen. Klösterliche Regeln und so.

Wir verließen Tel Aviv und fuhren gen Norden. Nach den sechs Wochen, die ich dort gewohnt hatte, freute ich mich riesig auf eine Pause von dieser tosenden Stadt. Und auf eine Pause für meinen Körper. Denn eigentlich war ich damals nach Israel gekommen, um Aikido, diese japanische Kampfkunst, zu üben. Aber das ist eine andere Geschichte ...

Nun saß ich jedenfalls am Steuer, neben mir ein schlafender Mönch, und ich merkte, dass ich mir eine gewisse Enttäuschung nicht verhehlen konnte. Ich hatte ihn mir doch ein wenig anders, der Welt entrückter, vorgestellt. Weniger WLAN, mehr Lässigkeit sozusagen. Aber als er plötzlich im Nullkommanichts seinen Schlaf für beendet erklärte, wie ein kleines Kind, mit einem strahlenden: »Oh, that feels so much better!«, dachte ich: »Einen Versuch ist es allemal wert.«

Wir erreichten unser Ziel, ein Kibbuz nahe den Golanhöhen. Fortan war ich nicht mehr Koch und Fahrer, sondern sein Schüler. Schüler der vipassana-Meditation, die heute häufig, wie so vieles andere auch, als Achtsamkeitsmeditation bezeichnet wird.

Von 5 Uhr morgens bis 21 Uhr abends meditierte ich mit gut einem Dutzend anderer Aspirant:innen, abwechselnd eine Stunde sitzend und eine Stunde gehend. Unterbrochen wurde der monotone Ablauf dieses Retreats, wie solche intensiven Meditationskurse genannt werden, lediglich von

  • einem Frühstück um 6 Uhr (Brei mit Obst),
  • einer Mahlzeit um 11 Uhr (meist Gemüse mit Tahina),
  • einem Kräutertee um 17 Uhr
  • und einem Vortrag des Mönchs um 19 Uhr.

Über den ganzen Tag hinweg schwiegen wir, vermieden jeden Augenkontakt, lasen keinen Satz – und führten jede Bewegung langsam, unendlich langsam aus. Die Pi mal Daumen 15 Meter vom Sitzkissen zum Klo? Etwa 5 Minuten – für einen Weg. Aber, was gab es schon groß anderes zu tun?

Jeden Atemzug, jeden Schritt, jede Bewegung sollten wir so fein und so präzise wie möglich beobachten. Und das versuchte ich. Natürlich auch, um etwas Fundierte(re)s in dem zehnminütigen Einzelgespräch erzählen zu können, das täglich mit dem Mönch stattfand.

Mein Termin war kurz nach neun Uhr. Ich schlich aus dem Haus, wartete, bis ich dran war, und setzte mich auf einen Plastikstuhl im Schatten eines Baumes zu ihm. Nach einem kurzen und engagierten Small Talk ging es zur Sache, er fragte mich regelrecht ab. »Welche Empfindungen nimmst du wahr, wenn du den Fuß abhebst?« Oder: »Nenne mir fünf Merkmale, die du beim Einatmen an der Bauchoberfläche spürst.« Oder, wenn ich, wie jeden Tag, auf meine schmerzenden Knie zu sprechen (lamentieren?) kam: »Aha, wie hat sich der Schmerz verändert, als du begonnen hast, ihn zu beobachten?«

Meine Beschreibungen der stundenlangen Körperbeobachtungen waren wohl meist nicht präzise genug – mit den fast gleichen Anweisungen wie am Vortag, einer kurzen Aufmunterung und einem gerufenen »Next, please!« entließ er mich wieder in die nächsten einsamen 24 Stunden.

Größtenteils war es eine Qual, anders kann ich es nicht sagen: Schmerzen beim Sitzen, Langeweile angesichts der immer gleichen Atmung, Kampf mit den nicht enden wollenden Gedankenströmen. Die Aufmerksamkeit wollte einfach nicht beim Atmen, beim Gehen, bei den Knieschmerzen verweilen!

Doch irgendwann kamen sie: Momente mir bislang unbekannter Ruhe, Leichtigkeit und Wachheit. Momente der Brillanz, in denen ich meinen Körper, die Blätter und Blüten so lebendig und farbenfroh erlebte, als ob 50 Jahre Fernsehgeschichte plötzlich übersprungen und ein Röhren- durch einen 4K-Fernseher ersetzt worden wäre. Ganz schön flashig.

Als ich dem Mönch davon am nächsten Morgen berichtete, schaute er mich unbeeindruckt an. Ich hatte wohl etwas zu begeistert erzählt. »Okay«, sagt er, »bitte beobachte diesen Zustand ganz genau und identifiziere dich bloß nicht mit ihm.« Das letzte Ziel, nibbana (Pali, wohl bekannter im Sanskrit: nirwana), sei so viel mehr und dürfe nicht angesichts solcher netter, aber letztlich mickriger Episoden aus dem Blick verloren werden.

Das war es dann auch mit den Anflügen von Ekstase. Die restlichen vier Tage träumte ich zumeist vom 14., dem letzten Tag im Retreat.

Zurück in Tel Aviv. Das Schleichen prallte auf das hektische Leben und unerlässliche Gewusel der Großstadt (dieser Gemüsemarkt!), die Stille und Ruhe auf die permanente Kommunikation (in Tel Aviv hatten schon damals so gut wie alle ein Smartphone vorm Gesicht), die Disziplin, sich in seinen Sinneslüsten zu zügeln, auf den an jeder Ecke kultivierten sinnlichen Genuss (dieser Hummus!), die frei zur Schau gestellten Zärtlichkeiten, das Flanieren am Strand.

Zwischen beiden Welten lagen gerade mal 150 Kilometer Luftlinie.

Hatte ich vor meiner Rückkehr noch einen Kulturschock befürchtet, so fühlte ich mich nach dem Retreat in dieser lauten, hastigen, lebendigen Betriebsamkeit seltsam wohl. Das Leben im Großstadtgetümmel war für mich plötzlich viel leichter zu ertragen als zuvor. Mein Geist schien all die Reize schneller und entspannter verarbeiten zu können, so als ob in einem Rechner ein neuer Prozessor eingebaut worden wäre – und gleich noch ein Grafikchip der neuesten Generation. Ich nahm das Getümmel klarer wahr – und doch trafen mich die Tausenden Reize nicht mehr bis ins Mark.

Es hatte sich ein großer, angenehmer Puffer zwischen mich und die Stadt geschoben.

Der ausbleibende Schock faszinierte mich mindestens genauso wie die verrückte Gleichzeitigkeit zweier so radikal ungleicher Welten – die der modernen Großstadt einerseits und die der asketischen und zurückgezogenen Meditation andererseits. Beides ließ mich nicht mehr los, zumal ich bald bemerkte, dass Meditation, und just diese südostasiatische vipassana- oder Achtsamkeitsmeditation, regelrecht einen Boom im Westen ausgelöst hatte.

Es ist ja immer eine zweischneidige Sache, von einem »Boom« zu sprechen. Hegt man erst einmal den Verdacht, einem wirklich spannenden Phänomen auf der Spur zu sein, sieht man plötzlich an jeder Ecke Beweise für seine These. Und so ging es auch mir mit der Achtsamkeit und ihren Verwandten, als ich von meinem Abenteuer in Israel wieder zurück zu Hause war. Sie begegneten mir plötzlich überall: die Buddhafigur beim Friseur, die Zeitschrift moment by moment im Buchladen, ein Flyer zur achtsamen Stressreduktion im Café, Zitate und Referenzen im Kino (zum Beispiel im 2014 oscarprämierten Film Birdman), die Achtsamkeit-App Headspace bei einer Apple-Keynote auf großer Bühne – und nicht zuletzt an der Uni, wo Achtsamkeit immer stärker beforscht und angeboten wurde.

Aber es gibt glücklicherweise einen Ausweg aus dieser Subjektivitätsfalle. Entweder Sie machen zur empirischen Erhebung bei Gelegenheit einen kurzen Spaziergang in einem hippen Viertel einer Großstadt, etwa im Prenzlauer Berg, und überzeugen sich selbst davon, dass Achtsamkeit en vogue ist. Oder ernster gesprochen, Sie schauen sich die Grafik auf der nächsten Seite an. In überregionalen Tages- und Wochenzeitungen taucht der Begriff Achtsamkeit seit den 90er-Jahren immer häufiger auf. Und auch die Anzahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen steigt seit der Jahrtausendwende rasant. Das Time Magazine sprach bereits 2014 von einer »mindful revolution«, andere davon, dass Achtsamkeit »mainstream« geworden sei.1 Um eine Praxis, die die Stille propagiert, ist es seltsam laut geworden.2

In einem Kibbuz irgendwo im Norden Israels wurde ich offenbar von einem in Nepal lebenden deutschsprachigen Mönch auf einen echten Hype gestoßen. Für mich war das Anlass genug, zunächst eine Abschlussarbeit und schließlich noch eine Doktorarbeit in der Soziologie zum Thema zu schreiben.3 Hat Meditation mein Leben verändert? So gesehen: Aber hallo!

Was aber reizte mich so an dieser Achtsamkeit? Warum habe ich mich so lange mit ihr wissenschaftlich auseinandergesetzt? Und warum schreibe ich jetzt schon wieder über sie?

Es ist das Versprechen der Achtsamkeit: Es gibt einen Ausweg aus einem unerfüllten Leben! Das Glück...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Achtsamkeit • achtsamkeit buch • Achtsamkeit Egoismus • Achtsamkeit Kritik • achtsamkeit negativ • Achtsamkeitsmeditation • achtsamkeit spiegel • Buddha • Buddhismus • Debattenbuch • eBooks • Esoterik • Gesundheit • jakob schmidt • laura malina seiler • MBSR • Meditation • Neuerscheinung • Ratgeber • Soziologie • Stress • Weltflucht • Yoga
ISBN-10 3-641-30688-4 / 3641306884
ISBN-13 978-3-641-30688-5 / 9783641306885
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