Life Rebel (eBook)
208 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60700-1 (ISBN)
Yvonne Eisenring, Jahrgang 1987, ist eine Schweizer Bestsellerautorin, Dramatikerin und Moderatorin. Ihre Bücher, Essays und Dokumentationen wurden mehrfach ausgezeichnet, ihre Theaterstücke werden international aufgeführt. 2023 erschien ihr neuester Roman »Nino«. Sie ist Host verschiedener Podcasts und TV-Sendungen und lebt in Zürich und New York
Yvonne Eisenring, Jahrgang 1987, arbeitet als Autorin und Kolumnistin bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen, unter anderem schreibt sie für Das Magazin, SZ Magazin, NEON und die SonntagsZeitung. Zusammen mit ihrer Schwester produziert sie Dokumentarfilme fürs Schweizer Fernsehen. Im Oktober 2016 ist ihr erstes Buch Ein Jahr für die Liebe (Orell Füssli) erschienen. Yvonne Eisenring lebt in Zürich, New York und Berlin.
Berlin
Wer ankommen will, muss abwarten
Ich war mittlerweile in Zürich mit meiner Schwester in eine gemeinsame Wohnung gezogen und musste nicht mehr bei ihr auf der Couch schlafen. Meinen Liebeskummer hatte ich ebenfalls überwunden. Ich hätte folglich problemlos in der Schweiz bleiben können. Aber ich hatte Blut geleckt. So hart Paris am Anfang war, so spannend und schön war es danach. Ich hatte das Gefühl, mein Leben war dank dieser Erfahrung um ein Vielfaches reicher, meine Welt um mehrere Dimensionen größer geworden. Ich wollte das nochmals erleben. Ich wollte noch einmal an einem Ort neu beginnen und kaufte ein Zugticket nach Berlin. Zufrieden rollte ich meinen Koffer durch den Zürcher Hauptbahnhof. Satte 11 Stunden und 39 Minuten dauert die Fahrt mit dem Nachtzug nach Berlin. Gewöhnlich fahre ich tagsüber, wenn ich in Europa irgendwohin muss, nicht zuletzt, weil ich auf Zugfahrten so effizient wie sonst nirgendwo bin. Aber in diesem Fall erschien es mir sinnvoller, über Nacht zu reisen. Immerhin wollte ich mehrere Monate in Berlin bleiben, hatte eine entsprechend große Tasche dabei und wollte frisch und erholt ankommen. Ich war auch überzeugt, dass ich gut schlafen würde, weil ich glaubte, mich daran zu erinnern, dass wir während meiner Schulzeit mit dem Nachtzug nach Prag und Rom gefahren sind und ich wegen des Schaukelns schlief wie ein Stein. Nun, meine Erinnerung war kein guter Ratgeber. Ich las auf der Fahrt ein halbes Buch, schaute einen Dokumentarfilm und lauschte, wie meine Abteil-Nachbarin leise schnarchte. Geschlafen habe ich so gut wie nicht. Als ich in Berlin ankam, fühlte ich mich wie ein Zombie, was irgendwie gut zu dieser Stadt passte. Berlin lebt in der Nacht und erinnert an eine heruntergekommene Bar: Es ist düster und rauchig, teilweise sogar versifft. Aber man kann dort unvergessliche Stunden verbringen.
Berlin hat keine Eleganz und keinen Charme wie Paris. Berlin ist wie der Typ der Klasse, vor dem sich alle ein bisschen fürchten. Niemand weiß genau, wo und wie er wohnt und ob er überhaupt ein richtiges Zuhause hat, er ist der »Bad Boy« der Schule – aber er hat immer das begehrteste Mädchen als Freundin. Ich war schon seit Teenagerjahren fasziniert von der Stadt. Ich war auch schon oft dort, aber immer nur sehr kurz. Das erste Mal, ich war knapp achtzehn, kam ich mit meiner Schwester, einmal war ich mit meiner besten Freundin dort, einmal mit meinem besten Freund. Wirklich orientieren konnte ich mich nie in Berlin und die Distanzen unterschätzte ich regelmäßig. Allein im Stadtteil Mitte wohnen mit 400 000 Leuten fast so viele Menschen wie in Zürich.
Weil mich die Hauptmieterin einer großen Altbauwohnung am Maybachufer, wo ich die nächsten Wochen verbringen sollte, am frühen Morgen noch nicht reinlassen konnte, musste ich nach meiner Ankunft Zeit totschlagen. Ich fuhr zum Reuterkiez und setzte mich in eine Bäckerei, die Franzbrötchen mit Marzipan verkaufte. Ich aß zwei Stück, also etwa ein Pfund klebrig-süßen Teig, und las die Kontaktanzeigen eines alten ZEITMagazins, was ich jedes Mal als einen Einblick in die Vergangenheit empfinde.
Am Mittag empfing mich meine Berliner Mitbewohnerin und führte mich durch die Wohnung. Mein Zimmer hatte Stuck an den Wänden und einen eigenen Balkon, die Möbel der Wohnung hatte sie selbst angefertigt, und jedes Stück hatte eine eigene Regel: »Hier kein Wasserglas abstellen! Dort nicht hinsetzen! Wenn du das benutzen willst, dann nur mit Unterlage!« Die Wohnung war ein regelrechter Hindernisparcours, sie gefiel mir aber sehr, auch wenn ich immer Angst hatte, etwas kaputt zu machen. Ich entschied, mein neues Quartier zu erkunden, und spazierte am Maybachufer entlang, durch den Bergmannkiez und bis zum Tempelhofer Feld. Ich staunte über eine Pizza, die mit Pommes belegt war – wer kommt auf die verrückte Idee, so etwas zu kreieren, und wer kommt auf die noch verrücktere Idee, so etwas zu essen? –, und kaufte im Sahara Imbiss ein Falafel Sandwich mit zu viel Erdnusssoße. Kurz vor zehn sank ich todmüde ins Bett. Am nächsten Morgen wurde ich von meiner zweiten Mitbewohnerin geweckt, einer jungen Frau aus Florida, die auf Weltreise war und für drei Wochen in Berlin haltmachte. Sie stand in der Küche und fluchte laut über die Kaffeemaschine, einen italienischen Bialetti-Espressokocher, den sie nicht richtig zugeschraubt hatte und der seinen Inhalt deshalb in alle Richtungen verteilte. Wir unterhielten uns kurz, mehrheitlich über die Vor- und Nachteile verschiedener Kaffeemaschinen, dann verschwand sie mit ihrer Tasse in ihrem Zimmer.
Der Grund, warum ich dieses Mal eine WG und keine eigene Wohnung wählte, war, dass ich hoffte, es wäre so einfacher, einen lokalen Freundeskreis zu finden. Nun war jedoch die Berlinerin fast ununterbrochen mit ihren Möbeln auf Messen und Ausstellungen, und meine Mitbewohnerin aus den USA verbrachte die meiste Zeit in ihrem Zimmer, wo ich sie über verschiedene Youtube-Videos lachen hörte. Abends kam sie frisch gestylt heraus, kochte sich einen starken Kaffee und ging in den KitKatClub. Abgesehen von einigen kurzen Gesprächen am Küchentisch verbrachten wir kaum Zeit miteinander.
Es lief nicht, wie ich es mir erhofft hatte. Die ersten Wochen in Berlin waren hart und harzig. Als Touristin hatte ich deutlich mehr Spaß in der Stadt. Aber dann war die Absicht eine andere. Ich hatte keinen Alltag und keine Arbeit, ich war zu Besuch dort, »just for fun«. Ich kam auch nie alleine, sondern in Begleitung. Nun wollte ich aber in Berlin leben und mich entsprechend benehmen. Statt Sightseeing machte ich mich auf die Suche nach einem Café mit gutem Wifi. Statt auf Shoppingtour zu gehen, klapperte ich die Läden nach einem günstigen Fahrrad ab. Aber auch wenn ich ziemlich rasch alles hatte, was ich für meinen Alltag brauchte, fehlte mir doch etwas Wesentliches: ein soziales Umfeld. Mein einziger Kontakt war ein Fotograf, den ich von verschiedenen Reportagen kannte. Wir verstanden uns gut und ich mochte ihn auch sehr, aber er war gerade in einer neuen Beziehung, ich konnte also nicht allzu viel seiner Zeit beanspruchen.
Mein Alltag die ersten Wochen in Berlin war relativ monoton. Morgens joggte ich am Maybachufer entlang, und wenn ich besonders motiviert war, zusätzlich eine Runde auf dem Tempelhofer Feld. Mittags beantwortete ich im Café Tischendorf meine E-Mails und verfasste Texte für eine Schweizer Werbeagentur. Nachmittags wechselte ich auf die andere Straßenseite ins Café Katulki, schaufelte Streuselkuchen in mich hinein, schrieb weiter irgendwelche Texte, und abends machte ich meist … nichts. Einmal setzte ich mich allein in die beliebteste »Erstes-Date-Bar« in Neukölln, ins Nathanael und Heinrich, und beobachtete Paare, die noch keine waren. Ein anderes Mal aß ich am Tresen des Restaurants Beuster einen Burger. Meist aber holte ich irgendwo Sushi oder ein Falafel-Sandwich mit zu viel Erdnusssoße und setzte mich vorsichtig an den Holztisch im Wohnzimmer, den ich nur benutzen durfte, wenn ich ihn mit Tischunterlagen bedeckte.
In Paris ist es mir nicht besser ergangen, aber dort hatte ich zu Beginn solch üblen Liebeskummer, ich fand es nur logisch, dass die ersten Wochen eher trist waren. Dass ich in Berlin eine ähnliche Erfahrung machte, überraschte mich. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass man diesen Prozess nicht beschleunigen kann. Egal, wie sehr man sich anstrengt, egal wie viele Leute man anschreibt, die ersten Wochen fühlen sich immer an wie eine Mutprobe. Traut man sich zu bleiben? Hält man durch? Es ist, als würde die Stadt testen wollen, ob man es wirklich ernst meint. Wer durchhält, wird belohnt. Denn nach etwa drei Wochen wurde mein Alltag jedes Mal auf beinahe magische Weise besser. Plötzlich war ich öfter verabredet und traf überall neue Leute. Man hat die Probezeit bestanden, nun kann das »richtige« Leben beginnen.
Natürlich wäre meine Enttäuschung in Berlin kleiner gewesen, hätte ich andere Erwartungen gehabt. Hätte ich gewusst, dass Neuanfänge so schwierig sind. Heute weiß ich das. Das heißt aber nicht, dass ich keine Erwartungen mehr habe. Ich bin der festen Überzeugung, ...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | anderer Lebensentwurf • das zu einem passt • den eigenen Weg gehen • die Prioritätenliste prüfen • Ein Leben finden • finden • Gegen den Strom • Gegen gesellschaftliche Erwartungen • in der Welt zu hause • Leben in Berlin • Leben in Buenos Aires • Leben in Mexiko-Stadt • Leben in New York • Leben in Paris • passendes Lebensmodell • Teilzeitnomadin • Teilzeit Nomadin • was wirklich zählt |
ISBN-10 | 3-492-60700-4 / 3492607004 |
ISBN-13 | 978-3-492-60700-1 / 9783492607001 |
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