Identität über alles? (eBook)

Von der Gegenwart zur Antike und zurück
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
152 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-7681-9827-1 (ISBN)

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Identität über alles? -  Tonio Hölscher
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Identität - eine Gefahr für die Gemeinschaft? In einem scharfsinnigen Essay untersucht Tonio Hölscher das inflationär gebrauchte Konzept der kulturellen, sozialen und politischen Identität und befragt es mit einem kritischen Rückblick auf das alte Griechenland. Zur Debatte stehen die Dynamik von politischer und kultureller Identität in der Antike wie auch die Bedeutung des Begriffs in der Gegenwart. Eine brillante wie streitbare Analyse von großer politischer Aktualität.  Das Bewusstsein von Identität ist in der global geöffneten Welt zu einem universalen Fundament des Zusammenhalts von politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Einheiten geworden. Als Folge davon ist der Begriff der Identität in den aktuellen Diskursen wie in den historischen Wissenschaften in zwei Richtungen expandiert. Zum einen wird kollektiven Einheiten ihre Identität als ein nicht hinterfragbares Recht zugesprochen; dabei wird die konfliktsuchende Aggressivität kollektiver Identität in Kauf genommen. Zum anderen führt das fundamentalistische Konzept der Identität zu einem inflationären Gebrauch, der dem Begriff jede klärende Präzision nimmt und den Blick auf entscheidende Fragen des Lebens verdeckt.

Tonio Hölscher, geboren 1940, ist Professor em. für Klassische Archäologie an der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg. Von 2002 bis 2004 war er Forschungsprofessor am Deutschen Archäologischen Institut Rom. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören griechische und römische Staatsdenkmäler, griechische Mythenbilder und der antike Städtebau.

Tonio Hölscher, geboren 1940, ist Professor em. für Klassische Archäologie an der Ruprecht- Karls-Universität Heidelberg. Von 2002 bis 2004 war er Forschungsprofessor am Deutschen Archäologischen Institut Rom. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören griechische und römische Staatsdenkmäler, griechische Mythenbilder und der antike Städtebau.

2.

Antikes Griechenland


Archäologie, Identität und Alterität


Die Archäologie und Geschichtswissenschaft der Antike, wie auch anderer Epochen, haben immer wieder mit der Frage zu tun, in welcher Weise historische Gemeinschaften – Ethnien und Staaten, Regionen und Städte, soziale und kulturelle Gruppen, Geschlechter und Altersstufen – sich objektiv voneinander unterschieden und sich subjektiv gegeneinander abgrenzten. Wenn dabei die Begriffe der Identität und Alterität eine zentrale Rolle spielen, dann stellt sich die Frage, wie hilfreich sie tatsächlich sind? Ob ihr gegenwärtig ungemein weitreichender Gebrauch gerechtfertigt ist? Und wie weit dabei die Emphase normativer Identität im Spiel war?

Die griechische Welt hat sich, nach dem Zusammenbruch der so genannten mykenischen Königtümer des 2. Jahrtausends v. Chr., im 10.–6. Jahrhundert v. Chr. in einer Vielzahl von politischen Einheiten und gegliederten Gesellschaften neu formiert. Die historische Forschung hat ein komplexes Bild dieser »Ethnogenese« erarbeitet, die sich in einem Prozess von vielen Generationen vollzog. Dabei kam ein vielschichtiges Netz von Faktoren zur Geltung, die einerseits großräumige Kohärenz, andererseits kleinräumige Differenzierung bezeugen: Die griechische Sprache als Grundlage weitreichender Kommunikation, aber mit unterschiedlichen Sprachgruppen; die Lebensräume, gegliedert in Stadt, Land und wilde Natur; die politischen Gemeinschaften der Stämme (éthnē, Singular: éthnos) und Stadtstaaten (póleis, Singular: pólis) mit ihren spezifischen Institutionen; die gemeinsame Religion und Götterwelt mit ihren lokalen Varianten; die gemeinsamen Mythen der Vorgeschichte mit ihren lokalen Helden; genealogische Linien von der Frühzeit bis in die Gegenwart; gesellschaftliche Strukturen, soziale Klassen, Gruppen von Geschlecht und Alter, mit lokal variierenden Rollen, Praktiken und Ritualen; eine gemeinsame Lebenskultur mit vielfältigen lokalen und sozialen Differenzierungen.

Allgemein ist die Gliederung von größeren Gemeinschaften in Gruppen mit klaren Rollen und Funktionen grundlegend für das Zusammenleben. Die verschiedenen Einheiten, die sich in vielfältiger Weise überlagerten, entwickelten ihren Zusammenhalt in gemeinsamen politischen Aktionen, sozialen Praktiken, religiösen Ritualen und ideellen Vorstellungen, vielfach zugespitzt in politischen Konflikten und Kriegen. Die Frage ist, wie weit dabei ein weiterer Faktor der Identität wirksam war, der über diese Faktoren hinausgegangen wäre?

Selbstverständlich gab es in der Antike starke Konzepte der Identität und Alterität, die die Akteure in ihren Einstellungen und Praktiken des kulturellen und politischen Lebens prägten: mit Abgrenzungen der Griechen gegen andere Ethnien und Kulturen, von einzelnen Städten gegen andere Städte, von sozialen Gruppen gegen andere Gruppen, und so fort. Aber diese Konzepte waren nicht überall und immer in der gleichen Weise vorhanden, sie befanden sich in ständigem Wandel, die Grenzen waren fließend, von einer Epoche zur anderen, zwischen den verschiedenen Gemeinschaften und Gruppen, mit verschiedenen Intensitäten, von weitgehendem Fehlen bis zu emphatischer Bewusstheit.

Dabei sind die Zeugnisse der antiken Kulturen einer solchen Fragestellung grundsätzlich nicht günstig. Für die Schriftquellen wurde bereits gesagt, dass sie keine expliziten Begriffe der Identität und Alterität kennen: Sie müssen daher mit Sensibilität für die spezifischen Erfahrungen von Selbstheit und Andersheit gelesen werden, die möglicherweise nicht den heutigen Erfahrungen und Konzepten entsprechen. Daneben kommt den Gegenständen der materiellen Kultur eine besondere Bedeutung zu, da sie oft die einzigen erhaltenen Zeugnisse für diese Fragen sind. Doch diese Hinterlassenschaften können allenfalls einen indirekten Zugang zu Fragen der Identität eröffnen: Denn den Gegenständen als solchen ist es nicht anzusehen, wie sie von den historischen Trägern dieser Kulturen gewertet wurden. Die materiellen Gegenstände der Lebenskultur und die ideellen Kategorien der sozialen und ethischen Wertvorstellungen, die im Sinn von Identität und Alterität interpretiert werden könnten, sind für außen stehende Betrachter und Interpreten nur schwer in Verbindung zu bringen; für einen methodisch soliden Brückenschlag bedarf es meist zusätzlicher Informationen.

Abb. 3: Junge Frau mit Coca Cola

Abb. 4: Wang Guangyi: Great Criticism Series, gegen das Verbot von Coca Cola

Beispiele aus der eigenen Zeit können das erläutern. Coca-Cola wurde seit den 1920er Jahren in Europa als trendiges Getränk aus Amerika eingeführt und hat seither einen festen Platz im Spektrum des weltweiten Freizeit-Konsums (Abb. 3). Doch 1949 wurde es im neugegründeten kommunistischen China verboten, bald wurde es von französischen Linken, im ganzen kommunistischen Ostblock und in der Arabischen Liga als Symbol amerikanischer Überfremdung boykottiert (Abb. 4), schließlich aber auch dort wieder wie in anderen Ländern als bedeutungsneutrales Produkt akzeptiert. Die Bedeutung als Symbol der kulturellen Identität ist den Flaschen und Dosen wie auch dem Getränk selbst nicht essentiell zu eigen, sondern ist ein Potential, das ihnen unter bestimmten Voraussetzungen zu- und wieder abgeschrieben werden kann. Künftige Archäologen, die sie einmal finden mögen, werden ihnen ihre Bedeutung nicht ansehen können. Um die Beispiele zu vermehren: Kopftücher, die vor 50 Jahren als attraktives Accessoire getragen wurden, sind heute als muslimisches Symbol heftig umstritten.

Abb. 5: Phönikische Bronzeschale aus einem Grab in Athen. Athen, Kerameikos-Museum. 8. Jahrhundert v. Chr.

Die materiellen Gegenstände aus fremden kulturellen Kontexten erhalten ihre Bedeutung durch kulturelle und ideologische Zuschreibungen, und diese Zuschreibungen können stark variieren. Dabei ist Identität/Alterität nur eine von mehreren Optionen. Im 8. Jahrhundert v. Chr. wurde in Athen einem Verstorbenen eine Bronzeschale mit einem eingravierten Bildfries ins Grab gegeben, die aus Phönikien importiert war (Abb. 5). Es war eine Gattung von Luxusgefäßen, wie es sie in Griechenland damals nicht gab, von einer technischen Vollkommenheit der Metallbearbeitung, die dem eigenen Handwerk weit überlegen war, und mit Bildmotiven, die in einer in Griechenland ungewöhnlichen Weise Männer im beherrschenden Umgang mit Wildziegen, Stieren und Löwen zeigen. Wenn man aber danach fragt, welche Bedeutung sie für ihre Besitzer gehabt haben kann, so sind sehr unterschiedliche Erklärungen denkbar. Sie können sie wegen ihres ökonomischen Wertes geschätzt haben oder wegen ihres sozialen Prestiges; wegen ihrer ästhetischen Schönheit oder wegen ihrer Bildthemen; wegen ihrer materiellen Haltbarkeit oder wegen ihrer funktionalen Form – ob dabei aber Alterität, d. h. die Herkunft aus dem Orient und gar ein fundamentaler Gegensatz zwischen der eigenen und einer alteritären Kultur, überhaupt eine Rolle spielte, ist zunächst völlig offen.

Allgemein gesprochen: Die kulturelle Semantik materieller Gegenstände liegt nicht in ihnen selbst, sondern beruht auf den Bewertungen derer, die sie benutzen. Diese Bewertungen können auf unterschiedlichen Feldern der kulturellen Praxis liegen: sozial, ökonomisch, ästhetisch, religiös etc. Die Kategorien der Identität und Alterität sind dabei nur eines von mehreren möglichen Paradigmen der Bewertung und damit der wissenschaftlichen Interpretation. Jedenfalls sollte man nicht selbstverständlich davon ausgehen, dass die Griechen sich in ihrer Lebenspraxis ständig bewusst gemacht haben, ob die Gegenstände ihrer Lebenskultur einer griechischen Identität entsprachen.

Materielle Kultur und historische Akteure: Die Unsichtbarkeit von Identität


In den archäologischen Wissenschaften richtet sich eine Grundfrage auf die Zusammenhänge zwischen den Gegenständen und Befunden der materiellen Kultur, die archäologisch nachgewiesen werden können, und den ehemaligen Akteuren, die man als Historiker erschließen möchte. Dabei geht es um zwei miteinander verbundene Fragen: zum einen um die Identifizierung der Träger der materiellen Kultur, zum anderen um die kulturellen Praktiken und Konzepte, die die Träger mit den materiellen Gegenständen verbanden.

Wenn man bei dieser Frage von den materiellen Gegenständen ausgeht, gerät man rasch an Grenzen. Es ist längst Gemeingut der archäologischen Forschung, dass die materielle Kultur kein essentielles Charakteristikum ethnischer Gemeinschaften ist, sondern ein rational geschaffenes Instrumentarium für soziale Praktiken mit kulturellen Bedeutungen. Dies kulturelle Repertoire kann nicht nur in der Zeit innerhalb derselben Gemeinschaft für neue Bedürfnisse und mit neuen technischen Fähigkeiten transformiert, sondern kann auch im Raum zwischen verschiedenen Gemeinschaften zu kleineren oder größeren Teilen transferiert werden – und kann darum kaum zuverlässig zur Identifizierung von Gemeinschaften politischer, ethnischer oder sozialer Träger dienen.

Die archäologische Forschung hat sich mit diesen Fragen besonders im Blick auf die zahlreichen Kontaktzonen zwischen den Kulturen der Griechen und Römer und den sehr verschiedenartigen Kulturen der benachbarten Ethnien in Europa, Asien und Afrika befasst. Sie hat hochdifferenzierte theoretische Ansätze zur Definition und zum Verständnis kultureller Identitäten entwickelt und hat dabei auch die Erfahrungen mit Kolonialismus, Entkolonialisierung und Post-Kolonialismus fruchtbar ins Spiel gebracht. Diesen Fragen kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Wie wenig dabei jedenfalls die Annahme einer...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alterität • Andersheit • Anthropologie • Antike • Antikes Griechenland • Differenz • Diversität • Exklusion • Gemeinschaft • Geschichtsdeutung • Geschichtskultur • Geschichtspolitik • Geschichtswissenschaft • Gleichheit • Griechische Kultur • kulturelle Diversität • kulturelle Praktiken • Kulturelles Gedächtnis • kulturelle Techniken • Materielle Kultur • Otherness • Perserkriege • Rituale • Selbstheit • Solidarität • Symbole • Wertvorstellungen
ISBN-10 3-7681-9827-8 / 3768198278
ISBN-13 978-3-7681-9827-1 / 9783768198271
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