Moralspektakel (eBook)
336 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-23228-3 (ISBN)
Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen - einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.
Philipp Hübl ist Philosoph und hat Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart gelehrt. Danach war er Gastprofessor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er ist Autor des Bestsellers »Folge dem weißen Kaninchen« (2012), der Bücher »Der Untergrund des Denkens« (2015), »Bullshit-Resistenz« (2018) und »Die aufgeregte Gesellschaft« (2019) sowie von Beiträgen unter anderem in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, Welt, FR, im Standard, Deutschlandradio und Philosophie Magazin. Hübl hat Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford studiert.
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Unbemerkter Fortschritt
Das Moralparadox
Der lange Lauf der Geschichte
Die Menschheit existiert seit mindestens 100 000 Jahren, vermutlich sogar deutlich länger.[1] Stellt man sich die letzten 100 000 Jahre als Hundertmeterlauf mit der Gegenwart als Ziellinie vor, dann steht jeder einzelne Meter für 1000 Jahre Geschichte. Läuft man diese Strecke dann vor dem inneren Auge ab, wird einem klar, dass auf den ersten 90 Metern kaum etwas passiert. Der technische Fortschritt ist über lange Strecken minimal, moralischer Fortschritt so gut wie gar nicht vorhanden. Sesshaft werden die Menschen auf den letzten zehn Metern, die Schrift erfinden sie auf den letzten sechs und die ältesten bekannten Gesetzestexte werden auf den letzten vier Metern formuliert.
Erst auf den letzten zehn Zentimetern ändert sich alles. Zum ersten Mal dürfen Frauen wählen – vor 1900 hatte nur ein einziges Land, Australien, das Frauenwahlrecht eingeführt. Die Menschenrechte werden in der heute bekannten Form erst auf den letzten acht Zentimetern formuliert und von den Vereinten Nationen verabschiedet, nämlich im Jahr 1948. Und in Deutschland wird erst auf den letzten 15 Millimetern die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingerichtet und die gleichgeschlechtliche Ehe erst auf den letzten fünf Millimetern anerkannt – also nach 99,995 Prozent der gesamten Strecke.
Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.[2] Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils.[3] Noch 1970 waren etwa 30 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern der Welt unterernährt, heute sind es etwa zehn Prozent.[4]
Dennoch glaubt die Mehrheit der Menschen, die Weltlage habe sich verschlechtert.[5] In sogenannten Entwicklungsländern, wie die Weltbank sie nennt, etwa in China, Senegal, Kenia, Nigeria und Indien, sind die Einschätzungen noch am besten.[6] Dort geben immerhin zwischen 30 und 50 Prozent korrekt an, dass Kindersterblichkeit und extreme Armut weltweit deutlich zurückgegangen sind. Außerdem erwartet in diesen Ländern der größte Anteil der Menschen im globalen Vergleich, dass sich die Weltlage auch in Zukunft verbessert.[7]
In den hochentwickelten Industrieländern liegen die Menschen in ihren Einschätzungen am weitesten von den Fakten entfernt. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien oder Japan schätzen fast 90 Prozent der Menschen die Weltlage schlechter ein, als sie tatsächlich ist – also gerade in denjenigen Ländern, deren Wohlstand beispiellos in der Menschheitsgeschichte ist.
Und obwohl die Menschenrechte besser geschützt werden als jemals zuvor,[8] sind sich Leute in allen Erdteilen darin einig, dass die Welt moralisch verfällt, wie eine Studie mit 12 Millionen Befragungen in 60 Ländern über die letzten 70 Jahre zeigt.[9] Ganz gleich, in welcher Weltregion man nachfragt, überall geht ein Großteil der Bevölkerung davon aus, dass Menschen heute weniger ehrlich, freundlich und hilfsbereit sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie alle großen Untersuchungen zu diesem Thema belegen.[10]
Befragt man Personen allerdings zu ihrem Nahbereich, sieht die Sache ganz anders aus: Sie schätzen ihr Umfeld heute genauso positiv ein wie vor 20 Jahren. Man könnte ihre Haltung also so ausdrücken: »Die Welt geht unter, doch bei mir ist alles in Ordnung.« Diese Fehleinschätzung kann man übrigens in allen politischen Lagern messen, wobei Konservative am stärksten von einem allgemeinen Werteverfall ausgehen.
Dass wir die beispiellose Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre als Niedergang erzählen, ist das große Moralparadox unserer Zeit. Dafür gibt es mindestens sechs Gründe.
(1) Selektive Medien
Der erste Grund ist ein Wahrnehmungsfehler. In den Medien und der Öffentlichkeit geht es vor allem um drastische Ereignisse und eklatante Missstände, die es immer noch gibt. Dagegen thematisieren die Nachrichten selten den sozialen Fortschritt, der sich stetig und langsam vollzieht.[11] Wir hören zu Recht von der Hungersnot in Ostafrika, lesen aber nicht die Schlagzeile »Heute sind wieder 100 000 Menschen der extremen Armut entkommen«, auch wenn man diesen Satz in den letzten 20 Jahren täglich hätte titeln können.[12] Wer nur von den Nachrichten der Tagesschau ausgeht, ohne die Daten zur Weltlage zu kennen, muss den Eindruck gewinnen, dass alles schlimmer wird. Doch das ist ein Irrtum, der durch selektive Wahrnehmung zustande kommt. Und diese Urteilsverzerrung ist weit verbreitet.[13]
Stellt man Probanden Fragen wie »Wie viele Menschen in der Welt haben Zugang zu Elektrizität?« oder »Wie viele einjährige Kinder weltweit sind gegen eine Krankheit geimpft?« mit den Optionen »20«, »50« und »80« Prozent, so kreuzen die wenigsten »80 Prozent« an. Das aber ist in beiden Fällen die korrekte Antwort. Der Statistiker Hans Rosling hat mehr als 12 000 Teilnehmern aus 14 Ländern insgesamt zwölf solcher Fragen gestellt. Nur eine einzige Person hat alle richtig beantwortet. Im Mittel lagen die Probanden in nur zwei von zwölf Fällen richtig, deutlich unterhalb der Zufallswahrscheinlichkeit von vier richtigen Antworten, die man durch bloßes Würfeln erreichen würde. Bei Intellektuellen ist die Urteilsverzerrung übrigens am stärksten ausgeprägt: Nobelpreisträger liegen in ihren Einschätzungen der Weltlage noch weiter daneben als Durchschnittsbürger.
Unsere Urteilsverzerrung durch selektive Wahrnehmung hat noch eine zweite Quelle. Oft haben wir unser Wissen einfach nicht aktualisiert. Vor wenigen Jahrzehnten hatten tatsächlich deutlich weniger Menschen einen Stromanschluss im Haus als heutzutage, und Kinder waren deutlich seltener geimpft. Unsere Annahmen über die Weltlage sind also in gewisser Weise korrekt, nur gelten sie eben für eine längst vergangene Zeit. Da sich die Welt schnell ändert, kommen wir mit den Updates unseres Wissens nicht immer hinterher.
(2) Negative Verzerrung
Fragt man in Experimenten sinngemäß: »Bei einer Operation liegt das Sterberisiko bei 33 Prozent. Soll operiert werden?«, so stimmen etwa 20 Prozent der Menschen zu. Fragt man hingegen: »Bei einer Operation liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei 66 Prozent. Soll operiert werden?«, sind es etwa 70 Prozent. Inhaltlich sagen beide Fragen dasselbe aus. Allein das negative Wort »Sterberisiko« gibt also den Ausschlag.[14]
Wir sind für Negatives besonders sensibilisiert.[15] Diese Einschätzung hat in der Forschung sogar einen Namen, nämlich Negativverzerrung (negativity bias).[16] Sie ist der zweite Grund, warum wir glauben, dass alles schlechter wird. Evolutionsbiologen erklären das folgendermaßen: Wie für andere Tiere war es auch für unsere Vorfahren vorteilhaft, auf Gefahren hypersensibel zu reagieren. Angenommen, es raschelt im Unterholz: Wer sofort wegrennt, weil er irrtümlich denkt, dass ein Tiger angreift, hält sich lediglich fit; doch wer einmal zu wenig wegrennt, wenn sich tatsächlich ein Tiger anschleicht, wird gefressen und kann seine Gene nicht weitergeben.
Den ersten Fehler nennt man falsch-positiv (der Warnmechanismus sagt »Tiger: ja«, obwohl keiner da ist), den zweiten falsch-negativ (der Warnmechanismus sagt »Tiger: nein«, obwohl einer da ist). Wir kennen das noch aus der Corona-Pandemie. Der Antigen-Test aus der Apotheke hat immer mal wieder falsch-negative Ergebnisse produziert: Man hielt sich für kerngesund, obwohl man tatsächlich ansteckend war. Der PCR-Test aus dem Labor dagegen hat, wenn überhaupt, allenfalls falsch-positive Ergebnisse produziert.
Bei Gefahren oder Schäden ist es grundsätzlich besser, überempfindlich zu reagieren, denn die beiden Fehler wirken sich unterschiedlich aus. Die Theorie dazu, entwickelt von den Evolutionsbiologen Martie G. Haselton und David Buss, heißt Fehler-Management-Theorie.[17] Man kann sie auf viele Bereiche anwenden, beispielsweise auf Feuermelder. Manche Feuermelder sind so sensibel eingestellt, dass sie schon anspringen, wenn man lediglich Haarspray verwendet. Das ist zwar nervtötend, aber immerhin nicht tödlich wie der andere Fehler, wenn nämlich nachts das Schlafzimmer in Flammen steht und kein Alarm angeht.
Viele unserer Emotionen funktionieren wie Feuermelder. Sie haben sich in der Evolution entwickelt, weil sie das Leben unserer Vorfahren schützten, indem sie...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Digitale Öffentlichkeit • Diskriminierung • eBooks • Filterblase • Gesinnung • juliane marie schreiber • Lebensführung • Maja Göpel • Moralphilosophie • Nancy Fraser • Neuerscheinung • Opfer • Opfergruppen • Peter Sloterdijk • Philosophie • Richard David Precht • Selbstbestimmung • Solidarität • Soziale Medien • Symbolpolitik • universelle Ethik • Wokeness |
ISBN-10 | 3-641-23228-7 / 3641232287 |
ISBN-13 | 978-3-641-23228-3 / 9783641232283 |
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