Law statt Order (eBook)
288 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77948-4 (ISBN)
Nach Aktionen von Klimaschützern oder Schlägereien in Schwimmbädern werden regelmäßig Forderungen laut, nun müsse »mit der vollen Härte des Rechtsstaats durchgegriffen« werden. Gemeint ist damit: Schluss mit Entschuldigungen und Sozialarbeiter-Romantik, dafür robustes Auftreten der Polizei, Ausschöpfen des Strafrahmens vor Gericht - kurz: »Law and Order«-Politik.
Dabei gerät in Vergessenheit, dass »Rechtsstaat« eigentlich etwas ganz anderes bedeutet, nämlich die Bindung staatlichen Handelns an das Gesetz. Maximilian Pichl analysiert, aus welchen Gründen und mit welchen Strategien politische Akteure die skizzierte Umdeutung betreiben und welche Folgen sie hat. Diesen Bestrebungen setzt Pichl die lange Geschichte juristischer Kämpfe entgegen, in denen sich Anwälte und Aktivisten für eine Begrenzung politischer Willkür eingesetzt haben.
Maximilian Pichl, geboren 1987, ist Rechts- und Politikwissenschaftler. Er ist Professor für Soziales Recht der Sozialen Arbeit an der Hochschule RheinMain. Zuletzt erschien von ihm <em>Untersuchung im Rechtsstaat </em>(2022) über die Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie. Er ist Mitherausgeber des jährlichen Berichts <em>Recht gegen rechts</em>.
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Ursprünge
Wie der Rechtsstaat entstanden ist und wie um ihn gekämpft wurde
Was ist der Rechtsstaat? In vielen öffentlichen Diskussionen herrscht diesbezüglich Unklarheit. Der Begriff entzieht sich einer »einfachen und formelhaften Umschreibung«.1 Akteur:innen aus dem gesamten politischen Spektrum verwenden ihn auf unterschiedliche Weise, um so ihre je eigenen Anliegen zu legitimieren. Aber nicht nur in der breiten Öffentlichkeit, auch in der Politik- und in der Rechtswissenschaft besteht in dieser Frage keine Einigkeit. »Als Verfassungsprinzip und normative Grundlage […] teilt der Rechtsstaat die Unbestimmtheit des Grundsätzlichen«, so hat es Günter Frankenberg einmal polemisch formuliert.2 Es handele sich, schrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde, um einen »vage[n]« und nicht »ausdeutbare[n] Schleusenbegriff«, der offen für politischen Wandel sei.3
Bei aller Unbestimmtheit ist er aber zugleich nicht beliebig verwendbar, zumindest wenn man ihn auf die theoretischen und historischen Debatten zurückführt, aus denen heraus er entstanden ist. Auch Böckenförde verweist darauf, dass erst die »Kenntnis seiner geschichtlichen Entwicklung« es ermöglicht, den Begriff zu gebrauchen, ohne dass er seine »Kontinuität« verliert und zu einer »bloßen Leerformel« herabsinkt.4 Also sollen 22im Folgenden die historischen Ursprünge des Rechtsstaates skizziert werden.
Zu unterscheiden ist dabei zwischen der Begriffs- und der Phänomengeschichte des Rechtsstaats, die nicht immer deckungsgleich sind. Im Staatsrecht, der Rechtsphilosophie und in politischen Debatten wird seit zwei Jahrhunderten lebhaft über den Rechtsstaatsbegriff diskutiert. Zugleich gibt es auch eine empirisch beobachtbare Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit, die ebenfalls einem dynamischen Wandel unterliegt. Bei einem Blick in die wechselvolle Geschichte des Begriffs und seines Phänomens ist ein Fokus auf die deutsche Debatte unausweichlich, handelt es sich doch um ein spezifisch deutsches Konzept.5 Gleichwohl gilt es, die europäische Perspektive zu berücksichtigen. Der Rechtsstaat und seine Institutionen entwickelten sich in Westeuropa in jeweils eigenen politischen Kontexten, doch bestehen wichtige Gemeinsamkeiten. So sind etwa »Rechtsstaat« und »rule of law« zwar nicht das Gleiche, aber beide sollen bestehende Freiheiten sichern und neue ermöglichen. Zugleich ist es wichtig, die europäischen Dimensionen zu beleuchten, weil sich die Krise der Rechtsstaatlichkeit im 21. Jahrhundert und die ordnungspolitische Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs in entscheidender Weise im Rahmen der Europäischen Union abspielen.6
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Der liberale Rechtsstaat
Der Rechtsstaat ist untrennbar mit dem modernen Liberalismus verbunden. Dieser war angetreten, ein politisches und ökonomisches System zu entwickeln, das den Feudalismus und das absolutistische Herrschaftsmodell ersetzen sollte. Im Kampf gegen das Ancien Régime sollte eine neue Ordnung für das europäische Bürgertum entstehen. Die liberalen Ideen wurden nicht im luftleeren Raum erdacht: Sie entstanden im Zusammenhang mit den gewaltvollen und revolutionären Umbrüchen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Auch die Konturen des deutschen Rechtsstaatsbegriffs etablierten sich in dieser Zeit, orientierten sich an den liberalen philosophischen Vorbildern7 und standen unter dem Eindruck der Revolutionen in Frankreich und Nordamerika sowie der Kämpfe in Europa zwischen der alten Feudalaristokratie, dem Bürgertum und dem dritten Stand. Der Begriff »lag während der revolutionären Schwellenzeit gleichsam in der Luft«, so Günter Frankenberg.8
Nach den Umstürzen oder im Versuch, ihnen zuvorzukommen, rechtfertigten liberale Denker:innen mit dem Begriff des Rechtsstaats die neuen Herrschaftssysteme. Dazu zählte in Teilen auch die deutsche Rechtsstaatstheorie, »die den besonderen deutschen Verhältnissen des 19. Jhs entsprechende Variante der bürgerlichen Staatstheorie«.9 Das Ziel bestand darin, ein Gegenstück zu despotischen Ordnungssystemen und dem, was man unter »Policey« oder einem Polizeistaat verstand, zu formulieren. »Policey« meinte eine Regierung, die in alle Lebensbereiche, die Bildung, die Gesundheit, die Fürsor24ge, die Ökonomie eingreifen konnte, um die »Kraft des Staates« zu steigern.10 Daraus entwickelte sich später die europäische Form der Polizei. Im Unterschied zu einem Rechtsstaat unterliegt ein Polizeistaat keinen Schranken und verleiht sich selbst die Befugnisse, um das Leben der Untertanen zu regulieren.
Rechts- und Staatsphilosophen führten engagierte »Diskurse über das richtige Maß von Herrschaftsgewalt«.11 Kennzeichnende Merkmale des Rechtsstaates, die sich nach und nach durchsetzten, waren der Schutz des Einzelnen vor dem neu entstandenen Gewaltmonopol, vor willkürlichen Eingriffen der Exekutive ohne gesetzliche Grundlage, freiheitliche Garantien und Rechte gegenüber dem strafenden Staat sowie das Bestimmtheitsgebot, das den Auftrag an das Parlament enthält, Gesetze und insbesondere Strafnormen so klar zu formulieren, dass die Folgen für die Bürger:innen vorhersehbar sind.
Sowohl die englische rule of law als auch der französische état légal waren nicht nur freiheitsschützend angelegt, sondern besaßen eine demokratische Komponente. In England und Frankreich lässt sich die Herrschaft des Rechts nicht denken, ohne zugleich den Souverän zu benennen, der das Recht setzt, nämlich das Parlament. Nach der gescheiterten demokratischen Revolution von 1848 löste sich der Rechtsstaatsbegriff in Deutschland jedoch von der parlamentarischen Demokratie. Er nahm als »rechtliche Form der konstitutionellen Monarchie« Gestalt an, wie Ulrich K. Preuß geschrieben hat.12 In den Vordergrund traten »die unpolitischen, individualistischen, staatsfremden Komponenten«, die 25eine »Abwehr gegen ›polizeistaatliche‹, absolutistische Willkür und Einmischung der Verwaltung in Privatangelegenheiten« sicherstellen sollten.13 Diese Errungenschaften sollte man nicht geringschätzen. In einer Zeit, als es noch keine Bürgerinnen und Bürger, sondern lediglich »Unterthanen« gab, gingen vom Rechtsstaat freiheitliche Impulse aus, die über den Status quo hinauswiesen. Darin lag schon damals und liegt bis heute sein universelles Potenzial begründet, das sich nicht darin erschöpft, das bürgerliche Eigentum zu sichern.14
Ausschluss aus dem Rechtsstaat
Historisch betrachtet hat er dieses Versprechen auf Universalität freilich nie vollständig eingelöst; er war stets durch Ausschlüsse und Ambiguitäten gekennzeichnet. Die liberalen Modelle des Rechtsstaats waren Theorien, die dem sich in politischer und ökonomischer Hinsicht zu einem Machtfaktor entwickelnden Bürgertum Ideen als Waffe in die Hand drückten. »Wie kann eine aufstrebende Klasse wie die Bourgeoisie sich ohne den erforderlichen Kraftakt Zutritt zum offiziellen Establishment verschaffen?«, fragte der Staatsrechtler und Politologe Otto Kirchheimer auf die Entwicklungen im 19. Jahrhundert zurückblickend. »Sie wird, nach klassischem Muster, die Allgemeingültigkeit ihrer Ansprüche behaupten.«15 Mit dem Begriff des Rechtsstaats versuchte das Bürgertum, seine eigenen Interessen als die aller Klassen zu präsentieren. Doch es blieb bei dieser Behauptung. Tatsächlich entwickelte sich der Rechtsstaat im 2618. und 19. Jahrhundert, indem innere und äußere Grenzen gezogen wurden.
In der Zeit vor der Gründung des deutschen Kaiserreichs bildete sich langsam ein Konzept heraus, das kapitalistisch und bürgerlich geprägt war. Im Vordergrund stand der Schutz des Privateigentums und hinter diesem die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Arbeitsschutzgesetze gab es nicht, wie auch keine für Angehörige der unteren Schichten zugängliche Gerichtsbarkeit. Das Bürgertum wollte seine neu gewonnene ökonomische Freiheit, die zuvor dem Adel vorbehalten gewesen war, mithilfe von Recht und Gesetz...
Erscheint lt. Verlag | 15.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • aktuelles Buch • Autoritarismus • Björn Höcke • Bücher Neuererscheinung • Bürgerrechte • Clankriminalität • Correctiv • Demokratie • edition suhrkamp 2837 • ES 2837 • ES2837 • Freibad • Gesetz • Grundrechte • Härte • Justiz • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Law and Order • letzte Generation • Martin Sellner • Neue Rechte • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • öffentliche Ordnung • Polizei • Polizeistaat • Präventivhaft • Rechtsstaat • Rowdies • Sicherheit • Verfassung |
ISBN-10 | 3-518-77948-6 / 3518779486 |
ISBN-13 | 978-3-518-77948-4 / 9783518779484 |
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