Flüchtlinge im sozialen Raum (eBook)
305 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45769-7 (ISBN)
Felix Leßke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
Felix Leßke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn.
1.Einleitung
Nur wenige Tatbestände offenbaren die Mechanismen des Sozialen in einer derartigen Schärfe wie Migration und Integration. Beide Phänomene befinden sich an Schnittpunkten der großen Fragen »Was ist Gesellschaft?«, »Gibt es gesellschaftliche Identität und Solidarität?«, »Wer sind wir, wer die Anderen?« und »Wann gehört man eigentlich zu einer Gesellschaft dazu?«.
In Zeiten der Globalisierung sind nahezu alle Gesellschaften durch Migration geprägt. Die sozialen Auswirkungen können sich deutlich unterscheiden, je nachdem, ob die Gesellschaften eher von Zuwanderung, Abwanderung oder gar von beiden Migrationsbewegungen betroffen sind. Zugleich ist es sozial bedeutsam, welche Gruppen migrieren. Die Emigration einer hochgebildeten jungen Subpopulation hat ganz andere Auswirkungen auf das gesellschaftliche Gefüge als die Emigration oder Immigration geringqualifizierter Gruppen, die sich durch die Migration Arbeit und ein höheres Einkommen versprechen.
Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Migration und Integration ist ein breites Forschungsfeld entstanden, welches die sozialen, politischen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen von Migration zum Gegenstand hat. Zahlreiche Studien beleuchten das Phänomen aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und beschäftigen sich z.B. mit den Ursachen von Migration (für einen Überblick siehe: Aigner 2017), den unterschiedlichen Stufen oder Phasen des Integrations- oder Assimilationsprozesses (Berry 1980, 1997; Esser 1980, 2000, 2009), der gesellschaftlichen Bedeutung von Vorurteilen (Allport 1954), der Wirkung interethnischer Kontakte auf Vorurteile (Allport 1954; Pettigrew 1998; Pettigrew und Tropp 2006), oder der Wahrnehmung von Bedrohung durch die Migranten1 (Blalock 1967, 1982; Stephan und Stephan 1985, 2000). Die unterschiedlichen theoretischen Ansätze tragen jeweils einzelne Mosaikstücke zum Verständnis der unterschiedlichen sozialen Mechanismen bei, die durch Migration und Integration in Gang gesetzt werden. In einer Vielzahl von empirische Analysen haben sich diese Theorien bewährt und gehören heute zum Basiswissen der (empirischen) Migrationsforschung.
Die Forschung zu Migrationsprozessen blickt in der Soziologie auf eine lange Tradition zurück. Schon Georg Simmel, einer der Gründerväter der modernen Soziologie, stellte sich der Frage nach dem Fremden, in dem er jemanden sah, der »heute kommt und morgen bleibt« (Simmel 1992a [1908], S. 764) und durch ein besonderes Verhältnis von Nähe und Distanz charakterisiert werden kann. Nach Alfred Schütz ist der Fremde zudem in der Lage, die Gewissheiten und die Ordnung eines gesamten sozialen Gefüges in Frage zu stellen (Schütz 1944, S. 502).
Beide Ansätze offenbaren zwei wichtige Elemente der Forschung zu Migration und Integration. Zum einen begeben sich Migranten in ein bestehendes Gefüge sozialer Beziehungen. Die physische Nähe zu den Fremden korrespondiert mit einem Gefühl der Ferne: sie sind da, obwohl sie (noch) nicht wirklich dazugehören. Zum anderen verändern Migration und Integration das bestehende Gesellschaftsgefüge und damit auch die Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit. Dies kann Konflikte hervorrufen, da soziale Tatbestände in Frage gestellt werden, die vorher als Gewissheiten galten. Identitäten geraten ins Wanken und werden im Rahmen sozialer Aushandlungsprozesse neu geschaffen. Dies gilt sowohl für die Gesamtgesellschaft als auch für einzelne Gruppen und Akteure.
Einen weiteren Zugang, der die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen durch Migration ebenso berücksichtigt wie die Veränderungen auf der Akteursebene, findet sich in den Ausarbeitungen zur Migration zwischen Algerien und Frankreich Abdelmalek Sayads (2004b). Seine Darlegungen berufen sich zudem auf die umfassende Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus und sind somit in eine »Grand Theory« der Gesellschaft eingebettet. Dabei werden vor allem die Auswirkungen der Emigration auf die Ursprungsgesellschaft, die Historie zwischen Algerien und Frankreich, die Veränderungen des sozialen Raumes durch die Migration und die Abwertung der Migranten in der französischen Gesellschaft in den Fokus gerückt. Vor diesem theoretischen Hintergrund unterliegen die Migranten zahlreichen Zuschreibungen, die mit ihrer Herkunft verbunden sind und Einfluss auf ihre Integrationschancen haben.
Die Ansätze von Bourdieu und Simmel haben gemein, dass sie auf einem relationalen Gesellschaftsverständnis beruhen, nach dem sich die sozialen Gegebenheiten vor allem durch die Beziehungen der einzelnen Elemente untereinander begreifen lassen. Bezogen auf den bisherigen Forschungsstand in der empirischen Migrations- und Integrationsforschung ergeben sich daraus interessante Ansätze, die in dieser Arbeit weiterverfolgt werden sollen. Zum einen ermöglicht das Denken in Relationen, die bisherigen Theorien zu integrieren und ggf. zu modifizieren. Darüber hinaus lassen sich die machttheoretischen Erwägungen Bourdieus, in denen Hierarchien zwischen Nationen und Gruppen beschrieben werden, auf die Themenbereiche Migration und Integration übertragen. Nach diesem Ansatz verfügen nicht alle Migranten(-gruppen) über die gleichen Integrationschancen, sondern sind mit unterschiedlichen »sozialen Handicaps« ihrer Herkunft belastet (Bourdieu 2010 [1997], S. 275 f.). Diese wirken bereits, bevor sie überhaupt migriert sind.
Migration kann aber nicht nur anhand der Migranten beschrieben werden. Auch die Ursprungsgesellschaft wird durch die Migration beeinflusst und trägt zur Klassifizierung der Migranten bei. Bourdieu beschreibt Gesellschaften über eine mehrdimensionale gesellschaftliche Hierarchie, die er als sozialen Raum bezeichnet. Der soziale Raum stellt dabei die gesellschaftliche Struktur dar, die sich aus der für eine Gesellschaft relevanten Kapitalzusammensetzung ergibt. In westlichen Gegenwartsgesellschaften kann dieser vorrangig über das ökonomische und das kulturelle Kapital beschrieben werden. Der soziale Raum stellt dabei nicht nur eine Hierarchie anhand des Besitzes dar. Vielmehr unterscheiden sich je nach sozialräumlicher Position die Lebenslagen der Akteure und Akteursklassen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Art zu leben und zu denken, so dass sich Personengruppen über ihre sozialräumliche(n) Lage(n) beschreiben lassen.
Im Rahmen der Bourdieuschen Theorie kann davon ausgegangen werden, dass Einstellungen zu Migranten und Migration zwischen den unterschiedlichen Positionen des sozialen Raumes variieren. Zudem wird die Legitimitätshierarchie unterschiedlicher Migrantengruppen gesellschaftlich verhandelt und diskursiv hervorgebracht. Die sozialräumlichen Lagen strukturieren diesen Diskurs und die mit ihnen verbundenen unterschiedlichen (unbewussten) Interessen. So könnte es z.B. sein, dass sich Personen der oberen Mittelschicht für eine liberale Migrationspolitik einsetzen, wobei die Gruppe der Spitzenverdiener konservativere Ansichten vertritt. Die Theorie des sozialen Raumes ermöglicht es, die Eigenheiten von spezifischen Gruppen bei der Analyse zu berücksichtigen und dabei Zusammenhänge von sehr unterschiedlicher Gestalt sowie die Dialektik zwischen unterschiedlichen Merkmalen abzubilden.
Neben diesen theoretischen Erwägungen fußen die Arbeiten Pierre Bourdieus auf einem umfassenden empirischen Methodenkonzept. Im Rahmen des von ihm postulierten Methodenpluralismus lassen sich zahlreiche methodische Zugänge aufzeigen, die in der Lage sind, das relationale Gesellschaftsgefüge und die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Entitäten empirisch zu erfassen und zu beschreiben. Eine herausgestellte Bedeutung kommt dabei der (multiplen) Korrespondenzanalyse zu, die nach Bourdieus Auffassung die soziale Realität in besonderem Maße widerzugeben vermag (Bourdieu und Wacquant 2006 [1992], S. 125 f.; siehe auch: Bourdieu und Krais 1991, S. 277). Sie ermöglicht es, analytisch einen sozialen Raum zu konstruieren und die Beziehungen unterschiedlicher Variablen(-ausprägungen) oder von Akteuren und Akteursklassen sozialräumlich darzustellen. Das Verfahren trägt damit dem Grundgedanken der Relationalität in besonderer Weise Rechnung.
Diese kurzen Überlegungen offenbaren, dass die Theorie des sozialen Raumes nach Pierre Bourdieu sowohl theoretisch als auch methodisch einen fruchtbaren Beitrag zur Analyse von Migrations- und Integrationsmechanismen leisten kann. Umso bemerkenswerter erscheint es,...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Arbeitsmarkt • Bildung • Chancen • Demokratie • Habitus • Herrschaft • Kölner Flüchtlings-Studien • Macht • Migrationspolitik • Vorurteile |
ISBN-10 | 3-593-45769-5 / 3593457695 |
ISBN-13 | 978-3-593-45769-7 / 9783593457697 |
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