Die kürzeste Weltgeschichte der Unwissenheit -  Peter Burke

Die kürzeste Weltgeschichte der Unwissenheit (eBook)

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2024 | 1. Auflage
250 Seiten
FinanzBuch Verlag
978-3-98609-458-4 (ISBN)
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Im Laufe der Geschichte hat sich jede Epoche für klüger gehalten als die vorherige. Die Humanisten der Renaissance betrachteten das Mittelalter als eine Ära der Finsternis, die Aufklärer versuchten, den Aberglauben mit der Vernunft zu besiegen, und in der heutigen hypervernetzten Welt sind scheinbar unbegrenzte Informationen auf Abruf verfügbar. Aber macht uns das am Ende wirklich klug? Und was ist mit dem Wissen, das im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist? Sind wir wirklich klüger oder zumindest weniger unwissend als unsere Vorfahren? In diesem höchst originellen Buch untersucht Peter Burke die lange Geschichte der Unwissenheit der Menschheit in Religion und Wissenschaft, Krieg und Politik, Wirtschaft und Katastrophen. Burke enthüllt bemerkenswerte Geschichten über die vielen Formen der Unwissenheit - echt oder vorgetäuscht, bewusst oder unbewusst -, von den eigensinnigen Politikern, die 1919 die Grenzen Europas neu zogen, bis hin zu Whistleblowing und der Leugnung des Klimawandels. Das Ergebnis ist eine kurzweilige und lebendige Erkundung des menschlichen Wissens über die Jahrhunderte hinweg und der Bedeutung, seine Grenzen zu erkennen.

Peter Burke ist emeritierter Professor für Kulturgeschichte an der Universität von Cambridge. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, darunter »Giganten der Gelehrsamkeit« und »Die Explosion des Wissens«.

Peter Burke ist emeritierter Professor für Kulturgeschichte an der Universität von Cambridge. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, darunter »Giganten der Gelehrsamkeit« und »Die Explosion des Wissens«.

Kapitel 1


Was ist Unwissenheit?


Unwissenheit wird von der Gesellschaft geschaffen, ebenso wie Wissen.

Michael Smithson

Das Vorhaben, eine Geschichte der Unwissenheit zu schreiben, klingt fast so seltsam wie Flauberts Wunsch, ein Buch über nichts zu schreiben, un livre sur rien, »ein Buch, das von nichts Äußerlichem abhängt … ein Buch, das so gut wie keinen Gegenstand hätte oder in dem der Gegenstand zumindest so gut wie unsichtbar wäre«, anders ausgedrückt ein Versuch in reiner Form.1 Es ist nur angemessen, dass Flaubert dann nichts über nichts schrieb. Im Gegensatz dazu ist über Unwissenheit viel geschrieben worden, meist negativ. Es gibt eine lange Tradition, Unwissenheit aus verschiedenen Ursachen und Gründen anzuprangern.

Anprangerung der Unwissenheit


Im Arabischen heißt die vorislamische Epoche das »Zeitalter der Unwissenheit« (al-Jahiliyya). In der Renaissance bezeichneten die Humanisten das von ihnen erstmals als solches abgegrenzte Mittelalter als dunkles Zeitalter. Im 17. Jahrhundert nannte Lord Clarendon, der Historiker des englischen Bürgerkrieges, die Kirchenväter »helle Lichter, die in sehr dunklen Zeiten aufschienen, Zeiten voller Barbarei und Unwissenheit«.2 In der Aufklärung wurde Unwissenheit als Stütze des Despotismus, Fanatismus und Aberglaubens angeführt, die in einem Zeitalter des Wissens und der Vernunft allesamt hinweggefegt würden. George Washington meinte zum Beispiel, »die Fundamente unseres Reiches« seien »nicht im düsteren Zeitalter der Unwissenheit und des Aberglaubens gelegt worden«.3

Solche Ansichten bleiben auch viel später geläufig. Der Begriff al-Jahiliyya wird zum Beispiel von radikalen Moslems wie dem ägyptischen Intellektuellen Sayyid Qutb, der besonders die USA aufs Korn nimmt, auch auf jüngere Epochen angewandt.4 Unwissenheit war (neben Armut, Krankheit, Elend und Faulheit) einer der »fünf Riesen«, zu deren Niederwerfung der liberale britische Politiker William Beveridge aufrief. Beveridges Bericht diente 1945 der Labour-Regierung als Grundlage zur Errichtung des britischen Wohlfahrtsstaats.5

Erst kürzlich hat Charles Simic in den USA geschrieben, »weitverbreitete Unwissenheit, die an Schwachsinn grenzt, ist unser neues Ideal als Nation«, während der Wissenschaftshistoriker Robert Proctor unsere Gegenwart zum »goldenen Zeitalter der Unwissenheit« erklärt.6 Auch wenn wir uns natürlich bewusst sind, dass wir viel mehr wissen als frühere Generationen, sind wir uns sehr viel weniger dessen bewusst, was sie noch wussten, wir aber nicht mehr. Beispiele für diesen Wissensverlust, auf die wir noch zurückkommen, sind etwa die Kenntnis der griechischen und römischen Klassiker oder die Vertrautheit mit der Natur und ihren Pflanzen und Tieren.

Früher war ein Hauptgrund für die Unwissenheit vieler Menschen, dass in ihrer Gesellschaft zu wenig Information frei verfügbar war. Manches Wissen war »gefährlich«, wie es der Historiker Martin Mulsow nennt, und nur handschriftlich fixiert und weggeschlossen, weil die Obrigkeiten in Gestalt von Staat und Kirche es ablehnten.7 Heute ist dagegen paradoxerweise der Überfluss an Informationen zum Problem geworden, die »Informationsflut«. Der Mensch wird mit Informationen »überschwemmt« und kann oft nicht mehr heraussuchen, was er möchte oder braucht; er erlebt ein »Filterversagen«. So kommt es, dass unser sogenanntes Informationszeitalter »die Verbreitung von Unwissenheit ebenso sehr erleichtert wie die des Wissens«.8

Lob der Unwissenheit


Als Gegenstück zur Tradition, die Unwissenheit anzuprangern, finden wir auch Lob: Eine kleine Anzahl Denker und Schriftsteller, die darzulegen wagt, dass Wissensbegeisterung (Epistemophilie) auch ihre Gefahren habe, während Unwissenheit ein Segen sein könne oder zumindest Vorteile biete. Manche solcher Autoren, besonders im Italien der Renaissance, meinten das allerdings nicht ernst und lobten nicht nur die Unwissenheit, sondern auch Glatzköpfigkeit, Feigen, Fliegen, Würstchen und Disteln, um ihren Einfallsreichtum und ihr rhetorisches Geschick vorzuführen, indem sie die antike Tradition der Scheinlobrede wiederbelebten. Einige meinten es jedoch ernst. Seit dem heiligen Augustin gibt es eine lange Tradition, die »eitle« Wissbegier kritisiert und damit impliziert, dass eine gewisse Unwissenheit die weisere Haltung sei. Die Geistlichkeit der Frühen Neuzeit, ob katholisch oder protestantisch, lehnte Neugierde gewöhnlich ab, »als eine Sünde, gewöhnlich eine lässliche, mitunter aber auch eine Todsünde«.9 Eine Todsünde ist die Wissbegierde jedenfalls in der Faustlegende, die in Theaterstücken, Opern und Romanen verbreitet wurde.10 Als Kant mit Sapere aude (»Wage zu wissen«) den Wahlspruch der Aufklärung prägte, wandte er sich damit gegen die biblische Empfehlung Noli altum sapere sed time (»Strebe nicht Höheres zu erfahren, sondern fürchte es«), vom englischen Dichter Alexander Pope als »wage es nicht, Gott zu überprüfen« umschrieben.11

Manche der weltlichen Argumente ergänzten die religiösen. Michel de Montaigne hielt Unwissenheit für ein besseres Glücksrezept als Wissbegierde. Der Philosoph und Naturforscher Henry Thoreau wollte eine Gesellschaft für die Verbreitung Nützlichen Unwissens als Gegenstück zur tatsächlich bestehenden Gesellschaft für die Verbreitung Nützlichen Wissens gründen.12 Der Romancier und Botaniker Bernardin de Saint-Pierre pries in seinen Naturstudien (1784) die Unwissenheit, weil sie das Vorstellungsvermögen anrege.13 Die französische Feministin Olympe de Gouges schwamm gegen den Strom von Geschichtsbüchern, die während der Aufklärung herauskamen, und meinte in Le Bonheur primitif de l'homme ou les Rêveries patriotiques (1789), »die ersten Menschen« seien glücklich gewesen, weil sie unwissend waren, während zu ihrer eigenen Zeit »der Mensch sein Wissen zu weit ausgedehnt hat«.14

Was die Rechtsprechung angeht, so wird die Göttin Justitia seit der Renaissance oft mit verbundenen Augen dargestellt, um Unwissenheit im Sinn von Unvoreingenommenheit und Unbefangenheit zu symbolisieren.15 Im angelsächsischen Prozessrecht werden die Geschworenen, um sie in diesem Sinn unwissend zu halten, mitunter von der Öffentlichkeit isoliert. Debatten über die sogenannte »tugendhafte Unwissenheit« werden häufiger. Der Philosoph John Rawls sprach sich für einen »Schleier der Unwissenheit« aus, worunter er versteht, man solle für Hautfarbe, soziale Schicht, Volkszugehörigkeit und Geschlecht blind werden, um den einzelnen Menschen als moralisch allen anderen gleichwertig zu sehen.16

»Tugendhafte« Unwissenheit ist auch als Begriff für die Weigerung gebraucht worden, zum Beispiel an der Entwicklung von Atomwaffen zu forschen oder wenigstens für die Weigerung, solche Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Soziologen und Anthropologen weisen auf die positiven Wirkungen weiterer Arten der Unwissenheit hin und sprechen von ihren diversen »Sozialfunktionen« oder »Sozialregimes«. Geistliche sind gehalten, das Beichtgeheimnis zu wahren, Ärzte die Schweigepflicht. Geheimes Wahlrecht schützt die Demokratie. Kollegenrezensionen, sogenannte peer reviews, bedeuten, dass wissenschaftliche Aufsätze vor der Veröffentlichung anonym und unparteiisch geprüft werden können, ohne dass der Rezensent sich dem Kollegen verpflichtet glauben muss, dessen Arbeit er beurteilt. Regierungen können in diplomatischen Geheimverhandlungen Zugeständnisse wagen, die im gleißenden Scheinwerferlicht der Medien unmöglich wären. Information ist nicht nur nützlich, sondern kann auch riskant sein.17

Ende des 19. Jahrhunderts wurde Unwissenheit als Heilmittel für das immer drängendere Problem des überhandnehmenden Wissens genannt. Der US-amerikanische Neurologe George Beard zum Beispiel meint, Unwissenheit schenke »nicht bloß Freude, sondern auch Macht« und sei ein Mittel gegen »Nervosität«.18 Manche Business- und Management-Ratgeber halten Unwissenheit für ein »Aktivum« oder einen »Erfolgsfaktor« im Geschäftsleben.

Anthony Tjan beispielsweise rät, »die eigene Unwissenheit anzunehmen«, weil Unternehmer, die sich »ihrer eigenen Grenzen und der äußerlichen Umwelt« nicht bewusst seien, »unbeschränkt Ideen haben können«. Später erklärt er vorsichtiger: »Entscheidend ist, die kritischen Augenblicke im Fortschritt eines Unternehmens zu erkennen, wenn ein völlig unbefangenes Vorgehen von Vorteil ist.« Der Ausdruck »schöpferische Unwissenheit« setzt voraus, dass zu viel Wissen Neuerungen verhindert, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch auf anderen Gebieten.19 Der Ausdruck »schöpferische Unwissenheit« wurde in einem Artikel des New Yorker für die Einstellung geprägt, die Beardsley Ruml, Leiter einer großen Forschungsstiftung, davon abhielt, »die Sperr- und Verbotsschilder in der Welt der Ideen zu sehen«, Warnungen, die der fachübergreifenden Forschung, die er fördern wollte, im Weg standen. Henry Ford soll, mehr auf die Praxis bezogen, gesagt haben: »Ich suche haufenweise Leute, die eine unerschöpfliche Fähigkeit haben, nicht zu wissen, was nicht gelingen kann.«20

Die Behauptung, Unwissenheit habe ihre Vorteile, führt zu Erkenntnissen, zumindest, wenn wir daran denken zu fragen, wem sie Vorteile bringt. Die im vorliegenden Buch angeführten Beispiele legen allerdings nahe, dass die nachteiligen Folgen der Unwissenheit gewöhnlich die Vorteile überwiegen; deshalb widme ich das Buch auch den Lehrern, die versuchen, der Unwissenheit ihrer Schüler abzuhelfen. Der Wunsch, selbst nicht zu erfahren, was einen...

Erscheint lt. Verlag 17.3.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufklärung • Geschichte • Gesellschaft • Grenzen des Wissens • Humanismus • Ignoranz • Information • Kultur • Mittelalter • Nichtwissen • Politik • Religion • Renaissance • Vernunft • Wissen • Wissenschaft
ISBN-10 3-98609-458-X / 398609458X
ISBN-13 978-3-98609-458-4 / 9783986094584
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