Wenn Lehrer Grenzen überschreiten (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01742-9 (ISBN)
Britta Rotsch, geboren 1987, ist eine deutsche Journalistin und Autorin in Berlin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Familie. Sie absolvierte die Reportageschule Reutlingen und studierte vorher Soziologie, Psychologie und Gender Studies in Deutschland und Österreich. Von Wien aus arbeitete sie sieben Jahre lang als freie Journalistin für den D-A-CH-Raum, u. a. für Deutschlandradio, Radio Ö1, Zeit, NZZ und FAS. Nebenbei arbeitet sie immer wieder ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen und auf Filmfestivals.
Britta Rotsch, geboren 1987, ist eine deutsche Journalistin und Autorin in Berlin. Ihr Fokus liegt dabei auf gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, Tabuthemen, Feminismus und Familie. Sie absolvierte die Reportageschule Reutlingen und studierte vorher Soziologie, Psychologie und Gender Studies in Deutschland und Österreich. Von Wien aus arbeitete sie sieben Jahre lang als freie Journalistin für den D-A-CH-Raum, u. a. für Deutschlandradio, Radio Ö1, Zeit, NZZ und FAS. Nebenbei arbeitet sie immer wieder ehrenamtlich in sozialen Einrichtungen und auf Filmfestivals.
Prolog
Erzähle ich Menschen meine Geschichte, fange ich meistens so an: Mein Lehrer schrieb mir über ein Jahrzehnt Liebesbriefe per Mail. Er machte mir Komplimente, teilte sein Wissen mit mir und machte mich von Mail zu Mail emotional abhängiger von ihm. Er schenkte mir Bücher zu Weihnachten und zum Geburtstag. Das größte Geschenk, das er mir machte, wollte ich nicht, doch ich konnte es damals weder annehmen noch ablehnen: seine Liebe.
Ich bin aufgeregt, als ich zwischen alten Notizbüchern einen blauen Briefumschlag aus dem Regal ziehe. Er ist 14 Jahre alt, so lange ist es her, dass ich Abitur gemacht habe und mir mein Deutschlehrer diesen Brief zum Schulabschluss schrieb. Und so lange habe ich ihn aufgehoben. Jetzt frage ich mich: Warum eigentlich?
Ich werde deine blauen Augen vermissen (…) sei es auch erst in zehn Jahren: Ich möchte mit dir auf deinem Hausberg spazieren gehen (…) und ich hoffe, dass du mir irgendwann glauben kannst, dass ich dich liebe …
Ich falte den Brief zusammen, stecke ihn zurück in den Umschlag und starre minutenlang ins Leere. Meine zwei letzten Schuljahre ziehen an mir vorbei.
Noch heute spüre ich seinen sich an meinen anschmiegenden Fuß, als wir mit dem Deutschkurs einen Kaffee trinken gehen. Natürlich setzt er sich neben mich. Und auf einmal hebt er meinen Fuß etwas an. Ich versteinere und bin völlig überfordert. Mein Blick sucht den meiner Schulfreundin Hanna, und ich signalisiere, sie solle unter den Tisch schauen.
«Mädchen gehen immer zusammen zum Klo», sagt sie und zieht mich mit. Er grinst.
Ich bin zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt. Wolfgang Schubert ist mein Deutschlehrer und kennt mich erst seit vier Monaten. Er wirkt auf mich manchmal wie ein kleines Kind, das frech grinst und im Körper eines alten Mannes gefangen ist. Gleichzeitig ist da etwas Unheimliches, ja, etwas Ekelhaftes, das ihn umgibt. Habe ich eine psychologische oder philosophische Frage, schiebt er gerne Zusatzstoff durch den Klassensaal. Er mag mich und will mich fördern, das merke ich.
In meinem E-Mail-Postfach gibt es einen Ordner. Darin befinden sich über zwölf Jahre angesammelte Mails von meinem Lehrer. Warum ich diesen Ordner angelegt habe? Aus Vorsicht, als Beweis. Mir war die ganze Sache von Anfang an nicht geheuer, und ich wollte mich schützen. Das war damals die einzige Möglichkeit, die ich sah. Doch das geschah mehr unterbewusst, als dass mir klar war, was ich mit den archivierten Mails anfangen sollte.
Ich klicke auf das kleine File-Symbol. Betreffzeilen fliegen mir entgegen: «Kaffee-Date», «Traum», «Sternstunde».
Nun, Sternstunde, das ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen, aber irgendwie fand ich unser zweites (!) Telefongespräch gut, ja, wirklich. Habe ich dich denn sehr zugetextet??
14 Jahre später starre ich auf meinen Laptop und in all die E-Mails, die ich von ihm archiviert habe. Es fühlt sich nicht an wie meine Vergangenheit, sondern mehr wie eine Geschichte, die einmal erzählt wurde. Aber es ist passiert, und deshalb fühlt es sich eigenartig an. Ich starre in ein Leben, das mir fremd erscheint, und frage mich: Wie konnte das alles überhaupt geschehen?
Ich erzähle in diesem Buch eine Geschichte aus meiner Schulzeit. Aber es könnte auch die Geschichte deiner Tochter oder deiner Nachbarin sein. Von anderen Schüler:innen auf der ganzen Welt. Es sind Geschichten über Nähe und Distanz, über Grenzen, die Lehrer:innen überschreiten, über Manipulation und Machtmissbrauch. Denn dass Lehrer:innen solche Fehler machen und die Grenzen ihrer Schüler:innen nicht achten, scheint häufiger der Fall zu sein, als manche sich zu glauben trauen. Immer wieder höre und lese ich von Überschreitungen in der Schule. In diesem Buch kommen Betroffene zu Wort aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, die einen Machtmissbrauch durch einen Lehrer und/oder sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Ich bin kein sogenannter Einzelfall. Wenn ich das Erlebte teile, höre ich oft, dass diese Person entweder jemanden kennt, die Ähnliches erlebt hat, oder sie gestehen mir, selbst eine ähnliche Erfahrung gemacht zu haben. Als meine Shiatsumasseurin mir im Frühjahr 2023 vor der Massage Tee einschenkt und ich ihr dabei wie im Beichtstuhl von diesem Buchprojekt erzähle, stoppt sie, stellt die Kanne beiseite und lehnt sich an den Tisch. Sie setzt an und schüttelt dabei immer wieder den Kopf, als könne sie selbst kaum glauben, was sie mir da erzählt. Ihre Tochter, 7. Klasse, kam immer wieder mit komischen Anekdoten aus der Schule zu ihr. Die Kunstlehrerin verlangte von den Kindern, sie sollten ein Bild von sich malen, wie sie nackt unter der Dusche aussehen. Ein anderes Mal gestand sie den Kindern, Sex ohne Kondom sei so viel besser. Meine Friseurin verzieht dabei ihr Gesicht und fragt mich: «Das ist doch schon eigenartig, oder?»
Lehrpersonen haben einen Bildungsauftrag. Manche halten sich aber nicht daran. Studien und verlässliche Zahlen gibt es dazu aber bislang kaum. Einer der Gründe dafür ist die Frage: Wo genau beginnt Missbrauch durch Lehrkräfte, und wo endet er? Ist es missbräuchlich, wenn körperlich kein Übergriff stattfand? Wo verläuft die Grenze zwischen hilfsbereitem Mentor und manipulativen Annäherungsversuchen? Fragen, die sich Betroffene im Nachhinein stellen.
Aber auch die Tatsache, dass mehr Frauen von dem Machtmissbrauch betroffen sind, führt wohl dazu, dass eine männlich dominierte Wissenschaft kein Interesse hat, genauer hinzuschauen.
Deshalb ist es wichtig, über diese Dinge zu sprechen. In meinem Fall werde ich von einem emotional-manipulativen Machtmissbrauch sprechen. Zwar habe ich selbst diese Erfahrung gemacht, sehe mich jedoch in erster Linie als Journalistin, die sich mit diesem Thema auf professioneller Ebene auseinandersetzt. Das Geschehene ordne ich durch Expert:innen und andere Betroffene ein und möchte durch dieses Buch aufzeigen, dass es sich beim Thema Machtmissbrauch in der Schule um keine Einzelfälle handelt, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Systemversagen.
Mein Deutschlehrer hat mich während der Oberstufenzeit emotional manipuliert, und das so lange, bis ich ihm auf eine gewisse Weise «verfallen» war und auf seine Avancen teilweise einging. Er sah etwas in mir, das ich selbst noch nicht erkennen konnte und das mir niemand außer ihm bisher gezeigt hatte. Er sah mich und fand mich gut, so wie ich war. Das Problem mit der Anerkennung dabei ist, dass wir sie uns als Jugendliche oft (noch) nicht alleine geben können. Wir brauchen in dieser Phase jemanden, der oder die sie uns schenkt, und das führt manchmal dazu, dass wir uns von einem Menschen emotional abhängig machen. Und wie es mit jeder anderen Droge auch ist: Wir werden süchtig nach diesem Gefühl und diesem Menschen. Endlich gesehen und gebraucht zu werden. So war es zumindest bei mir. Ich war 18 Jahre alt, und meine Identität stand noch auf sehr unsicheren Beinen.
In den letzten Jahren dachte ich immer öfter darüber nach, was das eigentlich war mit meinem Lehrer. 2022 machte ich ein Feature dazu im Deutschlandfunk, und das bestärkte mich darin, dem Thema mehr Raum zu geben. Denn seit der Veröffentlichung bekomme ich in regelmäßigen Abständen E-Mails zugeschickt, es erreichen mich Nachrichten auf Social Media. Mir schreiben Frauen, die vor Jahrzehnten Ähnliches erlebt haben oder auch erst letztes Jahr. Sie erzählen, wie sie dieser Machtmissbrauch bis heute prägt. Bei manchen ist die Sachlage ganz klar, sie waren minderjährig und haben sexuelle Gewalt erlebt. Bei manchen ist es schwammiger und juristisch schwieriger zu ahnden, wie auch in meinem Fall. Es ist ein Graubereich, in dem die Grenzen oft fließend sind: Es gibt Geschichten von Mädchen, die für einen Lehrer schwärmen, und dieser flirtet mit ihnen. Es sind Geschichten, in denen aus der Sympathie zwischen Lehrkraft und Schüler:in plötzlich ein Kuss werden soll, und es gibt Fälle wie mich, in denen die Annäherung komplett vom Lehrer ausgeht und in denen auf der körperlichen Ebene nie eine wirkliche Berührung stattfindet. Wo, frage ich mich, beginnt also der Missbrauch?
Jede Betroffene, mit der ich sprach, willigte ein, ihre Geschichte zu erzählen, unter der Voraussetzung, das komplett anonym zu tun. Die Fallbeispiele verteilen sich über das ganze Buch, um aufzuzeigen, wie vielfältig diese Geschichten sind. Alle Namen sind geändert und weitere Details so angepasst worden, dass man keine Rückschlüsse ziehen kann, um wen es sich handelt – zum Schutz aller Beteiligten. Die Gründe dafür sind bezeichnend. Einerseits geht es natürlich darum, sich zu schützen. Aber es geht eben auch darum, dass viele Betroffene Angst haben, weil sie immer noch abhängig sind von der Lehrperson. Und weil sie nicht wissen, ob ihnen geglaubt wird und sie «irgendwie mitgemacht» haben.
Diese Angst lässt die Opfer von Missbrauch verstummen und Täter:innen weiter im Kontext Schule arbeiten und missbräuchlich handeln. Die Mädchen und jungen Frauen sind zum Teil stark traumatisiert und fürs Leben gezeichnet, während die Lehrer unbestraft davonkommen. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus und über Betroffene, die scheinbar immer noch weniger gesehen werden und ihnen weniger Glauben geschenkt wird, als denjenigen, die in der Hierarchie weiter oben stehen?
Dahinter steckt auch die Solidarität von Lehrer:innen untereinander und Angst hinter dem Systemversagen: Was nicht sein darf, gibt es eben nicht. Es liegt nicht in der Verantwortung von Betroffenen, Belästigung aller Formen zu beenden, indem sie ihr Schweigen...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abhängigkeit • bücher über psychologie • Emotionale Erpressung • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Kultusministerium • Lehrer • Lehrerausbildung • Machtmissbrauch • Missbrauch • Missbrauchsopfer • Mobbing an Schulen • psychischer Druck • Psychologie • Psychologiebuch • psychologie literatur • Schule • Schülerinnen • Schüler-Lehrer-Verhältnis • Sexueller Missbrauch |
ISBN-10 | 3-644-01742-5 / 3644017425 |
ISBN-13 | 978-3-644-01742-9 / 9783644017429 |
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