Die russische Tragödie (eBook)
320 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31712-6 (ISBN)
Vladimir Esipov blickt auf die letzten 30 Jahre der Geschichte seiner Heimat und erklärt manche Verhaltensmuster, die das westliche Publikum ratlos machen. Mit seinem Insider-Wissen analysiert er die russische Gesellschaft in einem Versuch, dem europäischen Publikum ein Land und seine Leute doch noch zu erklären, dessen Führung einen Kreuzzug nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den ganzen westlichen Lebensstil begann.
- Endlich verstehen, wie Russland funktioniert
- Der ehemalige Chefredakteur des GEO Magazins in Russland erklärt seine Heimat
- Zur Präsidentenwahl 2024: Wie hat sich Russland in den letzten drei Jahrzehnten seit dem Fall der Sowjetunion entwickelt?
Vladimir Esipov, geboren 1974 in St. Petersburg, studierte dort Journalismus und absolvierte eine Ausbildung an der Hamburger Journalistenschule. Er war Chefredakteur der russischen Lizenzausgabe des GEO Magazins, bevor der deutsche Verlag wegen eines neuen russischen Gesetzes das Land verlassen musste. Heute lebt er in Berlin und arbeitet als Redakteur der Deutschen Welle.
Vorwort. Warum dieses Buch
Würde man ein Symbol für Russland im Jahr 2024 suchen, wäre der Betonklotz in der Friedrichstraße, Berlin-Mitte, vielleicht ein guter Kandidat.
Sieben Stockwerke hoch, erbaut 1984, als die sowjetischen Truppen im Osten Deutschlands standen und Instagram noch nicht erfunden war, irgendwie noch pompös und doch optisch etwas aus der Zeit gefallen. Hinter leicht verstaubten Fensterscheiben türmen sich Topfpflanzen: »Haus der russischen Kultur und Wissenschaft« braucht fast schon keine Leuchtreklame über dem Eingang, man ahnt schon, wem diese Immobilie gehört. Einem Land, das sich so ähnlich in der Welt positioniert, wie dieses Haus in Berlin: groß, auffällig, an mancher Stelle verstaubt, ab und an um guten Eindruck bemüht; zumindest war das bis 24. Februar 2022 so, danach war Reputation nicht mehr so wichtig. Um das Gebäude in der Friedrichstraße im Zentrum Berlins tobt die Globalisierung. Menschen aller Geschlechter, Nationalitäten, sexuellen Präferenzen, politischen Auffassungen und sonstigen Neigungen und Identitäten lachen, shoppen, flanieren, küssen sich. Politik, Ideologie, Religion – das alles scheint nur noch eine untergeordnete Rolle zu spielen in der bunten Welt des fröhlichen Geldausgebens. Mittendrin in diesem bunten Treiben steht das »Russische Haus«. Es ist … Es ist einfach da. Seine Türen stehen offen, alle seien willkommen, heißt es, aber kaum jemand traut sich rein.
Die Schaufenster im Erdgeschoss sind leer, die Website lässt sich nicht immer aufrufen, die Bankkonten sind angeblich gesperrt, mutmaßlich im Rahmen der EU-Sanktionen. Nachdem die russischen Truppen am frühen Morgen des 24. Februar 2022 in die Ukraine vorgerückt sind, wurde Russland zum Paria in Europa. Alles Russische ist politisch geworden, inklusive der russischen Kultur, der russischen Sprache und des Sports. Selbst die kleinen Bars in den Berliner Ausgehvierteln, die sich vorher noch als »russisch« positionierten, weil es hip war, nannten sich plötzlich »osteuropäisch«, denn sicher ist sicher. Offensichtlich nicht in der Lage, auf das Kriegsgeschehen in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen, entschied sich die europäische Öffentlichkeit für den Boykott des Russischen als einzigen Weg, ihren Unmut und Protest auszudrücken.
Das russische Haus steht da. Die Berliner Politik hadert mit der Frage, ob man mitten in der Stadt dieses »Bollwerk der Kreml-Propaganda«, wie es manche Medien bezeichnen, tolerieren sollte. Einige Lokalzeitungen schreiben von einem angeblichen »Spionagenest« mitten in der Hauptstadt, ukrainische Aktivisten protestieren vor dem Eingang. Ein Haus, stellvertretend für ein Land, das in Deutschland Empörung und eine diffuse Angst verbreitet. Im Fernsehen laufen Reportagen, in denen besorgte Bundestagsabgeordnete in ihren Büros auf dem Boulevard Unter den Linden berichten, dass sie befürchten, von der russischen Botschaft abgehört zu werden. »Berlin, Hauptstadt der Spione«, betitelt das Deutsche Spionage-Museum am Potsdamer Platz seine Ausstellung. Die Angst vor Russland ist zurück. Wer sich aber ins Innere des Russischen Hauses traut, findet – was sonst – ein Russland in klein. Inklusive eines Metallrahmens am Eingang, wie an einem Flughafen – für Deutschland eher ungewöhnlich, für Russland eine der harmloseren Folgen einer Terrorwelle, die das Land zu Beginn der 2000er-Jahre erschütterte. Der Rahmen blinkt und piepst, der gelangweilte Sicherheitsmann winkt durch. Alles wie immer. Drinnen herrscht eine fast schon gähnende Leere, es gibt fünf Ausstellungen auf zwei Etagen, aber kaum Besucher. Russland ist nicht mehr en vogue. Die ganze Annäherung ist passe, die unendlichen »Dialoge« und »Foren« machen keinen Sinn mehr, die »Wandel durch Handel«-Beschwörungen entpuppten sich als ein selbstbetrügerisches Feigenblatt der deutschen Wirtschaft, als ein Alibi für Milliardeninvestitionen in ein Land, das westliches Geld wollte, aber nicht die Idee der Freiheit.
Frust, Ärger, Ratlosigkeit, Verbitterung, Enttäuschung herrschen auf beiden Seiten, Grund dafür ist die russische »Militäroperation« im Nachbarland mit Abertausenden Toten. Es gibt inzwischen mehr als zehn Sanktionspakete, es gibt keine Direktflüge zwischen Berlin und Moskau, zwischen der EU und Russland, und die Ostsee-Pipeline Nord Stream, ein Milliardenprojekt, ist durch einen gezielten Anschlag zerstört. Die heile Welt der demonstrativen deutsch-russischen Zuneigung, wie wir sie bis 24. Februar 2022 kannten, gibt es nicht mehr. Doch den Anwesenden im »Russischen Haus« scheint es herzlich egal zu sein. Das Land hat sich längst von dem Bedürfnis befreit, von der Außenwelt gemocht zu werden, es hat sich emanzipiert von dem Wunsch, jemandem in Europa zu gefallen. »Wir sind so, wie wir sind«, heißt es in Moskau. Punkt. Oder, wie eine Moskauer Celebrity-Bloggerin es bissig formulierte: »Mir ist völlig egal, was ihr über mich denkt. Denn ich denke an euch gar nicht.« Noch vor fünf Jahren war alles ganz anders. Das Haus in der Friedrichstraße präsentierte Russland als Gastgeberland der Fußball-WM: weltoffen, freundlich, modern und irgendwie hip. Der Direktor hatte große Pläne. Er wollte, selbstverständlich im Auftrag der russischen Regierung, der Welt ein anderes, modernes, nicht mehr sowjetisches Russland zeigen. Ein Land, vor dem man keine Angst haben sollte. Ein Land, das nicht mehr mit Balalaika-Musik assoziiert würde, nicht mit Armee, Armut, Alkoholismus und aggressiver Außenpolitik.
Fünf Jahre später sind die Konten des Hauses angeblich gesperrt, es soll ein Ermittlungsverfahren wegen des mutmaßlichen Sanktionsbruches gegeben haben, berichtet die Berliner Presse. Später heißt es, das Verfahren sei eingestellt. Offiziell mag sich niemand dazu äußern – wozu auch. Im zweiten Jahr des Ukraine-Krieges gelten russische Musik, Filme und Literatur zunehmend nicht mehr nur als unpolitische Kunst, sondern als Instrumente der Ablenkung von dem Blutbad im Nachbarland. Man stellt die Lautstärke höher, damit die Schreie aus der Nachbarwohnung nicht gehört werden. Als aus ihrer Sicht »symmetrische« Gegenmaßnahme sperren russische Behörden im März 2023 die Konten des Goethe-Instituts und reduzieren die Zahl der Mitarbeiter der deutschen Organisationen in Russland. Berliner Vereine, die sich seit Jahrzehnten für die deutsch-russische »Völkerverständigung« einsetzen, stürzen in eine schwere Sinnkrise, ihre ganzen Alumni-Netzwerke brechen zusammen, weil man miteinander nicht mehr sprechen will.
In deutsch-russischen Beziehungen brennen die letzten Brücken. Ein Plan für die Befreiung aus der Spirale der Beleidigungen, Anschuldigungen und Beschimpfungen ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Der absurde Krieg ist eine neue Normalität geworden, man hat sich daran gewöhnt, man blendet ihn aus. In einer Welt der optischen Reizüberflutung, wo die Aufmerksamkeitsspanne bei drei Sekunden liegt, ist es auch unmöglich, von jemandem zu erwarten, dass er oder sie mehr als ein Jahr an dasselbe Ereignis denkt, egal wie schrecklich es sein mag. Man gewöhnt sich nun wirklich an alles.
Antikriegsdemos sind nicht mehr in Mode. Wer klebt sich schon gegen die Bombardements von Odessa auf die Straße? Eine wahrscheinliche »Klima-Katastrophe« in der fernen Zukunft ist ein sympathischerer Feind als ein echter Krieg in der Gegenwart. Die Russen und die Ukrainer können sich gegenseitig abschlachten, die deutsche Großstadtjugend scheint mehr Chancen zu sehen, den Klimawandel zu stoppen als einen Krieg in Europa. Die ursprüngliche Empörung hat sich schnell gelegt, sie wich der hilflosen Wut, es folgten zehn Sanktionspakete und die ernüchternde Erkenntnis der deutschen Außenministerin, dass »Logiken der Demokratien nicht in Autokratien greifen«1 und dass »mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist«. Nun ja. Dass die deutsche Logik in Russland meistens nicht greift, das sage ich meinen lieben Freunden und Kollegen seit meinem ersten Besuch hier vor dreißig Jahren. Dass nach siebzig Jahren Selbstisolation, einer Inflation von über zweitausend Prozent und einem Kollaps der ethischen Normen die Menschen sich etwas merkwürdig benehmen, dürfte auch wenig überraschend sein. Dass man auf Dinge verzichtet, von denen man glaubt, man brauche sie nicht, ist verständlich. Tragischerweise hat Russland auf die Freiheit verzichtet, in der Überzeugung, sie würde nur Stress und keinen Wohlstand bringen. Aus Angst vor Freiheit zog man sich zurück, rief die Geister der Sowjetunion zu Hilfe, in der Hoffnung, dass die Vergangenheit in der Zukunft hilft. Wohlstand wurde wichtiger als Freiheit. Die lustigen Verwandten in dem Nachbarland, die Ukrainer, wollten aber Freiheit. In ihrer Nationalhymne heißt es sogar, sie seien bereit, dafür zu sterben. Sie haben zweimal in zehn Jahren ihre Freiheit so ausgelebt, dass erst eine Wahl wiederholt werden musste und dann ein Präsident aus dem Land flüchtete. Jetzt sterben sie aber wirklich für ihre Freiheit, und es nimmt kein Ende. Die Russen und die Ukrainer, die man kennt, rollen mit den Augen und flüstern immer wieder das Gleiche: Wann ist dieser Horror zu Ende? Egal wie. Einfach zu Ende. Man hat das Gefühl, man sitzt in einem viel zu langen Horrorfilm, möchte nur noch nach Hause und wartet ungeduldig auf das »Happy End«.
Aber: »Wir sind nicht im Kino, es ist kein Film«, kommentierte der estnische Außenminister in einem TV-Interview die unrealistischen Erwartungen der westlichen Öffentlichkeit.2 »Es ist nicht so, dass man nach zweieinhalb Stunden das...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • eBooks • Erklärbuch • Europa • Geschichte • Heimat • Kultur • Kulturgeschichte • Neuerscheinung • Osteuropa • Politik • Putin • Revolution • Russland • Russland verstehen • Sowjetunion • Ukraine Krieg • Veränderung • Völkerverständigung |
ISBN-10 | 3-641-31712-6 / 3641317126 |
ISBN-13 | 978-3-641-31712-6 / 9783641317126 |
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