Bedrohtes Israel (eBook)

Ein Land im Ausnahmezustand

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
Quadriga (Verlag)
978-3-7517-6021-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bedrohtes Israel -  Avi Primor
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Israel befindet sich im Krieg. Der Terrorangriff der radikal-islamischen Hamas ist für Israel die größte Katastrophe der letzten Jahrzehnte und vorläufiger, tragischer Höhepunkt des lange andauernden Konflikts. Die grausamen Anschläge haben über Tausend Zivilistinnen und Zivilisten das Leben gekostet. Schlagartig hat sich mit dem Krieg auch der Blick auf Israel gewandelt. Stand vor kurzer Zeit noch die geplante Justizreform der rechtskonservativen und in Teilen rechtsextremen Regierung im Fokus, und damit die Frage, ob Israel noch ein demokratischer Staat bleiben würde, schwankt die Aufmerksamkeit zwischen den Polen der unbedingten und uneingeschränkten Solidarität für Israel und der kritischen Analyse des weiteren Kriegsverlaufs und seiner Folgen für die palästinensischen Zivilisten.
In seinem Buch spricht Avi Primor über die Kriegsführung von Israel und Hamas, und darüber, wie die Zukunft seiner Heimat aussehen kann. Wird es jemals Frieden in Nahost geben?





<p>Avi Primor, geboren 1935, war von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Er ist Sohn eines niederländischen Emigranten, seine Mutter ging 1932 von Frankfurt nach Tel Aviv. Ihre gesamte Familie wurde während des Holocausts ermordet. Avi Primor leitet heute einen trilateralen Studiengang für israelische, palästinensische und jordanische Studenten an dem von ihm gegründeten Zentrum für europäische Studien am Interdisciplinary Center Herzliya in Israel.</p>

2.


Das seltsamste Land der Welt


Es gibt kein Land auf der Welt, das so seltsam und einzigartig ist wie der Staat Israel, und es gibt und hat auch nie ein so seltsames und besonderes Volk wie das jüdische Volk gegeben.

Am 14. Mai 1948 erklärte der Staat Israel seine Unabhängigkeit. Es handelte sich nicht um einen beliebigen Akt, der auf einer einseitigen Entscheidung, auf selbstsüchtiger Willkür beruhte. Die Juden der britischen Mandatskolonie Palästina stellten ihren Unabhängigkeitskampf gegen die Briten erst nach der UN-Resolution vom 29. November 1947 ein. Diese beendete das britische Mandat und teilte das Gebiet in drei Teile: Ein Teil wurde einem jüdischen Staat zugewiesen, ein ähnlicher Teil einem arabischen Staat, während die Stadt Jerusalem der internationalen Herrschaft unterstellt werden sollte.

Die Juden Palästinas und weitgehend die Juden der ganzen Welt nahmen die Entscheidung der Vereinten Nationen mit beispielloser Freude und mitreißender Begeisterung an, während die arabischen Länder und die dortige Bevölkerung sie strikt ablehnten. Doch sie gaben sich nicht mit verbalem Protest zufrieden, sondern zogen sofort in den Krieg mit dem erklärten Ziel, den dreigliedrigen Bund, den die UN-Versammlung errichten wollte, bereits im Entstehen zu vernichten. Eineinhalb Jahre Krieg endeten mit der Niederlage der Araber. So entstand der jüdische Staat, aber der Krieg gegen ihn endete nicht. Die arabischen Länder stimmten lediglich der Annahme eines Waffenstillstands zu, der naturgemäß vorübergehender Natur war. Sie erkannten den Staat Israel nicht an, einige von ihnen bis heute.

Aber der jüdische Staat entstand und existiert. Und doch ist sein Schicksal einzigartig: Im Gegensatz zu allen Ländern der Welt, die fast automatisch in die UNO aufgenommen wurden, wurde der Staat Israel zunächst nicht Mitglied der Organisation, durch deren Beschluss er gegründet worden war, sondern erst nach einem Jahr erbitterten Kampfes. Die meisten Länder der Welt, nicht nur die arabischen Länder und ihre Verbündeten, erkannten Israel nicht an und stellten sich gegen die Aufnahme Israels in die UNO. Viele Länder, auch im Westen, weigerten sich, irgendwelche Verbindungen mit dem Staat Israel aufzunehmen. Dies geschah nicht nur aus Angst um ihre Beziehungen zur arabischen Welt oder der islamischen Welt insgesamt, sondern auch, weil sie nicht an die Existenzfähigkeit Israels glaubten: Ein winziges Land mit einer Fläche von 20.000 Quadratkilometern, ungefähr so groß wie Hessen, und einer Bevölkerung von nur 650.000 Menschen, was ungefähr der Einwohnerzahl von Frankfurt am Main entspricht. Ein Land, dem jegliche Bodenschätze fehlen. Ein Land, das früher den Großteil seines Bedarfs an landwirtschaftlichen Produkten von seinen arabischen Nachbarn bezog, Quellen, von denen es nun abgeschnitten ist. Ein Land, das sofort eine Flut jüdischer Flüchtlinge aufnimmt, vor allem Überlebende des Holocaust, mittellos, in einer Menge, die fast doppelt so groß ist wie die Zahl seiner eigenen Einwohner bei seiner Gründung. Es war klar, dass das Land keine Chance hatte zu existieren! Kein Wunder, dass die arabische Welt nicht bereit war, es anzuerkennen. Sie bereitete die zweite Kriegsrunde vor, um Israel dann zu eliminieren.

Aber der junge Staat hielt mit aller Kraft durch und verteidigte seine Unabhängigkeit. Mehr noch: Sobald er seine Fähigkeit bewiesen hatte, auf eigenen Beinen zu stehen, kamen ihm die Franzosen entgegen und versorgte ihn mit fast allem, was er militärisch benötigte. Die Boden- und Luftstreitkräfte waren damals hauptsächlich mit französischen Waffen und Ausrüstung bestückt.

Vor allem aber erhielt das kleine und abgeschnittene Land Wirtschaftshilfe aus Deutschland. 1952 schloss die Bundesrepublik in Luxemburg das Reparationsabkommen mit Israel. Das Übereinkommen wurde von Bundeskanzler Konrad Adenauer (der auch als Außenminister fungierte) und dem israelischen Außenminister Moshe Scharet unterzeichnet. Für Letzteren war es nicht der erste Kontakt mit Deutschen: Im Ersten Weltkrieg wurde er als »Palästinenser« für die türkische Armee, die mit Deutschland verbündete Macht, die das Land beherrschte, rekrutiert. Dort erreichte er den Rang eines Hauptmanns und wurde dank seiner umfassenden Fremdsprachenkenntnisse, darunter Deutsch, oft als Verbindungsperson zu den im Nahen Osten stationierten deutschen Streitkräften geschickt, um den Türken zu helfen.

Seitdem sind Jahrzehnte vergangen. Der Staat Israel ist demografisch, wirtschaftlich und technologisch gewachsen. Wir sind global geworden. Israel unterzeichnete sogar Friedensverträge mit einigen der arabischen Länder und nahm diplomatische Beziehungen auf. Alles schien zu wachsen und sich so zu entwickeln, wie es sich für ein Land gehört, das auf Wunder setzt, wenn nicht sogar auf ihnen basiert. Zu diesem Bild der Situation müssen wir allerdings den sprichwörtlichen biblischen Fluch hinzufügen: Auch etwas Gutes birgt bisweilen einen Nachteil. Denn seit 1967 kontrolliert Israel die besetzten Gebiete – also vor allem Westjordanland und Gaza-Streifen –, in denen Millionen staatenloser Palästinenser leben, die keine Grundrechte genießen.

Und nein, hierbei handelt es sich natürlich nicht um Kolonialismus. Schließlich befinden wir uns im Kriegszustand, und in solch einer Situation kann es vorkommen, dass zivile Gebiete unter die Besatzung der gegnerischen Armee fallen. Es sind Kriegsgebiete, die bereits seit 56 Jahren »vorübergehend« besetzt sind! Kein Ausweg in Sicht? Temporäre militärische Besatzungsgebiete mit Siedlern aus dem Besatzungsland? Im Jahr 2023 betrug die Zahl der jüdischen Siedler dort 750.000. »Vorübergehend« natürlich.

In dieser Situation kehrte Benjamin Netanjahu am 29. Dezember 2022 zum dritten Mal nach 1996 an die Macht zurück, diesmal an der Spitze einer rein rechten Koalition inklusive aller religiösen und ultrareligiösen Parteien. Diesmal traten zwei neue Parteien, eine nationalreligiöse und eine ultranationalistische, als treue Partner seiner Regierung bei. Diese sind rassistisch, Araber sind ihnen verhasst, sogar die arabischen Bürger Israels. Und diese stellen im Land keine unerhebliche Minderheit dar: Ihre Zahl beträgt heute über zwei Millionen, also mehr als zwanzig Prozent der Bürger. Sehr schnell begann der neue Finanzminister Bezalel Smotrich, Vorsitzender einer der beiden ultraextremistischen Parteien, die Budgets der Kommunen im arabischen Sektor zu straffen. Eine dieser Maßnahmen sollte eine enorme Finanzspritze für die Siedlungen in »Judäa und Samaria« (Westbank) sein, die bereits seit Langem von den Zuwendungen aus dem Staatshaushalt leben.

Warum tut Benjamin Netanjahu das? Nur aus ideologischen Gründen? Gemäß dem Slogan: »Die Teile des biblischen Landes Israel gehören dem jüdischen Volk, unabhängig davon, ob heute andere darin leben oder nicht.«

Sollte Netanjahu eine solche ideologische Motivation haben, hat sie kein großes Gewicht. Was den Premierminister vor allem beunruhigt und beschäftigt, ist der schwere Korruptionsprozess, der seit drei Jahren gegen ihn läuft. Er vergisst keinen Moment, dass der frühere Staatspräsident Israels, Moshe Katsav, und auch der frühere Premierminister Ehud Olmert ins Gefängnis gesteckt worden waren.

Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, beschloss Netanjahu, das Justizsystem zu kastrieren, es machtlos zu machen und alle Befugnisse der Regierung in den Händen der Exekutive zu konzentrieren. Wie wir wissen, ist in Israel alles einzigartig, auch die Tatsache, dass es keine Verfassung gibt. Das heißt, eine Mehrheit im Parlament kann jedes Gesetz verabschieden, jedes Gesetz aufheben und ändern, auch wenn es grundlegend oder so alt wie der Staat selbst ist.

Acht Tage nach Netanjahus Rückkehr an die Macht, am 7. Januar 2023, kam es in Israel zu Demonstrationen, die in ihrer Größe und Ausbreitung beispiellos waren. Netanjahu geriet jedoch nicht in Panik. Bereits 2011 war es zu großen Demonstrationen gegen ihn gekommen. Damals stand die Forderung nach größerer sozialer Gerechtigkeit im Mittelpunkt der Proteste, denen die breite Öffentlichkeit mit Sympathie begegnete. Die Methode, um auf den Premierminister Druck auszuüben, bestand aus einem großen Zeltlager im Zentrum von Tel Aviv, in dem – es war Sommer, weder Kälte noch Regen drohten – viele der Protestierenden übernachteten.

Netanjahu, der von Natur aus leicht in Panik gerät, fand dennoch einen Ausweg aus der Krise, ohne Zugeständnisse zu machen. Er kündigte an, dass er den Demonstranten ernsthaft entgegenkommen wolle. Er richtete ein öffentliches Komitee ein, dessen Mitglieder und insbesondere dessen Vorsitzender die Protestierenden unterstützten, und beauftragte es, Empfehlungen zur Durchführung der geforderten Reformen abzugeben. Ihm und allen anderen war klar, dass eine gründliche und ernsthafte Arbeit des Komitees Zeit und Geduld erforderte. Was würden die Zehntausenden Demonstranten in der Zwischenzeit tun? Werden sie weiterhin monatelang in den Feldzelten ausharren? Wie Netanjahu erwartet hatte, bauten die Demonstranten die Zelte ab und gingen zufrieden nach Hause, und das Komitee setzte sich ernsthaft und ausführlich mit dem Problem auseinander und arbeitete an Reformvorschlägen. Jeder Vorschlag wurde von Netanjahu positiv und in gutem Geist aufgenommen. Er bat immer um Verbesserungen und Änderungen. Wieder und wieder. Die Zeit verging, die Öffentlichkeit kehrte zum Alltag zurück, und die Mitglieder des Komitees, die erkannten, dass sie getäuscht worden waren, standen schließlich mit leeren Händen da.

Im Januar 2023 erinnerte sich Netanjahu an die...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abwehr • Anschläge • Armee • Bodenkrieg • Bomben • Deutschland • Einmarsch • Europa • Frieden:Raketenangriff • Friedensverhandlung • Gaza • Geiseln • Gewalt • HAMAS • Hisbollah • Iran • Israel • Juden • Krieg • Leid • Libanon • Menschenrechte • Nahost • Opfer • Palästinenser • Politik • Rakteneinschläge • Täter • Terror • Terrormiliz • Tot • Tunnelsystem • USA • Verfolgung • Völkerrecht • Westjordanland • Zionismus
ISBN-10 3-7517-6021-0 / 3751760210
ISBN-13 978-3-7517-6021-8 / 9783751760218
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