Die neue Entfremdung (eBook)
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31180-8 (ISBN)
Jessy Wellmer, Jahrgang 1979, wurde in Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, geboren. Nach dem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin arbeitete sie als freie Reporterin für den rbb. 2009 übernahm sie die Sportberichterstattung im »ZDF-Morgenmagazin«. Seit 2014 moderierte sie die »ARD Sportschau« und die sportpolitische Sendung »Sportschau Thema« sowie Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele und Fußballwelt- und Europameisterschaften. Außerdem kennen die Zuschauer sie aus politischen Formaten wie dem »ARD Mittagsmagazin« und »ARD Extra«. 2023 hat sie die vielbeachteten ARD-Reportagen »Putin, Russland und wir Ostdeutsche« und »Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen« gemacht. Seit Herbst 2023 moderiert sie die ARD-»Tagesthemen«. Jessy Wellmer lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Jessy Wellmer, Jahrgang 1979, wurde in Güstrow, Mecklenburg-Vorpommern, geboren. Nach dem Studium der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin arbeitete sie als freie Reporterin für den rbb. 2009 übernahm sie die Sportberichterstattung im »ZDF-Morgenmagazin«. Seit 2014 moderierte sie die »ARD Sportschau« und die sportpolitische Sendung »Sportschau Thema« sowie Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele und Fußballwelt- und Europameisterschaften. Außerdem kennen die Zuschauer sie aus politischen Formaten wie dem »ARD Mittagsmagazin« und »ARD Extra«. 2023 hat sie die vielbeachteten ARD-Reportagen »Putin, Russland und wir Ostdeutsche« und »Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen« gemacht. Seit Herbst 2023 moderiert sie die ARD-»Tagesthemen«. Jessy Wellmer lebt mit ihrer Familie in Berlin.
1. Wo ich herkomme
Wie meine glückliche Kindheit in der DDR aussah und was das mit der Ketwurst zu tun hatte
1986. Ich sitze hinten im Auto. Meine Eltern fahren mit mir durch die Stadt, und ich stelle mir vor, ich wäre jemand anderes, ein Mädchen aus Berlin, München, vielleicht sogar aus New York oder Australien. Ich fahre also in meiner Fantasie als Angereiste durch diese fremde mecklenburgische Kleinstadt. Was sehe ich da? Was fällt einer Fremden auf, das eine Einheimische nicht mehr sieht? Schönes, Hässliches, Besonderes? Güstrow, meine Heimatstadt, sehe ich so durch die Augen anderer Menschen. Zu Besuch in Güstrow, das war immer mein stilles Spiel – von klein auf.
Ich schätze, ich wollte herausfinden, ob meine Heimat cool genug ist oder doch ein bisschen piefig-peinlich. Vielleicht lag es auch an meinem eigenen Fernweh, an der Sehnsucht nach Weite. Ich lebe jetzt mehr als die Hälfte meines Lebens in Berlin. Ich bereise sehr gerne große Städte. Je größer, desto besser. Anonymität schreckt mich nicht. Sie zieht mich an. Ich wollte immer ein Mädchen aus einer großen Stadt sein.
In Güstrow, dieser stolzen kleinen Stadt, eine gute halbe Autostunde von Rostock entfernt, mit Renaissanceschloss, dem Schwebenden Engel von Ernst Barlach im Dom und dem Inselsee, bin ich aufgewachsen. Eine kleine Stadt in Ostdeutschland. In meiner Kindheit: eine kleine Stadt in der DDR.
Da ist meine Straße Am Mühlbach mit schlichten dreigeschossigen Klinkerbauten aus den Zwanziger- oder Dreißigerjahren. Eigentlich ganz nett, würde das Mädchen aus München in meiner Vorstellung sagen, zumindest gemütlicher und großzügiger als die Plattenbauten in der Südstadt. Aber auch ganz schön dunkel, sagt die Australierin. Die großen Kastanienbäume klauen den Wohnungen ja das ganze Licht! Recht hat sie. Es war ziemlich dunkel in meinem Kinderzimmer. Ich hätte die stolzen Kastanien trotzdem nicht missen wollen, die gab es in der Südstadt nämlich nicht. Dort allerdings haben die reifen Kastanien im Herbst auch keine fiesen kleinen Beulen in die parkenden Autodächer getrommelt. Nicht in die der Trabbis natürlich – die waren bekanntlich nicht aus Blech, sondern aus Duroplast –, aber in das unseres Skodas oder noch später in das unseres Golfs.
Auch die Enten im Mühlbach vor der Tür mussten sich vor den Kastanien in Acht nehmen. Morgens vor der Schule war ich immer am Bach mit Uta verabredet. Ich auf der einen Seite, der Mühlbachseite, sie auf der anderen, auf der Kastanienstraßenseite. Sie wohnte dort auf der gleichen Höhe. So liefen wir beide plaudernd eine kleine Weile jede auf ihrer Uferseite bis zur Brücke in der Falkenflucht, wo wir zusammenkamen, den Mühlbach hinter uns ließen, um den Weg zur Goetheschule zu bestreiten, deren Gebäude direkt neben dem Schloss steht. Eine Viertelstunde Fußweg, zuerst vorbei am Bäcker in der Falkenflucht, in der es die kleinen, festen Brötchen gab, aus gutem Grund bei uns auch Knüppelbrötchen genannt.
Kastanien, Enten, Goetheschule, der Bäcker – ohne die Trabbis und die Plattenbauten der Südstadt käme die DDR gar nicht vor in meinen ersten Gedanken an meine Kindheit. Und sie spielt in diesen Erinnerungen auch kaum eine Rolle. Die Brötchen, die sind etwas, das ich eindeutig mit dem Osten identifiziere. Sie sind mit der Mauer verschwunden. Etwas, dem man hinterhertrauern könnte, wenn man vor aufgeblasenen, federleichten Westbrötchen sitzt. Ich habe die Brötchen meiner Kindheit eine Zeit lang sehr vermisst, das teigige Innere, das ich so herrlich zu kleinen schweren Kugeln formen konnte.
Beim Bäcker mündete die Falkenflucht in die Plauer Straße, in die wir rechts einbogen. Da war direkt der Obst- und-Gemüse-Laden Schulz mit den kubanischen Apfelsinen.
»Die waren doch immer total holzig«, sagt Sven, mein Mann, »hießen die nicht ›Fidels Rache‹?« Er glaubt, er darf das beurteilen, weil er bei seinem ersten Leipzig-Besuch im Februar 1990 in der Uni-Mensa so eine Apfelsine in die Hand gedrückt bekam. Sven ist dann als Mittzwanziger und Berufsanfänger Anfang der Neunzigerjahre von Kaiserslautern, wo er sein Biologiestudium beendet hatte, für mehrere Jahre nach Sachsen gegangen, um ein Redaktionsvolontariat bei der Leipziger Volkszeitung anzufangen. »Fidels Rache« konnte ihn nicht davon abhalten. Er verfügt ohne Zweifel über Ostkompetenz, auch über einen großen ostdeutschen Freundeskreis.
Als seine Familie aus Hamburg ihn zu Beginn seiner Ostzeit einmal in Leipzig besuchte und seine Mutter sich beim Essen in Auerbachs Keller über die unfreundlichen Kellner mokierte, hat ihn das so beschämt, dass ihm die Tränen kamen. Er fand seine Westverwandtschaft, ihre Beschränktheit, ihre Verwöhntheit, ihre fehlende Feinfühligkeit, peinlich und vernagelt. Mein Mann hingegen glaubte, längst eine Antenne für den Osten und die Unsicherheiten der Menschen entwickelt zu haben.
Ich war sehr gerührt, als er erst vor Kurzem die Geschichte mit der Mutter in Auerbachs Keller und den Tränen erzählt hat. Als wir nämlich selbst in dem Lokal in der Leipziger Innenstadt saßen, um mit unseren beiden Kindern zu Abend zu essen. Der Kellner war übrigens ausgesprochen freundlich.
Zurück zu den Apfelsinen aus Kuba. Die waren, anders als der Wessi an meiner Seite behauptet, nämlich gar nicht holzig, zumindest nicht in meiner Erinnerung. Und die stimmt ja wohl.
Da ist der Ostauskenner dann doch in die Ost-Klischee-Falle getappt. Geht ganz leicht. Kann selbst ihm mal passieren. (Er sagt, sie waren doch holzig!)
Direkt neben dem Obst-und-Gemüse-Laden mit den auf gar keinen Fall holzigen, na gut, vielleicht ein wenig strohigen, jedenfalls verdammt schwer zu schälenden kubanischen Apfelsinen in der Plauer Straße lag der Konsum (mit Betonung auf der ersten Silbe!), an den ich komischerweise kaum Erinnerungen habe, obwohl meine Eltern mich häufiger zum Einkaufen dorthin geschickt haben.
Ich weiß noch, wo die Nussschokolade lag, die ich nicht mochte – in der Nähe der Kasse im Süßigkeitenregal. Das Prinzip der Quengelware gab es also bereits zur DDR-Zeit in Güstrow. Ich weiß auch noch, dass es im Konsum schön hell war, wenn auch irgendwie farblos. Aber sonst?
Wie es allerdings im Intershop in Güstrow aussah, der sich in einer Seitenstraße des Marktes befand – das weiß ich ganz genau! Dort konnte man nur mit Westgeld zahlen, nicht aber mit Mark der DDR. Ich könnte die Spielwaren- und Süßigkeitenabteilung Quadratzentimeter für Quadratzentimeter aufmalen. Und der Geruch! Die unschlagbare Mischung aus Waschmittel, Kaffee und Gummibärchen. So gut, wie dieser Geruch war, so gut konnten die einzelnen von Onkel Willis Westgeld teuer erkauften Haribo-Tütchen und Kaffeepäckchen gar nicht sein. Der Geruch beim Öffnen der Tür zum Intershop und genauso auch der Geruch beim Öffnen eines Westpakets – eine prägende Kindheitserinnerung. So einen Geruch kann man auch vermissen.
Heute, wo alles um mich herum nach Westpaket riecht, nehme ich ihn nicht mehr wahr. Er konnte nur bei mir wirken, weil es überall sonst anders roch.
Der spektakulärste Intershop, an den ich mich erinnern kann, war auf dem Dach des Hotels Metropol in der Friedrichstraße in Berlin. Da gab es alles – sogar Autos und Swimmingpools. Diese riesigen, leeren azurblauen Plastikwannen auf dem Hausdach im grauen Berliner Winter – für mich wenig verlockend. Ich konnte mir damals als Acht- oder Neunjährige nicht vorstellen, dass jemand diese Dinger kauft, um damit seinen Garten zu verschandeln. Ich wusste nicht, dass man sie in der Erde versenkt. Aber die Vorstellung, in so einem Pool zu plantschen, die war fantastisch.
Dass wir uns in den Intershops der Republik auch mal was genehmigen konnten, lag am schon erwähnten Onkel Willi aus Hamburg. Er war ein alleinstehender entfernter Verwandter meiner Mutter, besaß mehrere Kneipen in der Hansestadt und war sehr großzügig.
An einen seiner Besuche kann ich mich besonders gut erinnern. Wir spazierten im Regen durch Neubrandenburg. Und aus Jux und Tollerei sagte Onkel Willi zu mir: »Jessy, wenn du dich in die Pfütze setzt, gebe ich dir fünf Westmark.« Was Onkel Willi offensichtlich nicht ahnte: Kaum hatte er den Satz zu Ende gesprochen, saß ich in voller Montur im Wasser. Sich für fünf D-Mark buchstäblich nass zu machen: für Willi ein schlechter Scherz, für mich der Hauptgewinn. Westgeld – das war jedem Kind vollkommen klar – war der Schlüssel zum Luxus. Ich weiß nicht mehr, was ich mit den fünf Mark angestellt habe. An den nassen Hintern kann ich mich aber noch genau erinnern.
Und ich weiß noch, dass meine Eltern über die Aktion lachten, aber vielleicht waren sie auch ein bisschen beschämt.
Onkel Willi meinte es aber wirklich gut mit uns. Als mein Bruder Stefan mit vierzehn an Krebs erkrankte und oft mit Schmerzen ins Krankenhaus gefahren werden musste, schenkte er uns 1988 einen weinroten VW Golf. Das einzige Westauto am Mühlbach, eines von ganz wenigen in Güstrow. Klar, wir fielen damit auf. Eine Zeit lang hatten wir so sogar zwei Autos.
Stefan fuhr trotzdem lieber im Trabbi, da hatte er wohl beim Sitzen weniger Schmerzen.
Den Fall der Mauer hat mein Bruder nicht mehr erlebt, er starb im September 1989 in unserem Kinderzimmer Am Mühlbach 10.
Ob die Kastanien schon von den Bäumen auf die Autodächer fielen? Ich kann mich nicht erinnern.
Wie mein sechs Jahre älterer Bruder mich morgens oft in den Kindergarten...
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2024 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 1989 • 1990 • ARD • bekannt aus dem Fernsehen • Bericht • BRD • Buch • Bundesprepublik • DDR • Deutsche Demokratische Republik • Deutsche Geschichte • Deutschland • Deutschlandreise • Gesellschaft • Gesellschaftspolitik • Identität • Jessie Wellmer • Jessy Wellmer • Journalistin • Mauerfall • Mecklenburg-Vorpommern • Moderatorin • Morgenmagazin • Ossis • ostdeutsch • Ostdeutsche • Ostdeutschland • Ostidentität • Politik • Prominent • rbb • Reportage • Russland • Spaltung der Gesellschaft • Sportschau • Tag der deutschen Einheit • TV-Moderatorin • Ukrainekrieg • Wessis • Westdeutsche • Westdeutschland • Wiedervereinigung |
ISBN-10 | 3-462-31180-8 / 3462311808 |
ISBN-13 | 978-3-462-31180-8 / 9783462311808 |
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