Lückenleben (eBook)
256 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-31575-7 (ISBN)
Fünf Jahre hat Katrin Seyfert ihren Mann durch seine Alzheimer-Erkrankung begleitet. Anfang 50 war er, als er die Diagnose bekam, Arzt und Vater von fünf Kindern. Sie hat den Familienalltag organisiert, die Finanzen, den Pflegedienst. Schließlich die Beerdigung. Schonungslos offen und brutal ehrlich erzählt sie davon, wie es ist, wenn der Partner allmählich seine Sprache und damit seine Identität verliert. Wie sie mit der Rolle hadert, die ihr erst als pflegende Ehefrau, dann als Witwe zugeschrieben wird. Und wie sie ihren eigenen Weg findet, sich mit der Lücke, die ihr Mann hinterlassen hat, zu arrangieren. Das Leben schlug zu, mit ihren Texten schlägt sie zurück: gegen die Konventionen, gegen die Tabus, gegen die Selbstverleugnung.
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Katrin Seyfert ist das Pseudonym einer freien Journalistin, Jahrgang 1971, die in Tübingen Rhetorik und Kulturwissenschaft studiert hat. Sie schreibt u.a. für die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, Eltern und den SPIEGEL, wo sie seit 2019 auch Texte über die Alzheimer-Erkrankung ihres Mannes veröffentlicht, die regelmäßig große Resonanz bei Leserinnen und Lesern hervorrufen. Sie hat sich für ein Pseudonym entschieden, weil die Perspektive der Witwe nur einen Teil ihres Schreibens bestimmt.
»Was Sie jetzt brauchen, ist ein Testament«
»Du, Marc, ich möchte für den Spiegel etwas über Alzheimer schreiben. Wäre dir das recht?«
»Für wen?«
»Den Spiegel, das ist die Zeitschrift, die du immer liest.«
»Was ist damit?«
»Ich möchte für den Spiegel eine Geschichte über deine Krankheit schreiben. Würdest du das erlauben?«
»Was?«
»Dass ich eine Geschichte über dich und Alzheimer schreibe.«
»Für wen denn?«
»Den Spiegel.«
»Aha. Und warum?«
An guten Tagen fragt mein Sohn: »Papa, wie heißt die Hauptstadt von Eritrea?«, und mein Mann antwortet: »Asmara. 900000 Einwohner.« Er könnte auch sagen, wie viele Eier eine Mandarinente legt oder was der Unterschied zwischen Zystennieren und Nierenzysten ist. Bei Wer wird Millionär? wäre er weit gekommen.
Vor seiner Krankheit. Vor Alzheimer.
Heute hat er Inseltage. Da ist alles so wie früher. Und Krisentage, da müssen wir mitunter hart verhandeln, damit die Informationen den Kurzzeitspeicher im Gedächtnis wenigstens kurzfristig betreten dürfen. An schlechten Tagen verwehrt die Krankheit ihnen auch gänzlich den Zutritt.
Und ich verfalle nach drei, vier, fünf Wiederholungen in diesen widerlichen Krankenschwesternton, den keine Krankenschwester der Welt benutzt, weil sie Profi ist und ich Amateurin. Ich spreche mit Imperativ-Rhetorik, entbeint von Adjektiven und Adverbien, akzentuiert, unfreiwillig laut und langsam, so als wären Gedächtnisverlust und Schwerhörigkeit ein und dasselbe. »Schrei doch nicht so«, sagt mein Mann, weil das Einzige, was sein Gehirn dann noch wahrnimmt, meine Veränderung in der Modulation ist. Und Veränderung ist bedrohlich.
Angefangen hat die Krankheit kurz nach seinem 50. Geburtstag. Da war es noch keine Krankheit. Sondern ein steter Vorwurf: Kannst du nicht mal den Biomüll ordentlich trennen? Du wolltest doch Brot kaufen, wo ist das denn? Wieso hast du meinen Geburtstag vergessen?
Ich schob es auf die Arbeitsbelastung, obwohl die nur ein Symptom seiner beginnenden Krankheit war. Ich schob es auf eine Depression, obwohl die nur eine Konsequenz unserer Ahnung war. Ich schob es sogar auf unsere drei Kinder, damals zehn, acht, sechs, so laut, so wild, obwohl sie nur eine Ablenkung von der wachsenden Panik waren.
Mein Mann ist Arzt, ich bin sicher, er wusste zu jeder Zeit, dass sich da etwas zusammenbraute, was nicht gut war. Also schob er hinaus und kompensierte. Ich fand immer häufiger Zettel, auf denen Selbstverständlichkeiten standen: »10 Brötchen kaufen«, »Fußballtraining 16 Uhr«. Er schlief vor Erschöpfung bei der Tagesschau ein. Er lachte seltener und trank dafür Kaffee, der Tote hätte wecken können. Später, viel später las ich, dass Kaffee Demenz verlangsamen kann und dass die Verschlechterung des Geruchs- und Geschmackssinns ein Frühsymptom von Alzheimer sein kann.
Aber irgendwann kamen wir an den Tatsachen nicht mehr vorbei. Wir mussten uns anbrüllen, damit etwas in Bewegung kam. Nein, wir redeten nicht gesittet und wie vernünftige Leute. Wir schrien gegen unser beider Vorahnung an. Und ich rang Marc ein Versprechen ab: »Nach den Sommerferien gehe ich zum Arzt.«
Leider sagte er nicht, zu welchem. Und weil er nicht blöd, sondern nur dement wurde, ging er erst einmal zu einem Arzt, der garantiert nichts finden konnte, damit ich wieder für ein paar Monate Ruhe gab: Er ließ seine Lunge röntgen, seinen Bauch sonografieren, seinen Magen-Darm-Trakt spiegeln. Dass er nicht noch nach Senk- und Spreizfüßen schauen ließ, war alles. Heute weiß ich, dass er Zeit schinden wollte vor dem Unabwendbaren. Denn das einzig Sichere an dieser Krankheit ist: Sie schreitet voran.
Gedächtnistest, MRT, eine Liquorpunktion, selbst ein PET-Verfahren, das die Hirnregion radioaktiv anreichert und damit Plaque-Stellen sichtbar macht – alles brachten wir irgendwann dann doch hinter uns. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Mann ist ja so angenehm jovial, und er kann jedem Gespräch folgen. Das sieht nicht nach Alzheimer aus«, tröstete mich die Oberärztin in der Demenzsprechstunde, und ich starrte sie an. Ich weiß noch, dass sie eine dicke Schuppe in ihrer Wimper hängen hatte, und irgendwann während des Gesprächs lösten sich Schuppe und Wimper vom Augenlid. Darf ich mir jetzt was wünschen? Ich wünschte mir: »Rede nicht so einen Mist.«
Er spielt jovial, und er ist ein Meister in der Kompensation, er ist ein »Dissimulant«, so nennen Ärzte das Schauspiel, das er für sie bereithält. Diese vielen Aussetzer, der nicht getrennte Müll, der vergessene Geburtstag waren kein Zeichen normaler Überarbeitung. Trotz unauffälligem MRT.
Zwei Jahre nach den ersten Symptomen, an einem Dezembernachmittag um drei, dann die Gewissheit. Ein überanstrengter Oberarzt ruft an. Nicht Marc, sondern mich. So, als wollte er uns darauf vorbereiten: Das ist nur die erste Entmündigung Ihres Mannes, es werden noch viele weitere folgen. Er sagt nur zwei Sätze: »Alzheimer. Und was Sie jetzt brauchen, ist ein Testament. Ihre Freunde werden sich binnen einem Jahr halbieren, das müssen Sie wissen.« Und ich? Ich sage nicht: »Sie zur Heilung Unfähiger.« Ich sage: »Haben Sie herzlichen Dank für Ihren Anruf, aber jetzt müssen Sie schnell wieder auf die Station.« Ich habe danach Schuhe geputzt, ein Backofenspray gekauft und getan, als wären es wirklich Senk- und Spreizfüße. So tief saß das Wort Alzheimer.
Rufe ich jetzt Marc an? In seiner Praxis, während der Sprechstunde? Erzähle ich es ihm, während der nächste Patient schon auf ihn wartet? Alzheimer. Die Kinder kommen, »Mama, ich habe eine Zwei in Mathe«, Alzheimer, der Paketbote, Alzheimer, soll ich googeln, telefonieren, nee, dann heule ich, Alzheimer. Wird er irgendwann vergessen, dass es uns gibt, dass wir uns lieben, dass er Kinder hat? Alzheimer. Das Leben ist zusammengeschrumpft auf dieses Wort.
Abends sitze ich auf dem Sofa. Marc ist erschossen von der Arbeit. Er will nur noch fernsehen, damit er eine Ausrede hat, einschlafen zu dürfen. »Marc, ich muss mit dir reden.« – »Oh, nee, jetzt nicht.« – »Doch! Jetzt! Die vom Krankenhaus haben angerufen. Sie haben jetzt die Diagnose. Alzheimer.«
Schweigen. Alzheimer. Auf dem Bildschirm läuft Werbung für Kinderjoghurt. Alzheimer. Marc schweigt und sagt dann: »Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen, und wenn das meine Krankheit sein soll, dann bin ich bereit, sie anzunehmen.«
Ich heule. Das geht. Man muss nicht reden, keine Zusammenhänge verstehen, nur fühlen. Ich schäme mich, weil doch eigentlich Marc gerade Grund zur Trauer haben müsste. Oder bin ich jetzt schon seine Tränen-Stellvertreterin? So wie ich seine Geld-Stellvertreterin werde, seine Arzt-Stellvertreterin, seine Lebens-Stellvertreterin?
Am nächsten Mittag sitzen wir zur großen Konferenz. Die Kinder schauen erschrocken. Haben wir gemerkt, dass sie heimlich Schokolade genascht haben? »Ich werde nicht mehr arbeiten«, sagt Marc. Ich schlucke. Auch wegen der Unbekümmertheit der Kinder. »Toll, dann bist du ja jetzt immer zu Hause, wenn wir kommen.« Die Kleine erkundigt sich sicherheitshalber: »Was ist eine Vergess-Krankheit? Weißt du noch, wie ich heiße?« Die Kinder lachen erleichtert auf. Sie wissen nicht, dass es eines Tages genau so kommen wird.
Nachmittags fahren Marc und ich zu einem Hundezüchter und kommen mit Tinzo zurück. Immer wollte mein Mann einen Hund, schon bevor wir Kinder hatten, schon bevor wir zusammenzogen, bevor er mich kannte. Jetzt, genau jetzt braucht er etwas zum Streicheln und zum Fettfüttern, weil er mit der Zeit vergisst, wie oft er ihm schon Futter gegeben hat. Ein Wesen, das sich bedingungslos freut und mit dem Schwanz wedelt. Ich brauche keine letzte Reise nach Südafrika, ich brauche keine letzte Kreuzfahrt. Ich brauche den Hund für meinen Mann, weil ich weiß, dass er nicht mehr in der Lage ist, Wünsche umzusetzen. Ich brauche den Hund für meine Kinder. Irgendwann werden wir einfrieren, dann ist der Hund jemand, der schweigend zu uns spricht und uns wortlos liebt.
Die Rechnung geht auf. In den nächsten Wochen sind wir damit beschäftigt, dem jungen Hund das Eingewöhnen zu erleichtern. Ich merke, wie sehr ich es genieße, über die Hundehäufchen neben dem Kamin zu schimpfen. Ach Gottchen, es ist nur Kot!
Tinzo versteht ohne Sprache. Er freut sich ohne Verstand. Er ist von einem Abhängigen abhängig. Dieser Therapiehund hat lebenslanges Inkontinenzrecht.
Als Nächstes müssen wir einen Mediziner suchen, der den Namen verdient. Wenn man eine Krankheit hat, die man ohnehin nicht heilen kann, wird der Menschlichkeitsfaktor zur einzigen Größe. Und was hatten wir für Exemplare:
Der Erste hatte immer nur zehn Minuten Zeit. Dann saßen wir wieder auf der Straße, mit unserem Fragenzettel, der nur halb abgearbeitet war.
Der Zweite war ein zwanghaft Korrekter. Ich durfte nicht mit ins Behandlungszimmer kommen, und als Marc einmal seine Krankenkassenkarte vergaß, schnauzte er: »Wie kann so was passieren?«
Der Dritte war blasiert. »Aber wenn Ihr Mann krank ist, wieso kommen Sie dann mit?«
Der Vierte war langweilig und bot keinen Raum zur Resonanz. Er genügte sich selbst und seinem ICD-Code: G301. Demenz bei Alzheimer-Krankheit mit frühem Beginn, Typ 2. Da wollten wir gar nichts fragen.
Der Fünfte sagte: »Alzheimer? Scheiße!« Bei dem blieben wir. Wir hüten...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Alzheimer • Arno Geiger • Bettina Tietjen • Biografie • Biographien • Das Jahr magischen Denkens • Das Leben ist ein vorübergehender Zustand • Demenz • Der alte König in seinem Exil • eBooks • Familienleben • Gabriele von Arnim • gesellschaftliche Konventionen • Gesundheit • Joan Didion • Krankheit • Neuerscheinung • Psychologie • Selbstermächtigung • Trauerbewältigung • unter Tränen gelacht |
ISBN-10 | 3-641-31575-1 / 3641315751 |
ISBN-13 | 978-3-641-31575-7 / 9783641315757 |
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