Brüssel sehen und sterben (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01944-7 (ISBN)
Nico Semsrott, geboren 1986 in Hamburg, ist in seiner Rolle als Demotivationstrainer als Kabarettist konsequent nach oben gescheitert. Als »traurigster Komiker der Welt« hat er auf Poetry Slams, bei Solo-Auftritten und in YouTube-Videos geübt, wie man Zuschauer:innen für deprimierende Themen begeistern kann. Und weil nichts deprimierender ist als Politiker:innen, die Satire machen, hat er sich entschieden, zum Gegenangriff zu blasen und als Satiriker Politik zu machen. Bei der Europawahl 2019 hat Semsrott den Einzug ins Europäische Parlament geschafft.
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Paperback (Nr. 39/2024) — Platz 20
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Nico Semsrott, geboren 1986 in Hamburg, ist in seiner Rolle als Demotivationstrainer als Kabarettist konsequent nach oben gescheitert. Als »traurigster Komiker der Welt« hat er auf Poetry Slams, bei Solo-Auftritten und in YouTube-Videos geübt, wie man Zuschauer:innen für deprimierende Themen begeistern kann. Und weil nichts deprimierender ist als Politiker:innen, die Satire machen, hat er sich entschieden, zum Gegenangriff zu blasen und als Satiriker Politik zu machen. Bei der Europawahl 2019 hat Semsrott den Einzug ins Europäische Parlament geschafft.
TL;DR:
Ich habe ein halbes Schuljahr in Mississippi verbracht. Es war die Hölle.
In Jesus’ name we pray – Ein halbes Jahr bei geistlich Behinderten
Ich war 16, in der elften Klasse, und das Leben war schlimm. Ich wollte weg. Weg von zu Haus. Und nirgendwohin. Meine Austauschorganisation schien das zu verstehen – und verschickte mich nach Nirgendwo. Dort erlebte ich den ersten großen Schock meines Lebens. Ich landete im cholesterinverseuchten Herzen des Bible Belts, einer Ungegend, die sich im Süden der USA von Texas bis nach Florida erstreckt. Hier wimmelte es nur so von Sekten und Kirchen, in dieser Region wohnten auch der Ku-Klux-Klan, George W. Bush und meine Gastfamilie. Das Nest hieß Pontotoc und lag einsam und verloren in der Weite des Bundesstaates Mississippi, war aber leider alles andere als ein gottverlassener Ort. Mississippi war zur Zeit meiner Ankunft der ärmste US-Bundesstaat, hatte die bundesweit höchste Rate an jugendlichen Schwangerschaften vorzuweisen und beheimatete die dicksten Menschen des Kontinents. Ich hatte wirklich das ganz fette Los gezogen.
Das Einzige, was in meinem Dorf seit der Vertreibung der indigenen Bevölkerung, dem Stamm der Chickasaw, passiert war, war ein Tornado im Vorjahr, der zunächst über das Anwesen meiner Gastfamilie zog und dann fünf bettelarmen Schwarzen im benachbarten Trailer-Park den Tod brachte. Die Kühe meiner Gastfamilie überlebten. Zusammen mit einigen Hühnern und Hunden bildeten sie die Hauptattraktion der kleinen Farm, wenn nicht sogar der gesamten Ortschaft. Einer aufregenden und abwechslungsreichen Freizeitgestaltung sollte die provinzielle Lage im Wege stehen. Aber dafür hatte ich ja Gott. Jeden Sonntag und jeden Mittwoch widmete man sich dem Kirchgang, zu dem neben der einstündigen Predigt auch der Besuch der SS gehörte, auch bekannt als Sunday School. Ich verstand: Nicht jeder hatte ein so verkrampftes Verhältnis zur Geschichte wie die Deutschen. In den intensiven Bibelstunden gruselte ich mich von einem Schauermärchen ins nächste. In der SS lernte ich, wie man am besten in die Hölle kommt: Abschreiben, ans Abschreiben denken, Sex vor der Ehe, an Sex vor der Ehe denken, zu schnell fahren, denken. Ich fand die vielen engen Regeln nicht nachvollziehbar. Wenn schon Wahnidee, warum keine, die Spaß macht? Ich fand, Südstaatenchrist zu sein, war eine besonders perverse Form von Selbsthass. Trotzdem war ich sehr beeindruckt, was alles in der Bibel zu stehen schien und wie detailliert Gottes Pläne für uns alle waren. Mein absoluter Favorit war folgende Regel: Natürlich kommt man auch in die Hölle, wenn man Disney-Filme guckt. Warum? Weil bei Disney nur Schwule arbeiten. Jedes Kind weiß das! In den ersten Wochen suchte ich noch immer in den Gesichtern der Prediger nach einem Anzeichen, dass die Bibelstunde von heute doch nur ein Scherz gewesen wäre. Auch eine amerikanische Langzeitversion der Versteckten Kamera, bei der deutsche Austauschschüler:innen verarscht werden, hielt ich für denkbar. Und so hielt ich nach möglichen Indizien Ausschau, wurde aber bis zum Schluss nicht fündig. Ich nehme deshalb bis heute an, dass sie das doch alles ernst meinten.
Weil die Southern Baptists, denen meine Gastfamilie und ein paar Millionen andere Idiot:innen im Süden der USA angehören, die Bibeltexte ohne einen Ansatz von Interpretation verstehen wollen, ergaben sich für einen staubtrockenen Hanseaten wie mich die merkwürdigsten Zusammenhänge, die sodann mein gesamtes Weltbild gewaltig ins Wanken brachten. Plötzlich stammte ich von Adam und Eva ab, die schon ein paar Tage nach der Erschaffung der Welt vor rund 6000 Jahren auf der Erde auftauchten. Böse Theorien wie die Evolutionslehre und das Märchen vom Klimawandel wurden von ketzerischen Wissenschaftler:innen erfunden, und die wiederum wurden vom Teufel höchstpersönlich gelenkt! Nicht nur die Leidenschaft, mit der die Gegner:innen bekämpft wurden, fand ich bewundernswert. Auch die positive Grundausrichtung der Religion beeindruckte mich sehr: Hört die frohe Botschaft! Ihr seid mit der Erbsünde bestraft! Ihr seid schuldig! Deshalb wollten wir auch den Irak angreifen, meinte der Pastor.
Religiöse Argumentationsstrukturen blieben für mich bis zum Schluss ein Wunder, an das ich glauben wollte. Ich war 16, in den USA, und das Leben war schlimm. Nach drei Monaten hatten sie mich fast so weit. Ich fühlte mich wirklich schuldig, weil mir jeder Mensch in meiner Umgebung attestierte, dass ich etwas Falsches tat. Ich war kurz davor, mitten im Gottesdienst aufzuspringen, eine Erleuchtung vorzutäuschen, meine Arme nach oben zu werfen, erst zu brüllen, dann wie ein Verrückter zu heulen und Ballett tanzend zum Taufbecken zu laufen, um mich endlich retten zu lassen. Doch bis zum Schluss hatte ich stets eine stärkere Schreckensvision im Kopf – ich wollte nicht auch noch die Ewigkeit mit diesen Vollpfosten verbringen müssen. Dann lieber Hölle. Die einzige Fluchtmöglichkeit, die sich mir in den ewigen Gottesdiensten bot, lag in der Anfälligkeit meiner Nasenschleimhaut. Und so popelte ich, bis die Nase endlich wieder zu bluten anfing und ich auf die Toilette musste.
Wenn das alles nicht die Realität gewesen wäre, hätte ich das bestimmt lustig gefunden. Es gab jede Menge Verbote, aber Gewalt war erlaubt. Das Paddling ist eine ziemlich geniale Erfindung aus dem vorletzten Jahrhundert. Statt eines schäbigen Rohrstocks kam in der Schule ein breites, flaches Holzbrett zum Einsatz, das die Schamesröte in die Backen eines jeden Hintern trieb. Mindestmaß fünf Schläge. Serviert vom Schulleiter höchst-persönlich. Eine mildere Form war das Nachsitzen. Allerdings gab es einige Schüler:innen, die dafür schlicht keine Zeit hatten, weil sie nach der Schule arbeiten mussten. Sie beantragten beim Schulleiter als Alternative zum Nachsitzen einfach das Paddling. Wie genau die Umrechnung von Nachsitzen in Schläge lautete, erschloss sich mir leider nie. Das Paddling war die härteste Strafform im Schulrahmen, danach gab es als Abschreckungsstufen nur noch Gefängnis und Todesstrafe, aber da musste man schon wirklich viele Drogen gegessen haben oder schwarz sein. Mindestens verdächtig war jedenfalls die hohe Zahl von schwarzen Mitschüler:innen, die jeden Tag im Vorraum des Rektors auf ihre Tracht Prügel warteten. Es herrschte im wahrsten Sinne des Wortes ein interessantes Schwarz-Weiß-Denken. In der Cafeteria waren die Gruppen im Raum klar unterteilt. Die Weißen auf der einen, die Schwarzen, rund 30 Prozent, auf der anderen Seite. Diese Trennung zog sich durch die gesamte Gesellschaft und führte auch dazu, dass es schwarze und weiße Kirchen gab, die nie von einem Menschen mit anderer Hautfarbe betreten wurden. Das dumpfe Gefühl, dass die Schwarzen rund vierzig Jahre nach ihrer rechtlichen Gleichstellung immer noch an vielen Stellen der Gesellschaft benachteiligt wurden, blieb mein ständiger Begleiter.
Auch sonst ergaben sich viele Möglichkeiten für Momente des Staunens: So forderte mein Politiklehrer die Wiedereinführung des Prangers auf dem Marktplatz. Während meines Aufenthalts wurde in Mississippi ein Mensch mit einer geistigen Behinderung auf den elektrischen Stuhl gesetzt. Und mein stellvertretender Schulleiter, der von den Schüler:innen aufgrund seines Schnauzbartes spaßeshalber Hitler genannt wurde, fragte mich nach dem Symbol der Deutschen. Ich wusste nicht, was er meinte. Er zeichnete ein Hakenkreuz. Natürlich war das eine Standarderfahrung, die man als Deutscher im Ausland macht. Doch im Zusammenhang mit seinem fiesen, gellenden Lachen und seinem sozialen Status war mir das doch nicht ganz geheuer. Ich hatte den Eindruck, die Hölle auf Erden kennengelernt zu haben.
Aus Protest gegen die Endlospredigten für ein Leben ohne Leben versuchte ich in einem ehrgeizigen Gegenmissionierungsprojekt, meinen Schulkamerad:innen die Lehre der Aufklärung, der Vernunft, des Humanismus näherzubringen; ein Leben, in dem der Mensch das Wertvollste ist und nicht eine dämliche Ideologie. Es gelang mir nicht, im Gegenteil: Ich schien immer mehr Menschen an die Feinde zu verlieren. Im Jugendgottesdienst gab es regelmäßig Leute, die am Ende an den Altar liefen, um Jesus Christus im Herzen zu akzeptieren. Es tat mir um jeden Einzelnen leid, und ich war manchmal kurz davor, für sie zu beten. Zu meiner eigenen Überraschung konnte ich mit meiner europäischen Überheblichkeit nichts gegen die amerikanische Überheblichkeit ausrichten. Und letztlich waren beide Seiten stolz darauf, an die richtige Sache zu glauben. Sie, weil sie sich für ein Leben nach dem Tod entschieden, ich, weil ich mich für ein Leben vor dem Tod entschied. Deshalb erklärte ich das Auslandsabenteuer nach einem halben Jahr für beendet. Ich wollte die bei mir so erfolglosen Christ:innen nicht in eine tiefe Glaubenskrise stürzen. Sollten sie doch weiter doof und glücklich bleiben, Bush wählen und die ganze Welt im Auftrag Gottes zu einem schlechteren Ort machen. Als einzelner europäischer Missionar war ich da chancenlos – was sollte ich machen? Ich reiste zurück mit der Erkenntnis, dass man mit seiner Ignoranz nie allein ist, sondern Dummheit etwas ist, was alle Menschen eint, unabhängig von Hautfarbe, Religion und Nationalität. Ich bin nur anders ignorant als die anderen Ignoranten.
Zurück auf meinem katholischen Gymnasium in Hamburg freute ich mich über die liberale Haltung einer katholischen Kirche, die gegen den Irakkrieg und die Todesstrafe war. Nach einem halben Jahr in Mississippi war ich anspruchslos geworden,...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2024 |
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Zusatzinfo | Mit ca. 15 s/w Zeichnungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arbeiten im EU Parlament • Brüssel • Burnout • Comedy • Depression • Depression/Burnout • Depressionen • deutsche Politik • DIE PARTEI • Erzählendes Sachbuch • EU • EU Abgeordneter • EU Parlament • Europäer • Europäische Kultur • Europäische Politik • Europäisches Parlament • Europäische Union • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gesellschaftspanorama • Humor • Jung Politiker • Kabarettist • Korruption • Korruptionsaffäre • Korruptionsvorwürfe • Lobbyismus • Lustige Bücher • Marietta Slomka • MARTIN SONNEBORN • Moral • Politiker • Politisches Sachbuch • Satire • witzige Bücher |
ISBN-10 | 3-644-01944-4 / 3644019444 |
ISBN-13 | 978-3-644-01944-7 / 9783644019447 |
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