Küssen (eBook)

Eine berührende Kommunikationsart
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491039-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Küssen -  Hektor Haarkötter
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In seinem Streifzug durch Geschichte und Theorie des Küssens fragt Hektor Haarkötter: Was macht das Küssen eigentlich aus? Warum küsst man nicht überall auf der Welt, sondern nur in bestimmten Kulturen? Was verbindet Liebeskuss, Bruderkuss, Abschiedskuss, Filmkuss und den Gutenachtkuss? Haarkötters Antwort: Küssen ist ein Akt der Kommunikation. Das zeigt er u.a. am naturwissenschaftlichen Wissen über den Kuss, an seiner Geschichte von der Antike bis heute, am Kuss in Film, Literatur, Märchen und der Kunst, an Fragen wie: Ist küssen privat? Was ist der Unterschied zwischen Sex und Küssen? Warum küsst man Gegenstände wie z.B. Ringe? Und was hat die Bussi-Bussi-Gesellschaft mit all dem zu tun? Küssen, das zeigt Haarkötter so augenzwinkernd wie informiert, ist eine ganz eigentümliche Art der Kommunikation. Und es könnte sein, dass ihre Zeit zu Ende geht. Doch wie sieht eine Welt aus, in der nicht mehr geküsst wird?

Hektor Haarkötter, geb. 1968, ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Er studierte u.a. Philosophie, Geschichte, Deutsche Philologie und Soziologie in Rom, Düsseldorf und Göttingen und arbeitete als Journalist und Fernsehregisseur. Ehrenamtlich ist er geschäftsführender Vorstand der Initiative Nachrichtenaufklärung, die jedes Jahr die »Top Ten der vergessenen Nachrichten« veröffentlicht. Für seine Arbeiten hat er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, u.a. den Columbus Filmpreis in Gold.

Hektor Haarkötter, geb. 1968, ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt politische Kommunikation an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Er studierte u.a. Philosophie, Geschichte, Deutsche Philologie und Soziologie in Rom, Düsseldorf und Göttingen und arbeitete als Journalist und Fernsehregisseur. Ehrenamtlich ist er geschäftsführender Vorstand der Initiative Nachrichtenaufklärung, die jedes Jahr die »Top Ten der vergessenen Nachrichten« veröffentlicht. Für seine Arbeiten hat er zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, u.a. den Columbus Filmpreis in Gold.

eine fesselnde Theorie des Küssens

Eine unterhaltsame und gewinnbringende Lektüre.

04 Der natürliche Kuss.


Zunächst müssen Du und ich klären, was das Küssen nicht ist. Viel kognitiver und wissenschaftlicher Aufwand ist betrieben worden, um zu zeigen, dass das Küssen ein natürliches, ein der Gattung Homo sapiens quasi biologisch eingraviertes, ein angeborenes und damit unvermeidbares Phänomen sei. Viele Beiträge über das Küssen können es darum auch nicht unterlassen aufzuzählen, dass beim Küssen 34 Gesichtsmuskeln und 112 Nacken- und Halsmuskeln beteiligt seien, dass der Mensch durchschnittlich von 70 Lebensjahren mehr als 76 Tage mit Küssen verbringe oder dass beim Küssen 0,7 g Fett, 9 mg Wasser, 0,45 mg Salz, Hunderte Bakterien und Millionen Viren ausgetauscht würden. Weil solche Daten naturwissenschaftlich aussehen, wird der Eindruck vermittelt, das Küssen selbst müsse ein natürliches, ein biologisches Faktum sein. Man könnte das einen naturalistischen Fehlschluss nennen. Auch dass das Küssen mittels Körperteilen ausgeübt wird, mag ein Anlass für diesen Fehlschluss sein (denn um einen solchen handelt es sich zweifelsohne), es für etwas Kreatürliches, einen physiologischen, einen medizinischen oder gar schlicht einen physikalischen Sachverhalt zu halten. Nichts weniger als das ist das Küssen. Um die Gründe, warum es zu diesem Fehlschluss kam, zu verstehen, müssen Du und ich uns die Argumente ansehen, die für diese Interpretation des Küssens ins Feld geführt wurden.

Vorgegeben hat den Ton der Debatte kein Geringerer als der Erfinder der Psychoanalyse, der Wiener Arzt und Schriftsteller Sigmund Freud. Im Jahr 1905 veröffentlichte Freud seine Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, die wohl nicht zu Unrecht zu seinen Hauptwerken gerechnet wurden und die ihn und seine Theorie, die Psychoanalyse, weit hinaus über jene Fachkreise, die Freud zu Lebzeiten eher geflissentlich ignorierten, bekanntgemacht haben.

In den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie erscheint der Kuss nun als »Abweichung in Bezug auf das Sexualziel«. Freud unterscheidet zwischen Sexualobjekt und Sexualziel. Das Sexualobjekt ist die Person, »von welcher die geschlechtliche Anziehung ausgeht«, während das Sexualziel die Handlung heißt, »nach welcher der Trieb drängt«.[1] Das Küssen zählt für Freud zu den Perversionen. Der gesellschaftliche Normalzustand der Sexualität war zu Freuds Zeiten (und nicht nur da) der heterosexuelle penetrierende Geschlechtsverkehr. Mit dieser angeblichen Normalität des Sexuallebens hat Sigmund Freud gründlich aufgeräumt, und das hat vermutlich nicht weniges zu dem großen Erfolg seines Buches beigetragen. Freud stellt nämlich recht unumwunden fest, dass viele, ja, wer weiß: alle Menschen zu solchen Abirrungen in Bezug aufs Sexualobjekt oder das Sexualziel fähig sind: »[V]iele sind abnorm im Sexualleben, die in allen anderen Punkten dem Durchschnitt entsprechen«, da die Sexualität als »schwacher Punkt« der Kulturentwicklung anzusehen sei.[2] Einige dieser Perversionen haben zudem ihren Ursprung in der frühen Kindheit, so Freud, in der der Mensch noch »polymorph pervers« ist, also zu »allen möglichen Überschreitungen« geneigt ist und eine gewisse Beliebigkeit in Bezug auf Lustobjekte und Sexualziele an den Tag legt.[3] Spätestens mit dieser Feststellung wurden Freuds Drei Abhandlungen skandalfähig, denn der Kindheit, die bis dahin als Zeit der Unschuld angesehen wurde, eine eigene Sexualität zuzusprechen, war in einer Ära, in der Sexualität grundsätzlich mit Schuld konnotiert wurde, einigermaßen unerhört. Freud trieb das Skandalon aber noch weiter, in dem er dieses polymorph Perverse allen Menschen attestierte, die also in Bezug auf Objektwahl und Ziel ihres sexuellen Verlangens deutlich anarchischer und promiskuitiver waren, als es die herrschende Sexualmoral offiziell vorsah. So stellt er fest, dass zwar als »normales Sexualziel« die »Vereinigung der Genitalien in dem als Begattung bezeichneten Akte« zur »Lösung der sexuellen Spannung und zum zeitweiligen Erlöschen des Sexualtriebes« gelte. Doch selbst bei diesem »normalsten Sexualvorgang« träten bereits bei Dir und mir jene »Abirrungen« auf, die als Perversionen angesehen würden.[4] Dazu zählt Freud alle Formen von »Betasten« und »Beschauen« des Sexualobjekts, die einerseits selbst mit Lust verbunden seien, andererseits die Erregung steigern würden. Eine spezielle Form der Berührung hebt Freud dabei gesondert hervor, nämlich das Küssen. Seine Beschreibung dieses romantischen Vorgangs kommt dabei einigermaßen unromantisch daher:

»Eine bestimmte dieser Berührungen, die der beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat ferner als Kuß bei vielen Völkern (die höchstzivilisierten darunter) einen hohen sexuellen Wert erhalten, obwohl die dabei in Betracht kommenden Körperteile nicht dem Geschlechtsapparat angehören, sondern den Eingang zum Verdauungskanal bilden.«

Dass das Küssen eine berührende Annäherung an den Eingang des Verdauungskanals darstellt, ist eine einigermaßen nüchterne Feststellung. Genau diese führt Freud aber einerseits vorwärts zur Psychopathologie, andererseits zurück in die menschliche Entwicklung in der Kindheit und die aufkeimende frühkindliche Sexualität. Bei den Psychoneurotikern sieht Freud »alle Neigungen zu den anatomischen Überschreitungen im Unbewußten und als Symptombildner«, unter ihnen »mit besonderer Häufigkeit und Intensität diejenigen, welche für Mund- und Afterschleimhaut die Rolle von Genitalien in Anspruch nehmen«.[5] Körperteile und Organe, die zum Ziel des Sexualtriebs werden, nennt Freud »erogene Zonen«. Was die Sexualität in der kindlichen Entwicklung angeht, mutmaßt Freud, dass sie deswegen so lange unentdeckt blieb, weil Du und ich selbst eine eigentümliche Amnesie in Bezug auf unsere früheste Lebensphase hätten. Da wir uns nicht an unser kleinkindliches Leben und unsere damaligen Lüste und Vergnügen erinnern könnten, würden wir ihr Vorhandensein insgesamt ausblenden. Dabei beginne Sexualität in der frühesten Kindheit, in einer Lebensphase, die Freud bezeichnenderweise die »orale Phase« nennt. Zu den frühesten Äußerungen infantiler Sexualität zählt Freud das »Ludeln«, »Lutschen« oder »Wonnesaugen«, das eben gerade nicht der Nahrungsaufnahme dient, sondern allein dem Lustgewinn:

»Das Ludeln oder Lutschen, das schon beim Säugling auftritt und bis in die Jahre der Reife fortgesetzt werden oder sich durchs ganze Leben erhalten kann, besteht in einer rhythmisch wiederholten saugenden Berührung mit dem Munde (den Lippen), wobei der Zweck der Nahrungsaufnahme ausgeschlossen ist«.[6]

Dabei werde ein Teil der Lippe selbst oder die Zunge oder eine beliebige andere erreichbare Hautstelle als Lustobjekt hergenommen, an dem gelullt, gelutscht oder gesaugt wird. Dieses »Wonnesaugen« könne entweder zum Einschlafen führen oder – welch Gegensatz! – »zu einer motorischen Reaktion in einer Art von Orgasmus«. Dieses wonnige Lutschen hat sich natürlich für Freud aus der ersten und lebenswichtigen Tätigkeit des Kindes, dem Saugen an der Mutterbrust, entwickelt. Das Stillen und die damit verbundene Lust wird zum Initialritus in der Entwicklung der Lippen zur erogenen Zone. Nahrungsaufnahme und Erotik lassen sich in dieser frühesten Phase des Kindes noch gar nicht trennen, oder in den Worten Freuds: »Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet.« Erst später macht sich dann die Sexualbetätigung von der zur Lebenserhaltung dienenden Funktion selbständig:

»Wer ein Kind gesättigt von der Brust zurücksinken sieht, mit geröteten Wangen und seligem Lächeln in Schlaf verfallen, der wird sich sagen müssen, daß dieses Bild auch für den Ausdruck der sexuellen Befriedigung im späteren Leben maßgebend bleibt.«[7]

Das Bedürfnis nach Wiederholung einer solchen Befriedigung, die zu einem so wohligen Gesichtsausdruck führt, trennt sich schließlich von der Nahrungszufuhr. Das Kind bedient sich einer eigenen Hautstelle, die es zur erogenen Zone kürt. Allerdings nimmt es schnell die Unvollkommenheit dieser autoerotischen Praxis wahr und macht sich auf die Suche nach einer besseren und befriedigenderen Partie. So entwickelt sich laut Freud aus dem Saugen und Stillen bei Erwachsenen das Küssen:

»Die Minderwertigkeit dieser zweiten Stelle wird es später mit dazu veranlassen, die gleichartigen Teile, die Lippen, einer anderen Person zu suchen (›Schade, daß ich mich nicht küssen kann‹, möchte man ihm unterlegen.).«[8]

Da nicht alle Kinder lutschen oder saugen, muss Freud davon ausgehen, dass es Menschen gibt, bei denen »die erogene Bedeutung der Lippenzone konstitutionell verstärkt ist«. Solche Leute werden seiner Ansicht nach als Erwachsene zu »Kußfeinschmeckern«, wenn sie nicht gar zu »perversen Küssen neigen oder als Männer ein kräftiges Motiv zum Trinken und Rauchen« entwickeln.

So einflussreich Freuds Abhandlungen auch waren, richtig überzeugend ist speziell seine Kusstheorie nicht. Die etwas monotone Zurückführung des Küssens auf die frühkindliche Nahrungsaufnahme erscheint zwar als nicht völlig abwegig, erklärt aber viele Phänomene, die Du und ich mit dem Küssen verbinden, nicht hinlänglich. Die Engführung des Küssens auf eine Verirrung mit Blick auf das Sexualziel verkennt darüber hinaus all die vielen Arten des Küssens, die ganz...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antike • Aufklärung • Freud • Goethe • Kant • Kino • Liebe • Lippenstift • Märchen • Nietzsche • non-binary • Ovid • Paar • Philosophie • Poesie • Pop-Art • Romantik • Sex • Wittgenstein
ISBN-10 3-10-491039-1 / 3104910391
ISBN-13 978-3-10-491039-0 / 9783104910390
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