Abschied von den Boomern (eBook)

Spiegel-Bestseller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
144 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28029-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Abschied von den Boomern - Heinz Bude
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Bye, bye, Boomer! Das Portrait einer Generation und ihrer inneren Widersprüche von Heinz Bude
Die Boomer nehmen Abschied. Wer zwischen 1955 und 1970 in der Zeit der geburtenstarken Jahrgänge zur Welt gekommen ist, hat den Ruhestand erreicht oder zählt zu den Älteren, die nach und nach ihre Posten freimachen. Die Boomer verbindet das Gefühl, dass es zu viele von ihnen gibt, das spürten sie schon in überfüllten Klassenzimmern und später auf dem Arbeitsmarkt. Daraus resultierte eine Haltung der Skepsis, und die Erfahrung von AIDS und Tschernobyl hat sie in einer entscheidenden Phase ihrer Biografie gelehrt, dass nichts gesichert und gar nichts garantiert ist. Heinz Bude, ein früher Boomer, beschreibt, wie sich mit dieser Generation auch ein Lebensgefühl verabschiedet, das unsere Gesellschaft über Jahrzehnte geprägt hat.

Heinz Bude, geboren 1954, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie. Von 2000 bis 2023 war er Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Er lebt in Berlin. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Adorno für Ruinenkinder. Eine Geschichte von 1968 (2018), Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee (2019) und, gemeinsam mit Bettina Munk und Karin Wieland, Aufprall (2020).

Frühe Prägungen


Man darf nicht vergessen, dass die Boomer im Nachbeben des Weltkriegs aufgewachsen sind. Sie erinnern sich an den Friseur, der sich durch seinen Salon mit einer Beinprothese jonglierte, und an den Nachbarn von gegenüber, dem ein Arm fehlte und der sich als Nachtwächter sein Geld verdiente; sie haben als Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen erlebt, wie die ganze Energie ihrer Eltern in den Bau eines Eigenheims floss; sie haben nach der Schule im Radio die Sendungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes gehört; sie wussten genau, welche ihrer Lehrerinnen und Lehrer Nazis waren. Da war früher nichts besser.

Die Oma hatte noch labbrige Geldscheine über hunderttausend Reichsmark aus der Inflationszeit von 1923 in der Schublade und sie erzählte, dass man dafür gerade mal ein Ei kaufen konnte. Onkel Helmut, der alle drei Wochen am Sonntagnachmittag zum Kaffeetrinken kam, tischte jedes Mal die Geschichte von der »Schlacht um Narvik« auf, als er 1940 mit der Gebirgsjäger-Division der Deutschen Wehrmacht im besetzten Norwegen der alliierten Übermacht, wie er sich eigentümlich gewählt ausdrückte, trotzte. Und wenn man in Wuppertal aufwuchs und mit dem Papa sonntagnachmittags nach dem Gang durch das Osterholz im Ausflugslokal »Neu-Amerika« einkehrte, servierte einem der dicke Kellner mit der weißen Jacke die nackte Brühwurst ganz allein auf einem großen weißen Teller, als wäre sie eine Spezialität aus der Neuen Welt. Nach dem Verzehr des unglaublich leckeren glitschigen Teils musste der Kleine dann noch zur Theke gehen, um dem Vater eine Fehlfarben zu 30 Pfennig zu holen, die dieser anbiss und, nachdem er das abgebissene Stück ausgespuckt hatte, mit einem Streichholz der Marke »Welthölzer« mit ein paar genüsslich paffenden Zügen anzündete.

Die Boomer sind die Kinder von jungen Weltkriegsteilnehmerinnen, die keine tragfähige Erinnerung an die erste deutsche Republik mehr hatten. Die Väter waren mehrheitlich zwischen 1920 und 1926 und die Mütter zwischen 1930 und 1936 geboren. Anfang der 1970er Jahre beherrscht diese relativ geburtenstarke Generation die Arbeits- und Gesellschaftswelt in beiden deutschen Staaten.5 Die Eltern sind im »deutschen Wirtschaftswunder der dreißiger Jahre« (Sebastian Haffner6) herangewachsen und haben zuerst das Nazi-Spektakel mit Autokult (der KdF, das heißt: Kraft-durch-Freude-Wagen als Volkswagen, kurz VW), mit Schlagern aus dem Volksempfänger (»Ich brech’ die Herzen der stolzesten Frau’n«) und mit Kinoglamour (das Traumpaar Lilian Harvey und Willy Fritsch) erlebt und nach dem Scheitern des Blitzkriegs gegen die Sowjetunion den Ausbruch der Angst und des Terrors in der Heimat.7 Schönheit und Gewalt passten plötzlich nicht mehr zusammen. Die Eltern der Boomer wurden als junge Soldaten in die Endoffensiven des Zweiten Weltkriegs geworfen oder mussten als junge Mädchen mit Luftschutzkellerkompetenz auf ihre kleinen Geschwister aufpassen. Den bei der HJ und beim BDM eingeübten Leistungsfanatismus (so ein ganz schön brennender Ausdruck von Hans-Ulrich Wehler8) haben sie in den Wiederaufbau der Bundesrepublik wie der DDR eingebracht. Als kindliche Zeugen dieser Affektverwandlung von Weltkriegern in Wiederaufbauerinnen haben die Boomer eine Ahnung vermittelt bekommen, wie Größe kleingearbeitet wird und wie aus Träumen Schäume werden.

Das alles spielte sich ab in einer Welt mit Einbauküchen, Schmelzkäseecken und Whisky der Marke Racke Rauchzart, mit Müttern, die sich als Genusszigarette eine Astor gönnten, und mit Vätern, die am Donnerstagabend zum Kegeln verschwanden. Ein Gefühl für sich selbst entwickelten die Heranwachsenden nur dann, wenn sie sich den Mysterien des Pettings, der Kraft des Mopeds und den Songs aus dem leise unter dem Handtuch spielenden Radio überlassen konnten.9

Das Mädchen trug eine samtblaue Cordhose und ein orangefarbenes Twinset, der Junge eine hellbraun gestreifte Hose mit Schlag und einen karierten Pullunder aus Polyamid. Man traf sich zum Überspielen der neuesten Platte der Beatles, weil der Junge einen Plattenspieler von Dual besaß, das Mädchen aber nur ein Tonbandgerät, immerhin von Grundig. Der Junge sagte, dass er am liebsten »Nowhere Man« und »Norwegian Wood« und natürlich »Michelle« habe, wozu das Mädchen jedoch schwieg.

In beiden deutschen Staaten haben die Boomer von Anfang an die zwiespältige Erfahrung gemacht, Hoffnungsträger eines gesellschaftlichen Neubeginns und zugleich Betroffene einer bildungspolitischen Notlage zu sein. Für sie wurde die »reformierte Oberstufe« eingerichtet, sie haben in »Kurzschuljahren« Bildungszeit gespart, aber dafür mussten sie sich dann an einer Massenuniversität in Einführungsseminaren mit 150 Leuten und in Sprechstunden mit Arbeitsgruppen von sechs oder acht Kommilitoninnen durchschlagen. Das Andere der Zahlenmacht der Jungen war die Ressourcenknappheit der für sie vorgesehenen Einrichtungen. Man wurde gelockt (»Auf euren Schultern liegt die Zukunft«) und kriegte einen auf den Deckel (»Leider reicht es nicht für alle«). Sie waren einfach immer zu viele. Aus dieser Erfahrung rührt eine gewisse Skepsis gegenüber großen Erwartungen. Man verlässt sich besser auf sich selbst als auf die anderen, die einen doch nur vor deren eigenen Wagen spannen wollen. Die Boomer trauen sich was (weil sie den Pop in der Musik, in der Literatur oder als Haltung inhaliert hatten), können schlauer lesen (weil sie behaupten konnten, dass Peter Handke ihnen mehr sagt als Theodor Storm) und schlauer reden (weil sie sich das kritische Vokabular der Achtundsechziger angeeignet hatten), aber sie lassen sich nicht so leicht dazu verführen, mit einer neuen Zeit zu ziehen.10 Bewegungsformeln (»Aufbruch«, »Rückkehr« oder »Standhalten«) wirken auf sie verstaubt und mit Generationsausrufen (»Erfindet euch neu!«, »Ergreift eure Chancen!« oder »Nehmt euch, was euch zusteht!«) können sie nichts anfangen. Das ist die Sprache von Leuten, die ihre eigenen Probleme zu denen der anderen machen.

Sie starten in den 1960er Jahren als Kinder mit der Mitgift eines Wirtschaftswunders, das die deutsche »Orientierung am Unwirklichen« durch die bundesrepublikanische »Konzentration aufs Konkrete« ersetzte: Die ganze Familie klatscht vor den gebratenen Hähnchen vom »Hühner Hugo« in die Hände, zum Sommerurlaub an den Gardasee ist der VW Käfer pickepacke voll mit Menschen, Freizeitkleidung und Dosenwurst und der Kartoffelsalat wird, jedenfalls in der süddeutschen Variante, mit Fleischbrühe von Knorr zubereitet. »Kraft in den Teller — Knorr auf den Tisch«, empfiehlt Hans Tilkowski, hörbar aus Herne, der Torhüter beim Wembley-Tor am 30. Juli 1966, in der Fernsehwerbung in Schwarzweiß.11

Als Jugendliche erleben die Boomer in den 1970er Jahren eine Zeit mit autofreien Sonntagen, Smogalarm und »Sockelarbeitslosigkeit«. Das entscheidende Stichwort zur Lage der Dinge lautete »Grenzen des Wachstums« (Club of Rome). Anhand von unmissverständlichen Daten und Grafiken skizzierten Donella und Denis Meadows mit ihren Mitstreiterinnen in ihrem 1972 erschienenen Klassiker12 verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten des von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoffen und der Zerstörung von Lebensraum angetriebenen »Weltsystems« bis zum Jahr 2100, die alle auf einen planetarischen Kollaps hinausliefen. Das war keine apokalyptische Fantasie, sondern eine mit wissenschaftlichen Mitteln erstellte Prognose begrenzter Ressourcen auf einem übervölkerten Planeten. Die Erde war durch den Menschen endlich geworden und es erhob sich die leninistische Frage »Was tun?«. »Smog« hieß ein 1973 ausgestrahltes Dokuspiel nach einem Drehbuch von Wolfgang Menge, das eine Smogkatastrophe im Ruhrgebiet als Erstickungsnotstand in Szene setzte. Die vielen Anrufe, die den WDR noch während der Sendezeit erreichten, belegten, dass der ökologische Horror dem Publikum als eine mögliche Realität erschien.

Aber nicht nur die äußere, sondern auch die innere Natur schien den Menschen die Luft abzuschneiden. Der Krebs wird als Metapher einer Krankheit entdeckt, die von der Unfähigkeit der Erkrankten rührt, ihre...

Erscheint lt. Verlag 29.1.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bildungsreform • Kalter Krieg • Ökologie • Sozialismus • Tschernobyl • Utopie
ISBN-10 3-446-28029-4 / 3446280294
ISBN-13 978-3-446-28029-8 / 9783446280298
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