Deutschland der Extreme (eBook)
270 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3502-2 (ISBN)
In Thüringen greift die AfD nach der Macht und bringt die ganze Republik in Bedrängnis
Martin Debes erzählt die Geschichte eines Landes, das Experimentierfeld extremer politischer Strömungen war und wieder geworden ist: Genau ein Jahrhundert, nachdem in Weimar erstmals Bürgerliche mithilfe völkischer Extremisten regierten, steht die Demokratie in Thüringen vor einer neuen Herausforderung. 2024 könnte die AfD Wahlsieger und damit regierungsentscheidend werden. Das ist nicht nur ein Härtetest für die Region, sondern einer für die ganze Bundesrepublik. Thüringen steht damit beispielhaft für die Bedrohung der Demokratie in Deutschland.
»Über Martin Debes ärgern sich Björn Höcke und Bodo Ramelow gleichermaßen - zu Recht. Ein Thüringer Journalist, der in ganz Deutschland gelesen wird.« Robin Alexander, Die Welt
»Schnell, lakonisch und mit Schärfe analysiert Martin Debes den Irrsinn, der sich in seiner Heimat Thüringen abspielt.« Medium Magazin
Die Pflichtlektüre im Vorfeld der Landtagswahlen in Ostdeutschland
Martin Debes, 1971 in Jena geboren, ist Journalist und Buchautor. Er studierte Politikwissenschaften in Jena und in den USA, besuchte die Münchner Journalistenschule und arbeitete als Chefreporter für die Funke Mediengruppe in Thüringen und als Autor für Die Zeit und Der Spiegel. Inzwischen ist er Reporter im Hauptstadtbüro des Stern. Zuletzt erschien von ihm das Buch 'Demokratie unter Schock' über die Wahl des FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD und eine Sammlung seiner Kolumnen mit dem Titel 'Ach, Thüringen ...' sowie 2024 'Deutschland der Extreme. Wie Thüringen die Demokratie herausfordert' bei Aufbau / Ch. Links Verlag.
Prolog
Erfurt, 29. April 2023. »Höcke! Höcke! Höcke!« Die Menge skandiert den Namen des Thüringer AfD-Vorsitzenden. Trommeln geben den Takt vor. Etwa 1000 Männer und auch einige Frauen stehen versammelt im Karree, das gesäumt ist von Absperrgittern und einer Hundertschaft hochgerüsteter Polizisten.
Das hintere Drittel des Platzes vor dem Theater ist nahezu leer. Es sind längst nicht so viele Teilnehmer gekommen, wie die Thüringer AfD erhofft und angemeldet hatte. Doch immerhin, vor der Bühne ballen sich die Menschen. Sie sind mit ihren Flaggen, auf denen die Friedenstaube oder die Aufschrift »Widerstand« zu sehen ist, von der Staatskanzlei hierhergezogen und wollen jetzt den Mann sehen, nach dem sie so laut rufen.
Plötzlich steht er auf der Bühne. Björn Höcke reißt beide Arme schräg nach oben, sodass sie ein V bilden. Er trägt seine kundgebungsbewährte Kombination: dunkelblaues Jackett, Jeans, weißes Hemd. Sein Körper ist von vielen Joggingläufen trainiert. Der ergraute Seitenscheitel sitzt.
Höcke ist inzwischen jenseits der 50. Zehn Jahre hat er in der AfD verbracht. Obwohl er auf Bundesebene nie eine Funktion besaß, führt er die Partei inzwischen von hinten. Er sorgte mit dafür, die einstigen Vorsitzenden Bernd Lucke, Frauke Petry und Jörg Meuthen politisch zu erledigen. Und er dominierte auf den jüngeren Bundesparteitagen die Abstimmungen über Personal und Anträge.
Das weiß auch Alice Weidel. Die Vorsitzende der Bundespartei ist an diesem trüben Frühlingstag nach Erfurt gereist, um Höcke ihre Referenz zu erweisen. Einst stimmte sie für seinen Parteiausschluss. Doch ab 2018 begann sie, sich mit ihm zu arrangieren. Sie hatte begriffen, dass auch sie eine Konfrontation mit dem Rechtsextremisten politisch nicht überleben würde.
Das Zweckbündnis vermittelte Götz Kubitschek. Der Gründer des sogenannten Instituts für Staatspolitik, das vom Verfassungsschutz beobachtet wird, ist auch in Erfurt auf dem Theaterplatz, und sieht, wie Weidel auf der Bühne Höcke in den Arm nimmt. Die Frau, die für die Investmentbank Goldman-Sachs arbeitete, die in einer lesbischen Lebensgemeinschaft mit einer in Sri Lanka geborenen Partnerin lebt und in der Partei als »Globalistin« beschimpft wird – und die Frau, die, wenn es ihr opportun erscheint, gegen »Kopftuchmädchen«, »alimentierte Messermänner« oder »sonstige Taugenichtse« polemisiert.1
Die Machtbalance zwischen Weidel und Höcke ist ungewöhnlich: Die Vorsitzende der Bundespartei braucht den Landesvorsitzenden mehr als er sie benötigt. Denn im Gegensatz zu ihr besitzt Höcke eine stabile Operationsbasis: Thüringen. Hier führt er seit 2013 die AfD und leitet seit 2014 die Fraktion im Landtag. Hier gründete er sein Netzwerk »Flügel«, mit dem er die Partei immer weiter nach rechts drängte. Und hier sehen Umfragen seine Landespartei als deutlich stärkste Kraft.
»Die Voraussetzungen sind in Thüringen besonders gut«, ruft Höcke. In Erfurt habe »das Kartell« der »Altparteien« seine »ganze Machtgier« gezeigt, als es 2020 die Wahl des Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich »rückgängig gemacht« und später die versprochene Neuwahl abgesagt habe. Das Vertrauen in das überkommene System sei deshalb hier besonders niedrig. Höckes Ziel: Er will Ministerpräsident werden. Nach der Landtagswahl am 1. September 2024 soll die AfD die Landesregierung anführen: »Wir operieren in einer auf Jahre angelegten politischen Strategie. Wir werden regieren, und wir werden gestalten und werden die Zukunft erstreiten. Und wir fangen hier in Thüringen, hier in unserer blauen Hochburg, damit an.«
Wahrscheinlich ist das nicht. Denn dafür benötigte die AfD die absolute Sitzmehrheit im Parlament. Völlig ausgeschlossen ist das Szenario aber auch nicht mehr. Zumal: In der CDU hat längst wieder die Debatte darüber begonnen, ob AfD-Stimmen zumindest billigend in Kauf genommen werden könnten, um die linke Regierung abzulösen. Diese Überlegungen erinnern an eine Konstellation, die vor einem Jahrhundert in Weimar ihre unrühmliche Premiere hatte: eine konservative Landesregierung, toleriert von einer Tarnorganisation der verbotenen NSDAP.
Vor 100 Jahren
Doch warum Thüringen? Was ist besonders an dem Land, in dem viele Menschen vor allem Fichtenwälder und Bratwurst-Grillstätten vermuten? Die Antwort: sehr viel.
Thüringen ist das Land, in dem Bach geboren wurde und Luther das Neue Testament übersetzte. Das Land, in dem Goethe und Schiller ihre größten Werke schrieben, in dem die Frühromantiker wirkten und das Bauhaus entstand. Das Land, in dem SPD und Urburschenschaft gegründet wurden, in dem sich die erste deutsche Republik konstituierte und sich eine Verfassung gab.
Thüringen ist aber auch das Land, in dem 1924 – also genau vor 100 Jahren – Bürgerliche erstmals Rechtsextremisten an der Macht beteiligten. Das Land, das Hitler zu seinem Mustergau umbauen ließ. Das Land, das die Öfen für die Krematorien in Ausschwitz produzierte.
Und Thüringen ist das Land, in dem mit Bodo Ramelow der einzige linke Ministerpräsident an der Spitze der einzigen Minderheitsregierung Deutschlands steht. Das Land, in dem mit Björn Höcke der radikalste und wirkmächtigste AfD-Politiker agiert. Das Land, aus dem der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) kam.
Nirgendwo sonst in der Bundesrepublik besetzen Linke und AfD gemeinsam die Mehrheit der Parlamentssitze. Nirgendwo anders wählten Rechtsextreme einen Ministerpräsidenten und kam der erste AfD-Landrat ins Amt. Und nirgendwo anders hat sich die Politik seit 2019 derart selbst blockiert. In der Folge ist das Ansehen der Landesregierung, die Zufriedenheit der Menschen mit der Praxis der Demokratie und das Vertrauen in staatliche Institutionen besonders stark gesunken.2
Wie wurde Thüringen zu einem Land der Extreme? Wieso stehen in Thüringen derart viele Belege der Schöpfung von Hochkultur und demokratischen Werten direkt neben den Mahnmalen, die von den Versuchen ihrer Zerstörung zeugen?
Die Gründe reichen weit in die Geschichte zurück. Sie wurzeln im fruchtbaren Erbe der kleinstaatlichen Residenzen, aber auch in den Verwerfungen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Sie basieren auf mangelnder westlicher Demokratieerfahrung, den Traumata historischer Transformationen und der Enttäuschung, mit den eigenen, womöglich illusorischen Vorstellungen einer solidarischen, konsensualen, aber doch freien Gesellschaft nicht gesehen zu werden.
Am Anfang stand die Kulturlandschaft zwischen Vogtland, Rhön und Eichsfeld, die seit dem frühen Mittelalter Thüringen heißt. Darüber schichteten sich die Sedimente der neueren Geschichte. Die kulturelle Vielfalt der Miniaturfürstentümer, die bis ins 20. Jahrhundert überdauerten. Die Industrialisierung mit Zeiss, Schott und den Eisenacher Motorenwerken. Die Wirren der Republik, der Weimar ihren Namen gab. Die Schrecken von Naziherrschaft und Krieg. Die Unterdrückung durch die Sowjets und die Repression des DDR-Systems. Das Glücksgefühl der Selbstermächtigung von 1989. Der Wiederaufbau beim gleichzeitigen Durchstehen von Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit. Die Folgen des Skiunfalls eines Ministerpräsidenten und das Versagen bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das politische Unvermögen ab dem Jahr 2019, eine Mehrheit zu bilden. Der Schock der Kemmerich-Wahl und der lärmende Stillstand seither.
Mehr als ein Drittel der Thüringer Bevölkerung hegt das Gefühl von Zweitklassigkeit.3 Dieses Drittel findet sich insbesondere in jenen Regionen, die einst wirtschaftliche oder kulturelle Bedeutung besaßen, aber jetzt als strukturschwach und abgehängt gelten. Hier ist das Gefühl des Abstiegs besonders stark – und korreliert mit Wahlerfolgen von Rechtspopulisten. Dieser Zusammenhang wurde in einer Studie der Universität Jena belegt.4
Sowieso mangelt es nicht an wissenschaftlichen Deutungen. So wird etwa mit dem Begriff der Deprivation das Gefühl von Entbehrung, Verlust und...
Erscheint lt. Verlag | 14.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | AfD • Bestseller • Björn Höcke • Bodo Ramelow • Bundestagswahl 2025 • Die Linke • Extremismus • landtagswahl thüringen 2024 • Linksextremismus • Linksradikalismus • Ostdeutschland • Rechtsextremismus • Rechtsradikalismus • spiegel bestseller • Thüringen • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-8412-3502-6 / 3841235026 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3502-2 / 9783841235022 |
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