Unter Beobachtung -  Philip Manow

Unter Beobachtung (eBook)

Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde | Das Buch zum vieldiskutierten Essay »Der Geist der Gesetze« in der Zeitschrift »Merkur«

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
252 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77996-5 (ISBN)
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Seit wann und aus welcher Interessenlage heraus ist der Begriff der liberalen Demokratie eigentlich politisch sinnfällig geworden? Und wie hängen unsere analytischen Konzepte mit den institutionellen Kontexten sowie mit den Konflikten zusammen, die sie bloß zu beschreiben vorgeben?

Philip Manow skizziert eine mit der jüngsten Entwicklung der politischen Institutionen sowie der dadurch ausgelösten Krise systematisch verwobene Begriffsgeschichte unserer demokratischen Gegenwart. Dabei deutet der Politikwissenschaftler die derzeitige Krise als Konsequenz der Epochenschwelle von 1989/90. Generell zeigt sich: Unsere Ontologien sind immer historisch und deswegen auch immer politisch. Dies gilt im Besonderen, wenn es sich um Ontologien des Politischen handelt.



Philip Manow , geboren 1963, ist Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Siegen. In der edition suhrkamp erschien zuletzt <em>(Ent-)Demokratisierung der Demokratie</em> (es 2753).

91. Warum wir die Demokratie, einschließlich unseres Verständnisses von ihr, historisieren müssen


Hat es eigentlich vor – sagen wir – 1990 Feinde der liberalen Demokratie gegeben? Die Frage mag überraschen oder irritieren, und vielleicht meine Antwort auf sie noch mehr, denn wie ich im Folgenden argumentieren möchte, sollte die Antwort lauten: Nein, die hat es nicht gegeben.

Die erläuterungsbedürftige Ausgangsfrage paraphrasiert den ersten Satz eines einflussreichen Aufsatzes des Philosophen Ian Hacking. Er beginnt seinen ursprünglich 1986 erschienenen Essay »Making up people« (»Leute erfinden«) mit der Frage: »Gab es vor dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert Perverse?« (Hacking 2006b [2002], S. 119) Nun sollen hier keine Parallelen zwischen ›Feinden der liberalen Demokratie‹ und ›Perversen‹ nahegelegt werden. Was aber heißt es, dass es solche Gruppen ›gibt‹? Was bedeutet es, dass es in bestimmten Gesellschaften zu bestimmten Zeiten Trauma, Teenager-Schwangerschaft, Anorexie, Adoleszenz, Fettleibigkeit usw. ›gibt‹? Es gibt keine menschliche Gesellschaft ohne Siebzehnjährige, aber nicht alle fassen sie mit Zwanzigjährigen zur Kategorie der ›Heranwachsenden‹ zusammen. Um also herauszufinden, was eine Gruppe wie eben die der ›Feinde der liberalen Demokratie‹ ist, muss man nicht nach ihren Merkmalen fragen, son10dern nach den Beobachtungen, die sie überhaupt erst erzeugen. Mit dieser Art des Fragens eröffnet sich daher die Möglichkeit, über die Geschichtlichkeit unserer Begriffe und Konzepte und die Konsequenzen der mit ihnen jeweils erfolgten Gegenstandskonstituierung nachzudenken.

Die Antwort auf die Frage, ob es vor dem Ende des 19. Jahrhunderts eigentlich Perverse gegeben habe, fällt bei Hacking (wie bei Arnold Davidson, auf den er sich an dieser Stelle bezieht) negativ aus: Nein, es gab sie nicht. »Perversion war keine Krankheit, die in der Natur lauerte und auf einen Psychiater wartete, der mit einem besonders scharfen Blick gesegnet war und entdeckte, dass sie überall verborgen lag. Es war eine Krankheit, die durch ein neues (funktionales) Krankheitsverständnis erschaffen wurde.« (Davidson 2001, S. 24) Es hat ohne Zweifel zu jeder Zeit Menschen mit abweichendem, bizarrem (Sexual-)Verhalten gegeben, aber die Kategorie des ›Perversen‹, die ›Perversion‹ als Krankheit, der ›Perverse‹ als kranke Person, sie sind allesamt ein Konstrukt eben jener Zeit, des späten 19. Jahrhunderts, das entlang der zentral werdenden Kategorien ›abweichend‹ und ›normal‹ unzählige Unterscheidungen trifft.

Exakt so verhält es sich mit vielen anderen uns heute ganz selbstverständlich erscheinenden Kategorien. Man konnte zum Beispiel auch erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts im Sinne einer Person, eines Typus von Person, ›homosexuell‹ sein (wie man deswegen auch erst ab dann im eigentlichen Sinne ›heterosexuell‹ sein konnte). Bekanntlich sind gleichgeschlechtliche Praktiken alt, aber the making of the modern homosexual (Plummer 111981) bleibt dennoch ein Ereignis, das erst vor Kurzem, vor etwa 140 Jahren stattgefunden hat.

Doch was bedeutet das für unseren Kontext, für die Diskussion über die aktuelle Krise der (liberalen) Demokratie? Ich möchte argumentieren, dass die Frage, ob es vor 1990 Gegner oder Anhänger der liberalen Demokratie gegeben habe, tatsächlich so verneint werden muss, wie es Hacking in Bezug auf die von ihm gestellte Frage tut: Nein, es hat sie nicht gegeben. Und zwar aus dem analogen Grund, weil es die liberale Demokratie weder als spezifische Vorstellung noch als distinktes institutionelles Ensemble gab. Selbstverständlich kannten auch schon vor 1990 einige Länder, um nur ein besonders prominentes Element (einer Vorstellung von) einer liberalen Demokratie zu nennen, Verfassungsgerichte mit Normenkontrollkompetenzen1 und damit sicher auch ›Gegner‹ dieser spezifischen Konstellation von Institutionen und Befugnissen. Zur explizit gemachten Modellvorstellung der liberalen Demokratie wurde dies jedoch erst später. Ebenfalls erst später hat sich dieses Modell institutionell in einer großen Anzahl von Ländern durchgesetzt. Und beide Entwicklungen hängen auf eine vertrackte Weise zusammen und hören nicht auf, die Konflikte unserer Gegenwart zu prägen.2

Man konnte sich also – zugespitzt formuliert – vor 1990 weder für noch gegen die liberale Demokratie entscheiden, sehr wohl aber für oder gegen die Demokratie. Ein Orbán ›vor seiner Zeit‹, der etwa in den 1970ern verkündet hätte, er strebe eine ›illiberale Demokratie‹ an, wäre wohl lediglich auf Unverständnis gestoßen. Ein solches Bekenntnis wäre eines ohne besonderes Provo12kationspotenzial geblieben, ein politisches Coming-out ohne Referenzpunkt. Dieser Referenzpunkt entstand erst im Kontext spezifischer politischer Konflikte und Brüche, er ist das Resultat einer beschreibbaren historischen Konstellation, in der die illiberale Demokratie als Antwort auf konkrete Problemlagen erscheinen konnte – wie das gleichermaßen zuvor für die liberale Demokratie galt.

Aber was ist zu gewinnen, wenn wir die Frage nach dem historischen Auftritt der Feinde der liberalen Demokratie im Kontext aktueller Krisendiagnosen stellen? Eine der Thesen dieses Buches lautet, dass der mögliche Gewinn einer solchen Fragestellung nicht weniger als die analytische Durchdringung der historischen Auftritts- und Erfolgswahrscheinlichkeit unterschiedlicher Demokratieverständnisse in konkreten Umgebungen mit benennbaren Akteuren in manifesten institutionellen Settings betrifft. Und dass dies die Voraussetzung dafür ist, unsere gegenwärtige politische Krise zu verstehen.

Es ließe sich hiergegen einwenden, dass die historisch differenzierende Unterscheidung von Verständnissen der Demokratie angesichts der ihr gegenwärtig drohenden Gefahren ein bloßes Spiel mit Worten sei. Hat es denn im 20. Jahrhundert nicht genügend ganz grundsätzliche Gegner der Demokratie gegeben, der Demokratie tout court – mit welchen Zusatzattributen wir sie sonst noch versehen mögen (Hanson 1989)?3 Und da unter einen solchen generischen Begriff der Demokratie dann ja auch liberale Spielarten fallen würden, müsste es doch schon immer auch Gegner der liberalen Demokratie ge13geben haben. Und überhaupt und noch grundsätzlicher: Ist es nicht eine in die Irre führende Differenzierung, zwischen Gegnern der Demokratie und Gegnern der liberalen Demokratie unterscheiden zu wollen, wenn für die überwiegende Zahl der Beobachter heute vollkommen evident ist, dass eine Demokratie entweder liberal oder gar nicht demokratisch ist, wenn der Begriff der liberalen Demokratie uns nun als Pleonasmus, der der illiberalen hingegen als Oxymoron erscheint?4

Exakt darum geht es aber gerade – um ein Verständnis der Zeitspezifik eines Konflikts, aus dem heraus die Konzepte geprägt werden und in dessen Kontext sie daher auch zu verstehen sind, verstanden werden müssen, sprich um die Zeitspezifik der Konzepte selber. Denn nur mit einer solchen Einsicht lässt sich über die Beschränkungen und Fixierungen vermeintlich unabdingbarer, starrer Konfliktlinien und Konfliktverläufe hinausgelangen. Anders formuliert: Es geht darum, das vorgeblich Selbstverständliche als das nur für eine gewisse Zeit als selbstverständlich Erscheinende auszuweisen, darum, die Naivität der unmittelbaren, der unvermittelten Anschauung hinter sich zu lassen – die unsere gegenwärtige Debatte über die Krise der liberalen Demokratie prägt. Denn der Satz, dass es sich bei der ›liberalen Demokratie‹ ja eigentlich um einen Pleonasmus handele, wäre um 1970 vermutlich genauso unverständlich gewesen wie Orbáns Satz von der ›illiberalen Demokratie‹.

Daher möchte ich der von Hacking inspirierten Ausgangsfrage folgen und darauf beharren, dass es sinnvoll 14ist, sie zu stellen und zu verneinen, dass sie also nicht nur einer akademischen Lust entspringt, Dinge, die doch eigentlich ganz klar und einfach liegen, unnötig zu verkomplizieren, vermutlich um des intellektuellen Distinktionsgewinns willen. Die Frage kann uns gerade dadurch, dass sie Zeiten und Konzepte auf zunächst kontraintuitive Weise gegeneinanderstellt, auf drei wichtige Umstände aufmerksam machen, die in der aktuellen Auseinandersetzung über die Krise der Demokratie und die Folgerungen, die aus dieser Krise zu ziehen ...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Begriff • Demokratietheorie • Der Geist der Gesetze • edition suhrkamp 2796 • ES 2796 • ES2796 • Gewaltenteilung • Krise • Liberalismus • Merkur • Ontologie • Populismus • Rechtsstaat • Verfassung • Wende
ISBN-10 3-518-77996-6 / 3518779966
ISBN-13 978-3-518-77996-5 / 9783518779965
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