Komm dahin, wo es still ist (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01617-0 (ISBN)
Vanessa Vu, geboren 1991, hat Ethnologie, Internationales Recht und Südostasien in München, Paris und London studiert. Sie besuchte die Deutsche Journalistenschule und wurde im Anschluss Redakteurin für ZEIT Online. Vu wurde für ihre Arbeit u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Helmut-Schmidt-Preis und dem Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet. Sie moderiert das «Klassenzimmer» in der Schaubühne Berlin und war Co-Host des vietdeutschen Podcasts «Rice and Shine».
Vanessa Vu, geboren 1991, hat Ethnologie, Internationales Recht und Südostasien in München, Paris und London studiert. Sie besuchte die Deutsche Journalistenschule und wurde im Anschluss Redakteurin für ZEIT Online. Vu wurde für ihre Arbeit u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Helmut-Schmidt-Preis und dem Lessing-Preis für Kritik ausgezeichnet. Sie moderiert das «Klassenzimmer» in der Schaubühne Berlin und war Co-Host des vietdeutschen Podcasts «Rice and Shine». Ahmad Katlesh, geboren 1988 in Damaskus, lebt als Schriftsteller, Sprecher und Journalist in Berlin. Er veröffentlichte Lyrik und Prosabände in Syrien und Jordanien, sein erster Gedichtband auf Deutsch erschien im November 2020 und wurde mit dem Chamisso-Publikationsstipendium der Friedrich-Baur-Stiftung ausgezeichnet. In seinem Podcast «Tiklam» vertont er für ein Millionenpublikum literarische Werke auf Arabisch.
Brücke auf zwei Wellen
September–Dezember 2021
Ahmad,
ich wollte dich eben anrufen, habe mich aber wieder daran erinnert, wie ich dir letztes Jahr aus diesem Kinderzimmer E-Mails schrieb, und mich entschieden, es wieder so zu machen.
Heute habe ich endlich die Äpfel aus dem Garten gesammelt. Jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Küche an der Terrassentür vorbeilief (und das tat ich in den letzten Tagen oft), wurde mir ihr Anblick schwerer erträglich. Nicht weil sie da rumlagen, sondern weil sie zwischen ungemähten Gräsern, vertrockneten Blumenbeeten und verwilderten Sträuchern rumlagen und ich kaum mit ansehen kann, wie mein Elternhaus zerfällt. Aber das herbstwarme Wetter stimmte mich mild und es ist mein letzter Tag hier.
Gleichgültig gebückt las ich also einen faulen Apfel nach dem nächsten auf, ließ ihn in den süßlich riechenden Eimer voller Ameisen plumpsen und schleppte Eimer um Eimer zum Kompost. Einige Früchte wirkten noch in Ordnung, ich wollte sie erst aussortieren und Kuchen backen, aber mein Ehrgeiz ließ schnell nach. Ich griff immer mechanischer um mich, leerte einen Quadratmeter nach dem nächsten und fragte mich, wie es wohl damals für meine Mutter war, am Fließband faule Gurken auszusortieren. Ob sie dabei beide Arme nutzte oder nur einen? Ob sie über die Jahre eine Bewegung perfektionierte oder sich Herausforderungen ausdachte, um diese stumpfe Arbeit hinter sich zu bringen? Oder schalteten sich ihr Blick und ihre Gedanken allmählich aus, bis sie Feierabend hatte und sie sich zur nächsten Arbeit schleppen musste: uns Kindern und dem Haushalt?
Mein Vater gähnte. Er saß etwas verloren im Schlafanzug auf einer niedrigen Bank, die Knie zusammengedrückt, und schaute in die Luft. Sein Körper war so dürr wie immer, nur fällt das sonst nicht auf, weil er sich so viel bewegt – wie eine Ameise, die in endlosen Straßen Blattstückchen oder Steinchen transportiert. Habe ich dir je von meinem Lieblingsspiel erzählt? Als Kind durfte ich auf seinen Rücken klettern, mein Vater mimte dann mit Zeigefingern an den Schläfen Ameisenfühler und wir krabbelten wild durch den Raum und riefen auf Deutsch: «Ameise! Ameise!» Es war ein Riesenspaß.
Heute Nachmittag aber, unter dem dünn gewordenen Stoff und in dieser seltsam eingesunkenen, ruhenden Haltung, wurde mir erneut klar, wie alt er geworden war.
Vier Tage haben wir nun zusammen verbracht, das erste Mal nur wir zwei. Das erste Mal arbeitete ich, während er sich bemühte, seinen Infekt auszusitzen. Jeden Tag habe ich ihm eine Suppe gekocht, und je länger wir danach noch zusammensitzen konnten, desto leichter wurde mir. Ihm geht es inzwischen wieder besser. Ich denke, ich kann ihn morgen guten Gewissens wieder alleine lassen.
Es war seltsam, diesmal nach Pfarrkirchen zu fahren. Alles war wie immer und doch nicht: Am Bahnhof sonnten sich dieselben beschwipsten Herrschaften, in der Kastanienallee saßen Rentner und Alkoholiker, eine Frau zog ihren Hund hinter sich her, der Asphalt war grau und an seiner Seite parkten polierte Autos. Ansonsten nichts los, im August ziehen sich die Leute hier für gewöhnlich in ihre Häuser oder in ihren Jahresurlaub zurück. Ich muss seltsam ausgesehen haben, so komplett in Schwarz gekleidet, mit meiner prallen Einkaufstüte und einem viel zu schnellen Schritt für diese verschlafene Kleinstadt, aber ich war in irrer Sorge.
Zu Hause angekommen, lief ich sofort ins Schlafzimmer, im Bett lag mein Vater und verzog sein Gesicht: «Du? Was machst du hier?»
Was für eine doofe Frage! Ich hab es nicht ertragen, dich ganz allein und krank zu wissen, hätte ich ihm gern gesagt. Stattdessen behauptete ich einen Tick zu fröhlich: «Ich kann doch von überall aus arbeiten!» Und: «Wer soll denn sonst für dich kochen, wenn Mama in Vietnam ist? Hast du schon zu Mittag gegessen?»
«Nein, noch nicht», antwortete er matt, und ich ging in die Küche, legte Hähnchenteile und Zwiebeln in einen Suppentopf, goss Wasser auf und brachte die Brühe zum Kochen, hackte Kräuter, weichte Glasnudeln und Trockenpilze ein. Ich schälte außerdem Ingwer für einen Tee und presste noch eine Zitrone rein, rührte Honig dazu.
Dann setzte ich mich wieder zu ihm ans Bett, diesmal schon etwas milder. Auch ich war müde von der langen Zugfahrt. Ich fragte, ob ihm etwas wehtue. Er habe solche Schmerzen gehabt, sagte er, vor allem beim Husten! Er legte beide Hände an den Kopf: «So», sagte er, «habe ich mir den Kopf halten müssen, wenn ich gehustet hab.» Warum hast du niemandem was gesagt, dachte ich. «Hast du Medikamente genommen?», fragte ich. «Nein», sagte er.
An die nächsten Stunden erinnere ich mich nicht mehr, dabei sind sie nicht mal lange her. Ich weiß nur noch, dass er kaum aß und dass ich erst spät nachts, als ich keinen Husten mehr hörte, meine eigene Erschöpfung zuließ.
Über acht Stunden sind es von unserer Berliner Wohnung aus zu meinen Eltern. Früher scherzte ich oft, dass Hanoi auch nicht viel weiter weg wäre. Natürlich ist das Quatsch, die Flüge nach Vietnam dauern mindestens doppelt so lange wie eine Zugfahrt nach Niederbayern, und in Kilometern gemessen ist Hanoi dreizehnmal so weit weg. Aber es gibt ja noch die gefühlte Distanz, und was ich hier vorfand, könnte nicht weiter weg sein von dem Leben, das wir uns in den letzten Wochen aufgebaut haben.
Ich musste wieder daran denken, wie du zum ersten Mal meine Eltern und ihr Haus kennengelernt hast. Einen Monat ist das nun her. Es war seltsam, ich habe schon als Teenager kaum Freund:innen nach Hause gebracht, weder in unsere früheren Wohnungen (wir sind oft umgezogen) noch in dieses Haus. Dabei war dieses Haus der Höhepunkt unseres Aufstiegs. Wir alle hatten davon geträumt. Meine kleine Schwester und ich hatten uns als Kinder immer was zum Einschlafen gewünscht, und meistens sagte eine: «Dass du das Licht ausmachst», und die andere: «Ein Haus.» Seit über zehn Jahren haben wir nun dieses Haus und es ist ganz anders als in unseren Träumen: eine Bruchbude.
Versteh mich nicht falsch, ich bin nicht enttäuscht. Wir hatten schon immer wenig Besuch. Damals dachte ich, es läge daran, dass meine Eltern so viel arbeiteten und irgendwann ihren Imbiss hatten, wo man sich eher traf als bei uns zu Hause. Heute denke ich, dass vor allem mein Vater einfach nicht so kompatibel ist mit den meisten anderen Menschen und dass das mit den Jahren schlimmer wurde und meine Mutter keine andere Wahl hatte, als sich mit ihm zu isolieren. Unser Haus war also nie dazu da, um gesehen zu werden. Hier wollten wir einfach nur sicher und frei sein und das Ergebnis war Chaos.
Wir sahen zwar die geordneten Lebensentwürfe in Möbelhaus-Ausstellungen und auf den Magazin-Covern vor den Supermarktkassen; wir hatten diese aber nie wirklich einstudiert und beließen es dabei, daran vorbeizugehen. Baumärkte überfordern mich bis heute, vor allem die grelle Lampenabteilung, aber auch die vielen kleinen Schrauben und Winkel.
Manchmal denke ich, das Chaos in unserer Biografie, das Chaos in unseren Köpfen – es hat sich in unserem Haus einfach materialisiert. Über die große Leere kippten wir unnütze Dinge, schichteten sie übereinander, hängten sie an die Wand, stopften sie in Regale und unter den Tisch, und dazwischen stellten wir Pflanzen, unzählige Orchideen und Mitbringsel aus Vietnam wie den Jasminstrauch oder die Königin der Nacht, die nur eine Nacht lang blüht.
Und nun, wo mein Vater krank ist und meine Mutter weit weg in Vietnam bei ihren Eltern, jetzt, wo nichts Dringendes zu tun ist und mich nichts ablenkt, da liegt das alles blank, die ganze Absurdität unserer Ankunft in diesem Land.
Manchmal habe ich das Bedürfnis, den Ramsch auszuräumen und nachzusehen, ob die Leere darunter wirklich eine Leere ist, oder schlimmer. Aber alles mit der Zeit.
Ich freue mich, erstmal wieder in mein neues, geordnetes Leben zurückzufahren, zu dir.
Was hast du eigentlich gesehen, als du vor einigen Wochen hier warst? Wir haben irgendwie nie darüber gesprochen. Und eigentlich haben wir auch nie darüber gesprochen, wie euer Haus ausgesehen hat.
Vanessa
عزيزتي فانيسا،
Ich schreibe dir aus dem Zug. Ich bin auf dem Weg nach Hause – unser Zuhause. Was für ein schöner Satz! Heute Morgen habe ich dich verlassen, ohne dir, wie sonst an Sonntagen, Pfannkuchen mit Zaatar und Käse zu machen. Ich werde erst spät ankommen und habe kaum Hoffnung, es noch in die Schaubühne zu schaffen, obwohl ich dir versprochen hatte, ich würde irgendwo im Dunkel des Zuschauerraums sitzen und dir zuhören, wie du mit jemandem in einer Sprache sprichst, die zu verstehen mir viel Konzentration abverlangt. Aber auch wenn mein Deutsch versagt, ich würde dich sehen und mich freuen. Ich sitze gern in der Dunkelheit und schaue dich an, wenn du im Licht stehst.[1]
Vor einigen Monaten rief mich ein Künstler an und sagte, dass er meine Gedichtsammlung gelesen habe und meine Gedichte sehr gut zu seinem Projekt «Eine Brücke für die Utopie» passen würden. Das war seltsam, denn in keinem meiner Gedichte geht es auch nur einmal um Brücken. Jedenfalls bat er mich, auf dem Festival vorzulesen, das er organisierte. Ich erklärte mich einverstanden, obwohl die Veranstaltung in einem weit entfernten kleinen Dorf bei Lüneburg lag, das Honorar sehr bescheiden und das Datum ungünstig war. Ich mochte einfach den Zufall, dass die Einladung mich erreichte, nachdem ich dir über Brücken geschrieben hatte.
Jedenfalls fand das Festival in der Nähe einer...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Zusatzinfo | Mit 2 s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Asylbewerberheim • Deutschland • Einwanderer • Einwanderung • Erfahrungsbericht • Erzählendes Sachbuch • Geschichte • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gesellschaftspanorama • Identität • Jordanien • Kochen • Kolonialismus • Literarischer Essay • Migration • Migrationserfahrung • Migrationsgeschichte • Migrationshintergrund • Migration und Identität • Politik • Rassismus • Soziale Ungerechtigkeit • Syrien • Vertreibung • Vietnam • white privilege |
ISBN-10 | 3-644-01617-8 / 3644016178 |
ISBN-13 | 978-3-644-01617-0 / 9783644016170 |
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