Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01598-2 (ISBN)
Lorenz Jäger, geboren 1951, studierte Soziologie und Germanistik in Marburg und Frankfurt am Main, anschließend unterrichtete er deutsche Literatur in Japan und den USA. 1997 wurde er Redakteur im Ressort Geisteswissenschaften der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», das er zuletzt leitete. 2017 erschien «Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten», 2021 «Heidegger. Ein deutsches Leben», zu dem das «Philosophische Jahrbuch» schrieb: «Jäger ist eine großartige Biographie gelungen ... Er hat den Blick neu geöffnet.»
Lorenz Jäger, geboren 1951, studierte Soziologie und Germanistik in Marburg und Frankfurt am Main, anschließend unterrichtete er deutsche Literatur in Japan und den USA. 1997 wurde er Redakteur im Ressort Geisteswissenschaften der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», das er zuletzt leitete. 2017 erschien «Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten», 2021 «Heidegger. Ein deutsches Leben», zu dem das «Philosophische Jahrbuch» schrieb: «Jäger ist eine großartige Biographie gelungen ... Er hat den Blick neu geöffnet.»
Prolog: Zum Kern aller Geschichten
Die Liebe und der Tod sind die Themen überhaupt, das A und O unserer Erzählungen, weil sie uns wie nichts anderes erschüttern. Eine Geschichte ist in dem Maße nicht nur schön, sondern groß und erhaben, bewegend, indem sie beide Themen verknüpft. «Ja, stark wie der Tod ist die Liebe», heißt es im Hohelied, «hart wie die Unterwelt der Leidenschaft. Ihre Brände sind Feuerbrände, / Flammen des Herrn. Gewaltige Wasser können die Liebe nicht löschen; / auch Ströme schwemmen sie nicht fort. Böte ein Mann seines Hauses ganzen Besitz für die Liebe, / man würde ihn nur verachten.»[1] Seit ich «Le Mépris» («Die Verachtung») von Jean-Luc Godard zum ersten Mal sah, mit Brigitte Bardot und Michel Piccoli in den Hauptrollen, erschien er mir als der schönste Film überhaupt. Nicht nur weil er auf Capri in der herrlichsten aller möglichen Welten spielt. «Je t’aime totalement, tendrement, tragiquement», sagt er ihr. «Ich liebe dich vollkommen, zärtlich, tragisch.» Und am Ende, als sie ihn verlassen und sich dem Amerikaner zugewandt hat, ist sie tot, sinnlos, den Unfall mit dem roten Ferrari überlebte sie nicht. Das ist die absolute Geschichte, die Verknotung von höchstem Leben und Tod, von Ur-Lust und Ur-Angst. Liebe und Tod sind die Hauptsachen bei allem, was uns bewegt, und keine Moderne ändert etwas daran, sie kann nur neue Konstellationen der Beteiligten finden und neue Formen des Erzählens. Und der Tod ist nicht irgendein Thema unter anderen, sondern der letzte Probierstein des Denkens.
Der Kontrast zwischen dem höchsten Lebensglück und der Vernichtung treibt die Kontur von beidem erst heraus. Man denkt an Manon Lescaut aus Puccinis Oper, an Achilles und Penthesilea – «So erscheint die verwundete Penthesilea ihrem Besieger Achill im Augenblicke ihres Todes doppelt schön, erst an der Sterbenden entdeckt er die ganze Fülle von Liebreiz», sagt der Historiker Johann Jakob Bachofen[2] –, an Tristan und Isolde, an Orpheus und Eurydike, aus deren Geschichte Claudio Monteverdi eine der ersten Opern machte, «L’Orfeo», 1607 uraufgeführt. Eurydike war einem Schlangenbiss erlegen. Orpheus wird sogar erlaubt, sie aus der Unterwelt zu befreien, nur umdrehen darf er sich bei dem Gang nicht, und natürlich geschieht genau das. Dantes «Göttliche Komödie» ist im Paradiso um Beatrice komponiert, die er zu lieben begann, als sie neun Jahre alt war, und die früh starb. Tosca, Romeo und Julia – man kommt zu keinem Ende.
So allgegenwärtig diese Verbindung in der Literatur und Dichtung ist, ja eigentlich die Literatur erst ermöglicht, so merkwürdig spät erscheint sie in der Philosophie. Walter Benjamins «Einbahnstraße», ein Buch der Aphorismen und Vignetten, erschien 1928. Es gibt eine entschieden moderne, vom Surrealismus und vom Dadaismus geprägte Ansicht des Schönen im Abseitigen. Aber zugleich ist es – ungleich mehr als etwa Theodor W. Adornos «Minima Moralia» – eines jener Bücher, die an die Grenze gehen, indem sie Liebe und Tod in ein stetes Verhältnis setzen. Auch darum ist Benjamin der faszinierendere Autor. «Man wird folgende Erfahrung gemacht haben», schreibt er, «liebt man jemanden, ist man sogar nur intensiv mit ihm beschäftigt, so findet man beinah in jedem Buche sein Porträt.»[3] Aus einer anderen Perspektive ist der folgende Aphorismus gedacht, der Enttäuschte spricht: «Einen Menschen kennt einzig nur der, welcher ohne Hoffnung ihn liebt.»[4] Oder, sogleich folgend: «Dem Liebenden erscheint der geliebte Mensch immer einsam.» Allerdings geht die oft gefühlsselige Rede über die geliebte Frau zusammen mit einer zynischen Feier der Prostitution, einer Konstante in Benjamins Werk. Die Landschaft, die Geliebte und der Tod waren die Elemente, aus denen Benjamin sechzehn Jahre vor der «Einbahnstraße» eine erste Poetik konzipierte. In der «Metaphysik der Jugend» von 1912 trug das anvisierte Projekt den Titel «Das Tagebuch», und in ihm ist die Zeit strukturbestimmend. «Dieser Gläubige», hieß es damals, «schreibt sein Tagebuch. Und er schreibt es in Abständen und wird es nie beenden, denn er wird sterben.»[5]
Auch die «Einbahnstraße» wollte ein Buch sein, das die Zeit zum poetischen Prinzip macht, aber nun ganz ins Realistische und Drastische gewandelt. Kann das Sterben rein weltlich verstanden werden? Liest man die Texte heute wieder, dann steht man betroffen vor der übermäßigen Präsenz des Todes, der Zeit in ihrer drohenden Form. «Im Traum nahm ich mir mit einem Gewehr das Leben. Als der Schuss fiel, erwachte ich nicht, sondern sah mich eine Weile als Leiche liegen. Dann erst wachte ich auf.»[6] Kein Leser wird davon absehen können, dass sich Benjamin, dem durch das Vichy-Regime eine Auslieferung an die Deutschen drohte, 1940 auf der Flucht tatsächlich das Leben nahm. Aber es wäre eine psychologische Verkürzung, hier nur an das biographische Schicksal des jüdischen Autors zu denken. Eher möchte man meinen, dass es um einen Gegenentwurf zur damals im Zenit ihrer Wirkung stehenden Lebensphilosophie Bergsons oder Diltheys ging, die den Tod ausblendete. Aber auch um eine Poetik, die den Text vom Bild des Todes her skandiert und rhythmisiert – von Reflexionen über Todesstrafe, Totenmaske, Totenkopf, Todesnachricht, Totenehrung und Tötung strotzt die «Einbahnstraße» geradezu. Sie ist vom Tode her geschrieben. «Liebe und Tod», schrieb Benjamins Freundin Charlotte Wolff in ihren Erinnerungen, «waren Benjamins wichtigste Themen, mit denen er sich ständig beschäftigte.»[7]
Die Liebe und der Tod verleihen allem Bedeutung, was in ihren Bereich tritt, mit ihnen erst sind wir Menschen. Erst mit ihnen wird aus dem Alltag Geschichte. Der Philosoph Max Horkheimer hat die Verknotung gesehen, mit einer Weisheit ganz diesseits seiner gesellschaftskritischen Theorie, für die er berühmt wurde: «So wie die romantische Liebe erst durch die Beziehung zum Tod die Süßigkeit gewann, so wird das Leben durch die Aufnahme des Gedankens an ihn zur Erfahrung des Lebens.»[8] Er, der einmal die Welt von Grund auf hatte verwandeln wollen, erfährt, älter geworden, ihre Ordnung: Es gibt bei Horkheimer eine Schicht, die unantastbar bleibt.
Nein, sie blieb nicht unantastbar. Die Generation der Ankläger und Entlarver erkannte hinter der humanistischen Maske des mythisierten Dichters Orpheus das mörderische Gesicht des gefährlichen Mannes. Der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit schrieb 1988 «Das Buch der Könige». Produktion im «Patriarchat», auch Kunstproduktion, kommentierte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, «beruht auf Menschenopfern, ist vorzugsweise im Frauenopfer fundiert. Im Fundament von Gedichten, Opern, Kunstwerken eben, sind nicht bloß symbolisch, sondern ganz leibhaftig, Frauenkörper eingearbeitet. Die Frau wurde getötet, mindestens aber ihr Tod in Kauf genommen, damit das Kunstwerk entstehen konnte.» Häufig würden «die Frauen der Künstler (die Ehefrauen, Freundinnen, Geliebten, Musen) dem Orkus (dem Hades, dem Jenseits, dem Totenreich, der Unterwelt) übergeben».[9] Der Journalist Jürgen Kaube resümierte Theweleits Thesen kritisch: «Orpheus opfert Eurydike und wird dabei zum Sänger. Viele Werke sind nach Theweleit zugleich das Grab einer assistierenden Frau oder sogar mehrerer Musen, weil die Künstler die Beziehungen vampirhaft und oft über den Tod der jeweiligen Eurydiken hinaus instrumentalisieren.»[10]
Das Gedenken der Toten ist ergreifend. Es unterscheidet den Menschen von seinen tierischen Vorfahren, und weil es eine geistige Haltung und Handlung ist, tut es das vielleicht mehr noch als der Gebrauch von Werkzeug oder die Zähmung des Feuers. Allerseelen, Allerheiligen, Volkstrauertag fallen in den November. Schon die Natur spricht im Herbst von Vergänglichkeit. Im Gedenken der Toten liegt ein durchaus universalistisches Motiv. Indem man aber bestimmter Toter gedenkt (der Ahnen, unserer und keiner anderen Vorfahren), bekräftigt eine Gemeinschaft ihre Grenzen. Sofort wird alles politisch, Feind und Freund werden unterschieden, und dies nicht aus subjektiv böser Gesinnung, sondern aus dem hier vorliegenden Strukturzwang. «In Flanders fields the poppies blow» – damit beginnt das Gedicht von John McCrae, das für die Briten zum Inbegriff des Gedenkens an die Toten des Ersten Weltkriegs wurde: «Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn / Zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe, / Die unseren Platz markieren; und am Himmel / Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend / Unten zwischen den Kanonen kaum gehört. // Wir sind die Toten.» Deshalb die stilisierten Mohnblumen aus Papier an jedem 11. November, dem Tag des Waffenstillstands. Bald war nämlich zwischen den Gefallenengräbern der Flandernschlacht des Jahres 1915 der Mohn aufgeblüht. Reine, ruhige Schönheit! Und die ruhenden Toten! Gibt es einen bewegenderen Kontrast? Auch wenn das Gedicht martialisch zur Fortsetzung des Krieges mahnt: «Brecht Ihr den Bund mit uns, die wir sterben / So werden wir nicht schlafen, obgleich Mohn wächst.»[11]
Heute scheinen das Leben und das Sterben fast zur Disposition zu stehen. Eines der frühen Vorzeichen, und gleich das erschreckendste, war Friedrich Nietzsches Wort von einer «Partei des Lebens», deren Zeit gekommen sei: «Werfen wir einen Blick ein Jahrhundert voraus, setzen wir den Fall, dass mein Attentat auf zwei Jahrtausende Widernatur und Menschenschändung...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abschied • Antike • Ars moriendi • ars vivendi • Barock • Bücher zum nachdenken • Endlichkeit • Existenz • Frühe Neuzeit • Gegenwart • Geistesgeschichte • Gelassenheit • Geschichte • Glück • Gutes Leben • inspirierende bücher • Kulturgeschichte • Leben • Lebensführung • Lebenskunst • Lebensratgeber • Lebenssinn • Lebensweisheiten • Mittelalter • Moderne • Neuzeit • Philosophie • Richtiges Leben • Selbstverwirklichung • Sterben • Tod • Umgang mit dem Tod • Vergänglichkeit • Wünsche • Zeit • Ziele |
ISBN-10 | 3-644-01598-8 / 3644015988 |
ISBN-13 | 978-3-644-01598-2 / 9783644015982 |
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