Wir von unten (eBook)
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3184-3 (ISBN)
Warum wir mehr soziale Aufsteiger:innen in Wirtschaft & Politik brauchen
Natalya Nepomnyashcha ist soziale Aufsteigerin und Gründerin von »Netzwerk Chancen«. In ihrem Buch erzählt sie offen von ihrem zähen Weg nach oben. Sie berichtet, wie sie aufgrund ihrer Hartz-IV-Herkunft immer wieder diskriminiert wurde - bis ihr nach vielen Jahren der Karrieredurchbruch gelang. Heute fördert sie selbst über 2.000 Erwachsene auf ihrem beruflichen Weg. Nepomnyashcha zeigt, wie stark unsere Gesellschaft davon profitiert, wenn Menschen unterschiedlicher sozialer Herkünfte auf allen Ebenen zusammenarbeiten. Sie empowert Aufstiegswillige, denn nachdem der Schritt bis zum Abitur oder an die Uni trotz der vielen Hürden geschafft ist, folgt im Job oft die gläserne Decke. Deshalb muss soziale Herkunft als Diversity-Faktor in Unternehmen endlich anerkannt werden. Es braucht aber in den Vorstandsetagen und Personalabteilungen überhaupt erst ein Bewusstein für die Problematik. Anhand ihrer eigenen Geschichte, von Fallbeispielen und der Lage in Unternehmen zeigt sie, wie wir Platz für Aufsteiger*innen in Unternehmen, Politik und Gesellschaft schaffen können - und warum das gut für alle ist.
Natalya Nepomnyashcha, 1989 in Kyjiw geboren, wuchs in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf und schaffte es ohne Abitur auf Umwegen, Internationale Beziehungen in Großbritannien zu studieren. Danach arbeitete sie u. a. für eine NGO aus Westafrika und ist heute für eine der größten weltweiten Unternehmensberatungen tätig. 2016 gründete sie nebenberuflich »Netzwerk Chancen«. Das soziale Unternehmen bietet ein ideelles Förderprogramm für soziale Aufsteiger*innen zwischen 18 und 39 Jahren und bindet Arbeitgebende mit ein. Natalya Nepomnyashcha leitet die Organisation ehrenamtlich neben ihrem Vollzeitjob und ist gefragte Key-Note-Speakerin.
KINDHEIT
»Was ist falsch an mir?«
November 1989. Kaum war die Mauer gefallen, öffnete ich zum ersten Mal den Mund und schrie. Am 30. November kam ich auf die Welt. In einem Krankenhaus in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine. Es war sonnig, erzählen meine Eltern. Ganz ungewöhnlich. In Kyiv habe es sonst zu dieser Jahreszeit immer geschneit. Doch an jenem Tag sei der Himmel blau und klar gewesen. Daran können sie sich gut erinnern. Die Erinnerungen danach werden immer düsterer.
Während ich die Welt kennenlernte, wurde sie zu einer anderen. Im Juli 1990, gerade als ich anfing zu sprechen – sehr früh, sogar bevor ich laufen konnte –, erklärte die Ukrainische Republik ihre Souveränität. Ungefähr ein Jahr später folgte der Austritt aus der Sowjetunion und kurz darauf ihr Zerfall. Wie in den meisten anderen postsowjetischen Staaten brach die Wirtschaft in den 1990er Jahren zusammen. Das Bruttonationaleinkommen betrug am Ende des Jahrzehnts nur rund 40 Prozent des Stands von 1989, der Monatslohn im Durchschnitt nur noch 67 Euro.1 Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt dazu: »Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, vor allem ältere Menschen, Behinderte und Jugendliche, lebten in bitterer Armut und litten große soziale Not.«2
So war das. Und wir gehörten zu den Ärmsten. Denn meine Eltern hatten nicht mal einen Monatslohn. Bis ich in die Schule kam, hatten sie ihre Jobs verloren. Ihre Arbeitgeber und fast alle anderen waren verschwunden. Meine Mutter hat zuvor in einer Fabrik gearbeitet. Sie hatte die Arbeitenden koordiniert und sich um Arbeitsmaterialien gekümmert. Mein Vater war Buchbinder gewesen, hatte aber auch als Reinigungskraft gearbeitet und gejobbt. Doch in den Neunzigern konnten sie nicht einmal solche Beschäftigung auftreiben. Sie waren orientierungslos, verloren, zogen sich zurück.
Ich war die Ärmste in meiner Schulklasse. All meine Klamotten waren zuvor schon von anderen Kindern getragen worden, das Essen im Lunchpaket war immer das billigste. Zu Hause gab es selten Fleisch, wir sättigten uns mit Kartoffeln. Alles, was andere damals feierten, wie die Öffnung der Märkte und die plötzliche Präsenz von westlichen Produkten in den Regalen, war für mich eine einzige Quälerei.
Meine erste »Kinder-Überraschung« werde ich nie vergessen. Jahrelang hatte ich das geheimnisvolle Schoko-Ei im Laden immer nur sehnsüchtig betrachtet, befeuert durch die allgegenwärtige Fernsehwerbung. Nichts wünschte ich mir mehr, als dass meine Eltern mir eine in meine Hand legten. Endlich bekam ich eine geschenkt. Aber nicht von meinen Eltern, sondern vom Vater einer Schulkameradin. Auch der erste nagelneue Pullover, den nicht schon ein anderes Kind getragen hatte, war das Geschenk einer anderen Mutter. Was war ich darauf stolz! Bis zu dem Tag, an dem ich in der Schule angesprochen wurde, ob der Pullover wirklich neu sei. Es war ein Witz. Eine Botschaft, die ich sofort verstand: Ich bin arm. Ich bin unten. Ich gehöre dorthin und nirgendwohin anders.
Über psychische Gesundheit oder Depression redet in meinem familiären Umfeld bis heute niemand. Ich vermute, dass meine Eltern depressiv waren, es vielleicht immer noch sind. Jedenfalls haben sie nie wieder Arbeit gefunden. Sie haben alles verloren und keine Kraft mehr gehabt, sich im neuen System zurechtzufinden. Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gut belegt: Menschen mit niedrigem Einkommen erkranken zwischen anderthalb- und dreimal häufiger an Depression oder einer Angststörung als jene mit hohem Einkommen.3
Eins haben meine Eltern aber doch noch geschafft, vielleicht war es ein allerletzter Kraftakt. In jedem Fall war es das größte Geschenk, was sie mir je hätten machen können: 2001, ich war elf Jahre alt, wanderten wir nach Deutschland aus. In Kyiv stiegen wir zusammen in einen großen Reisebus. Und in Nürnberg stiegen wir wieder aus. Rückblickend war dies wohl eher dem besten Freund meines Vaters zu verdanken. Er half, die Formulare auszufüllen, fuhr mit meinem Vater geduldig wieder und wieder zur Deutschen Botschaft, wenn sie immer neue Dokumente sehen wollten, und er besorgte uns die Bustickets.
So oder so war ich damals gar nicht dankbar für das »Geschenk«. In Kyiv war ich gern zur Schule gegangen, hatte gute Noten, fühlte mich frei und herausgefordert. Würde ich in der deutschen Schule weiterhin so gute Noten schreiben? Gegenüber unserem Wohnhaus in Kyiv wurde außerdem gerade ein neues Jugendzentrum gebaut. Anfang der 2000er ging es in der Ukraine wirtschaftlich bergauf. Vor der Abreise sagte ich meinem Vater, dass ich es in der neuen Schule im neuen Land zwar ausprobieren, aber nach den Sommerferien auf jeden Fall wieder zurückkommen würde – um mich dann im Jugendzentrum für einen Kurs anzumelden, entweder Malen oder Tanzen.
Meine Befürchtungen waren nicht ganz unbegründet. Das gute Leben in Deutschland erwies sich mal wieder eher als etwas für die anderen, aber nicht für uns. Wir waren »Kontingentflüchtlinge«. Das Wort kennen Sie vielleicht aus den Medien. Wir sollten eigentlich etwas ganz Besonderes sein, die besonderen Flüchtlinge, jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die nun in Deutschland Zuflucht finden und das jüdische Leben hierzulande gewissermaßen wiederbeleben sollen. Jüdisch zu sein wurde in der sowjetischen Geburtsurkunde als »Nationalität« festgehalten. So konnten auch die deutschen Behörden feststellen, wer dazugehörte. Insgesamt sind so zwischen 1991 und Ende 2004 etwa 220 000 Menschen eingewandert.4 Sie wurden jeweils von einem bestimmten Bundesland aufgenommen. In unserem Fall war es der Freistaat Bayern – ein bürokratischer Zufall, der mein Leben in vielerlei Hinsicht prägen würde.
Dabei waren wir nicht die Ersten in unserer Familie, die auswanderten. Schon sechs Jahre zuvor hatte meine Tante mütterlicherseits samt Mann und Kindern Kyiv in Richtung Deutschland verlassen. In der Sowjetunion hatte sie bereits studiert. Und zwar nicht irgendwas, sondern Informatik. In Deutschland angekommen, fand sie ziemlich schnell einen gut bezahlten Job als Software-Entwicklerin und arbeitet bis heute im selben Unternehmen. Glaube ich zumindest. Denn wir haben kaum Kontakt. Wir waren zwar alle in Augsburg, doch unsere Leben entwickelten sich schnell auseinander.
An den ersten Tag in Deutschland erinnere ich mich gut. In Nürnberg stiegen wir aus dem Bus, ich starrte hoch auf den Wolkenkratzer und blickte ehrfürchtig auf das Schild in Großbuchstaben obendrauf: GRUNDIG. Das Unternehmen hatte wohl mal Büros in dem Haus, in dem jetzt Hunderte Geflüchtete ihre Erstunterkunft fanden. Gemeinsam mit anderen Familien wurden wir auf Zimmer mit Stockbetten verteilt. Auf der Toilette gab es Mäuse, vielleicht waren es sogar Ratten. Ich hatte Angst. Meine Eltern behaupteten, wir würden bald wieder nach Hause fahren. Aber dann holten uns meine Tante und mein Onkel ab und luden uns in der Stadt zum Italiener ein. Wir aßen Pizza, und der Kellner schenkte mir am Ende einen Lolli.
Der nächste Tag begann mit einer ärztlichen Untersuchung. Dann fuhren wir mit der Bahn nach Augsburg. Dorthin hatten uns die deutschen Behörden vermutlich aufgrund unserer familiären Verbindungen eingeteilt. Mein Onkel und mein Cousin holten uns vom Bahnhof ab und brachten uns in das Wohnheim für Kontingentflüchtlinge. Es war ein Einfamilienhaus, in dem nun nicht eine, sondern mehrere Familien zusammenlebten. Die armen Flüchtlinge im wohlhabenden Augsburg-Haunstetten voller »richtiger« Einfamilienhäuser. Jede Familie hatte ein Zimmer für sich. Küche und Bad mussten wir teilen. Auch alle anderen Familien waren russischsprachig, kamen aber aus unterschiedlichen Ländern. Wir hatten kaum etwas gemeinsam. Alle waren verunsichert, alle hatten alles zurückgelassen. Es war nicht einfach, Freundschaften zu schließen.
Wir zogen aus, als wir nach zweieinhalb Monaten eine eigene Wohnung fanden. Und zwar in Augsburg-Oberhausen. Weiter weg von den Reichen hätte es nicht sein können. Viele würden wahrscheinlich vom »Brennpunktviertel« sprechen, die Menschen dort »sozial schwach« oder »asozial« nennen. Dort leben meine Eltern bis heute. Es ist trist. Keine Restaurants, keine Cafés. Nur Wohnhäuser. Viele leben von Hartz IV oder Bürgergeld, wie es mittlerweile heißt. Auch meine Eltern taten das und tun das noch. Die Welt, in der ich leben wollte, existierte für mich nur im Fernseher. Ich wusste zwar und hatte es sogar selbst erlebt, dass es Menschen gab, die in Restaurants essen oder ein eigenes Haus besitzen. Aber zunehmend erschien mir diese Welt wie ein anderer Planet. Sie war nicht meine. Der Lolli war schon längst gierig abgeleckt, doch an der Erinnerung hielt ich noch ewig fest.
Meine Eltern gaben mir Liebe. Aber keinen Halt. Wie soll man Halt geben, wenn man selbst keinen hat?
Bitterer Beigeschmack. Ich gelte als exotisch
»›Ich wollte unbedingt raus‹« – Wie Natalya Nepomnyashcha vom Hartz-IV-Kind zur Unternehmerin wurde.« Diese Überschrift stammt aus dem Handelsblatt. Sie ist typisch und leitet in dieser oder ähnlicher Form so...
Erscheint lt. Verlag | 30.5.2024 |
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Reihe/Serie | Reihe: Wie wir leben wollen |
Co-Autor | Naomi Ryland |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Arbeit • Arbeiterkind • Arbeitswelt • Aufstieg • Bildung • Chancengleichheit • Diskriminierung • Diversität • Diversity • Erfolg • Führungskräfte • Gläserne Decke • Herkunft • Karriere • Klasse • Klassismus • Netzwerk Chancen • Soziale Gerechtigkeit • Vorurteil • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-8437-3184-5 / 3843731845 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3184-3 / 9783843731843 |
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