Zeichen der Zeit (eBook)

Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
411 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45602-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zeichen der Zeit -  Marlon Barbehön
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Zeit ist eine grundlegende Bezugsgröße der politischen Welt. Doch was geschieht genau, wenn sich Politik an zeitlichen Horizonten und mit zeitlichen Kategorien orientiert? Marlon Barbehön entwickelt auf Grundlage kulturtheoretischer Zugänge eine Politische Theorie der Temporalität, um die Verwobenheit zeitlicher und politischer Wirklichkeit zu untersuchen. Mittels konzeptioneller Begriffsarbeiten und illustrativer Analysen wird gezeigt, dass Zeit der Politik nicht als objektive Größe voraus-, sondern auf kontingente Weise aus ihr hervorgeht.

Marlon Barbehön, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.

Marlon Barbehön, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.

1Einleitung


In Machiavellis Der Fürst, einem der Gründungsdokumente der modernen Politischen Philosophie, begegnet uns ein Bild, das Herrschaft ganz wesentlich als eine Kunst des Erkennens der Zeichen der Zeit darstellt. Herrschaft, und mit ihr politische Stabilität, können nur dann sichergestellt werden, so Machiavelli (2016 [1513]: 98), wenn Herrschende ihre Handlungsweisen »mit dem Zeitgeist in Einklang [bringen]«, wenn sie sich nicht an überzeitlichen Prinzipien ausrichten, sondern sich flexibel auf die Erfordernisse der Zeit einstellen. Die Zeit tritt der Herrschaft als mächtige Randbedingung gegenüber, sie »jagt alles vor sich her, sie kann Gutes wie Schlechtes und Schlechtes wie Gutes bringen« (Machiavelli 2016 [1513]: 12), und eine zeitgemäße Herrschaft ist eine solche, die der Zeit gemäß ist und auf den Gang der Dinge reagiert bzw. sich auf ihn einstellt. Auch wenn dieses »realistische« Politikverständnis eines unter vielen ist, und zudem eines, dem ich mich in der vorliegenden Studie nicht unbesehen anschließen werde, so ist das dahinterliegende Verständnis von Zeit auch für andere zeitgenössische Perspektiven auf politisches Geschehen prägend. Es gibt sich etwa im Begriff des politischen Timings zu erkennen, d.h. in der kairologischen Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für politische Vorstöße, in der Frage danach, wann die Zeit einer politischen Idee gekommen ist (prominent etwa Kingdon 2003 [1984]). Dabei macht der Begriff des Timings mit seinem aktivischen Bedeutungsgehalt deutlich, dass die Reife der Zeit auch vom politischen Handeln abhängt und somit der »Zeitgeist« dem politischen Geschehen nicht rein äußerlich ist. Gleichwohl schwingt auch hier ein Bild von Zeit mit, die »alles vor sich herjagt« und auf die sich politische Aktivitäten einstellen müssen. Diese Zeitvorstellung lässt sich schließlich auch in Perspektiven finden, die Politik weniger als Machtgeschehen denn als kollektive Problemlösung verstehen und an sie die Erwartung richten, soziale Probleme und Krisen rechtzeitig – und damit ist zunehmend gemeint: noch bevor sie eintreten – zu erkennen, damit diese bestenfalls erst gar nicht virulent werden (DeLeo 2016; Cairney/St Denny 2020). Die Annahme, Erwartung bzw. Forderung, Politik habe die Zeichen der Zeit zu erkennen, bedeutet dann, sich hier und jetzt auf das Kommende einzustellen, oder besser noch: es in der Gegenwart vorbeugend zu bearbeiten.

Damit sind wir bei einer zweiten Weise angelangt, wie sich der titelgebende Topos der vorliegenden Studie deuten lässt. Die Wendung »Zeichen der Zeit« verweist darauf, dass wir es in der sozialen Welt nicht mit der Zeit »an sich« zu tun haben, sondern mit Zeichen der Zeit, d.h. mit symbolischen Formen, die etwas inhärent Unverfügbares verfügbar machen. Die Zeichen der Zeit müssen in ihrer Zeichenhaftigkeit verstanden werden (so auch die Verwendungsweise im Matthäus-Evangelium), um von ihnen auf »die Zeit«, was immer das sein mag, schließen zu können. Diese Lesart gründet auf der gleichermaßen banalen wie weitreichenden Einsicht, dass man »die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören noch schmecken, noch riechen [kann]« (Elias 1988: VII). Zeit ist gar nicht anders zu haben als über Zeichen, mit denen das Vergangene, das vorüber, und das Kommende, das noch nicht eingetreten ist, symbolisch in die Gegenwart hineingeholt werden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in unserer Sprache derart viele Metaphern und Redewendungen existieren, die um den Begriff der Zeit zentriert sind, ist dieser doch nicht an eine außersprachliche Substanz gekoppelt, die ohne Zeichen sinnlich erfasst werden könnte (auch die Uhr tut das nicht – darauf werde ich in unterschiedlichen Kapiteln zurückkommen). Trotz (oder wegen?) dieser Unverfügbarkeit spielt Zeit für unsere Orientierung in der Welt eine kaum zu überschätzende Rolle, und zwar nicht zuletzt für politisches Geschehen, das auf die inhärent unerreichbaren Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft mittels symbolischer Praktiken ausgreift, um darüber eine Gegenwart für politisches Handeln herzustellen: Die Vergangenheit wird referiert, erinnert, aktualisiert und damit wirklich, indem Geschichten und Gründungsmythen der politischen Gemeinschaft erzählt, indem vergangene politische Errungenschaften gepriesen und Fehlleistungen angeprangert oder indem bis dato ungelöste Aufgaben ausgewiesen werden; die Zukunft wird vorhergesagt, projiziert, imaginiert und damit wirklich, indem U- oder Dystopien gezeichnet, indem zu erreichende Ziele formuliert oder indem politische Programme mit nacheinander zu vollziehenden Maßnahmen entworfen werden; und aus der Zusammenschaltung der beiden Zeithorizonte entsteht eine Gegenwart mit politischer Handlungsfähigkeit im Allgemeinen und spezifischen politischen Möglich- und Notwendigkeiten im Speziellen.

Politik ist so besehen unentwegt mit Vergangenheiten und Zukünften befasst – und zwar nicht nur dann, wenn es etwa um »Erinnerungs-« oder »präventive Politik« geht, sondern grundsätzlich und immer, da sie als eine sinnhafte Praxis gar nicht anders kann, als sich gegenüber bereits konstituiertem Sinn zu positionieren und kommende Sinnkonstitutionen vorzuprägen (dieses grundlegende Argument wird in den Kapiteln in Abschnitt II aus je spezifischen zeittheoretischen Perspektiven heraus zu entwickeln und zu begründen sein). Politik in diesem Sinne mit Zeichen der Zeit in Verbindung zu bringen rückt den Zeichengebrauch in den Vordergrund, über den Wirklichkeit ihre sinnhafte Ordnung erhält. Dabei lehrt die (post-)strukturalistische Semiotik, dass die Bedeutung von Zeichen nicht dem Zeichen selbst anhaftet, sondern aus der Differenz von Zeichen bzw. aus der differenziellen Praxis des Zeichengebrauchs resultiert (de Saussure 2001 [1931]: 103–106; Foucault 1981: 67–74). Das symbolische Verfügbarmachen von Zeit ist somit immer und unausweichlich auch eine Konstruktion von Zeit. Die vorliegende Studie tritt an, diese Performativität der Zeitlichkeit von Politik auf Grundlage kulturtheoretischer Zugänge zu konzeptualisieren, diese Konzeptualisierungen in interpretativen Fallstudien auf ihre analytische Relevanz hin zu prüfen und damit die Umrisse einer Politischen Theorie der Temporalität zu zeichnen.

Die Gleichsetzung von Zeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie sie soeben stillschweigend vorgenommen wurde, bedarf jedoch selbst zeittheoretischer Aufmerksamkeit. Wie ich im weiteren Gang der Untersuchung zeigen werde, ist diese Gleichsetzung nicht zwingend und sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine natürlichen Größen, die dem »Wesen« der Zeit entsprächen. Vielmehr handelt es sich bei der Differenz von Vergangenem und Zukünftigem sowie bei der Gegenwart als Moment der Differenzdisposition um eine historisch spezifische Erscheinungsform von Zeit (vgl. Koselleck 1989). Diese Erscheinungsform ist sowohl Bedingung als auch Produkt der zeitlichen Operationen moderner Politik: Ohne die Annahme, dass Vergangenheit und Zukunft divergieren, würde sich keine Gegenwart mit entscheidenden Weggabelungen ergeben, und ohne die Einsetzung von entscheidenden Weggabellungen würde uns der »Lauf der Zeit« nicht als kontingent und die Gegenwart nicht als zeitlich voranschreitender Punkt der Umformung von Zukunft in Vergangenheit erscheinen. Politik und Zeit sind so besehen voneinander abhängig, woraus die Notwendigkeit erwächst, die Zeitlichkeit von Politik in den Blick zu nehmen – und nicht »nur« Politik in der Zeit, was Zeit auf ein Faktum der natürlichen Welt reduzieren würde, oder Politik mit Zeit, womit Zeit als frei verfügbare Machtressource konzipiert wäre. Zeit kann diese Bedeutungen annehmen, sie darf aber nicht darauf reduziert werden und sie tritt nicht »von selbst« mit diesen Bedeutungen auf.

Die Begriffe der Bedeutung und des Sinns, die bereits mehrfach aufgetaucht sind, nehmen eine zentrale Stellung in der vorliegenden Untersuchung ein. Insofern sich Politik und Zeit wechselseitig zur Wirklichkeit verhelfen, können weder »Politik« noch »Zeit« als Trägerinnen stabiler, ahistorischer Bedeutungen und mithin vor die analytische Klammer gesetzt werden. Vielmehr muss es bei einer Analyse der Zeitlichkeit von Politik darum gehen, wie Politik und Zeit in Praktiken der Bedeutungszuweisung bzw. Sinnkonstitution ineinander verstrickt sind, d.h. wie Zeit in politische Formen des Weltzugriffs eingeht, woraus sodann unsere Wirklichkeit ihre sinnhafte Ordnung erhält, inklusive einer...

Erscheint lt. Verlag 22.11.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Gesellschaftstheorie • Interpretative Sozialforschung • Politische Theorie der Zeit • Poststrukturalismus • Sozialphänomenologie • Symbolischer Interaktionismus • Systemtheorie • Zeitsoziologie • Zeittheorie
ISBN-10 3-593-45602-8 / 3593456028
ISBN-13 978-3-593-45602-7 / 9783593456027
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