Alles unter Kontrolle?

Zur Geschichte der Zensur an der Universität Jena 1557/58 bis 1848/49

(Autor)

Buch | Hardcover
368 Seiten
2023
Mauke (Verlag)
978-3-948259-18-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alles unter Kontrolle? - Günter Schmidt
29,90 inkl. MwSt
Auftakt der Geschichte der Jenaer Zensur ist ein zensurnaher Akt: Martin Luther vertreibt 1524 den Reformator Andreas Karlstadt und Jenas ersten Drucker. Mit der Jenaer Lutherausgabe (1555-1558) wird die Zensur dann auch in der Saalestadt relevant. Sie wird zunächst vom Weimarer Hof direkt ausgeübt. Als Vorrecht der 1558 gegründeten »Salana« wird die Zensur erstmals in ihrem Statut von 1569 ausgewiesen. Anhand der folgenden Statuten und der sie begleitenden landesherrlichen Visitationen wird gezeigt, wie sich die Zensur als akademische »Observanz« inhaltlich entwickelte und wandelte.

Vorwort9
Einleitung12
Zur Anlage der Studie12
Forschungen, Studien, Editionen, Projekte13
Beiträge zur Jenaer Zensurgeschichte19
Zensur: Begrifflichkeit23
Etablierung von Buchdruck und Zensur28
Zensur im historischen Diskurs31
Altgläubige Apologetik31
Polizei, Polizeiwissenschaft, Polizeirecht32
Kontroversen der Aufklärung36
Zensurkritik vom Vormärz bis zum Kaiserreich39
Zensur im Kirchen-, Reichs- und Landesrecht43
Kirchenrecht43
Reichsrecht44
Landesordnungen52
Vorspiel: Karlstadt vs. Luther (1523/24)55
Zensurpraxis des Weimarer Hofes (1553 – 1560)66
Das »bessere Wittenberg«66
Der konfiszierte Hofteufel (1553)66
Die Jenaer Lutherausgabe (1555–1558)68
Mandatierte Kleindrucke (1553–1560)72
Die Etablierung der Zensur an der »Salana« 76
Zensur als akademische Observanz76
»Kleinod« der Ernestiner77
Das ius censendi in den Statuten und Visitationsdekreten78
Zensur, Zensoren, Zensierte87
Die Normen89
Das Prozedere90
Innerprotestantische Glaubenskämpfe94
Ernestinische Erhalter und flacianische Theologen (1556–1562)94
Signifikante Bücherliste: Martin Bott (1555–1563)100
Ein Streitfall unter kursächsischer Kuratel (1573–1586)102
Für und Wider in der »Weigelzeit«105
Aufschwung und Kriegsnöte105
Beistand in der Not: Johann Arndt und Johann Gerhard (1606/07)105
Braunschweigische Intervention: Friedrich Hortleder (1617/18)107
»uber die limites Facultatum«108
»Oberzensor« – ein erfolgloser Versuch: Johannes Strauch (1672)109
Der Verfemte: Matthias Knutzen (1674/75)110
Lob der Zensur: Ahasver Fritsch (1675, 1684), Adrian Beyer d. J. (1690), Johann David Werther (1721), Burkhard Gotthelf Struve (1706)112
Streitbare Aufklärer118
»Das Buch darf nicht in die Öffentlichkeit gelangen!«: Erhard Weigel (1658–1680)118
Ein »Martyr philosophiae Pufendorfianae«: Gottfried Klinger (1672–1677)120
Radikale Religionskritik: Friedrich Wilhelm Stosch (1692–1694)122
Anzügliche Räsonnements: Martin Schmeizel (1725)124
Senat oder Hof?: Johann David Werther und Christoph David Werther (1724, 1727, 1731–1733)125
Akademische Intrigen: Jacob Carpov (1735–1737)126
Feindbild der Theologen, Günstling des Hofes: Joachim Georg Darjes (1744)128
Allzu freimütig: »Ein Gespräch im Reich der Herren Studenten« (1741)130
Rücksicht auf »gefährliche Nachbarn«: Christoph Gottlieb Richter, Johann Ernst Philippi, Georg Michael Marggraf (1745, 1749, 1756)130
Ein aufsässiger Magister: Johann August Schlettwein (1758–1760)133
Die konfiszierte Muse: Christian Jonas von Rettberg (1759/60)135
Verpflichtung zur Subordination: Gotthelf Hartmann Schramm (1760)136
»In Ansehung der Buchdrucker …«: Achatius Ludwig Carl Schmid (1772)137
Wandlungen und Turbulenzen um 1800139
Paradigmenwechsel (1785)139
Gescheiterte Karrieren: Johann Ernst Ehregott Fabri und Karl Traugott Hammerdörfer (1786–1794)140
»Ans Licht gestellt«: Rindvigius (1790)144
Sanfter Druck: Gottlieb Hufeland (1790–1792)147
Umgang mit einem Dissidenten: Georg Friedrich Rebmann (1790–1793)150
Eisenacher Interventionen: Johann Ludwig Bechtolsheim, Christian Wilhelm Schneider (1794, 1797)153
»Mit einem Bein im Untergrund«: Christian Ernst Gabler, Friedrich Carl Forberg,
Johann Gottlieb Fichte (1794/95)155
Ein Querdenker: Johann Gottlob Heynig (1795)158
Votum für einen Revolutionsfreund: Thomas Paine (1795)159
Unerwünschte »Revolutions-Charteken«: Paul Usteri (1796/97)161
Ein »elendes Ding«?: Der »Burschen-Comment« (1798)165
»… als Polizey tractiren«: Der Jenaer Atheismusstreit (1798/99)167
Denkwürdiges Plazet: Johann Adam Bergk (1799)175
Repertorium der Zensur: Johannes Schmidt, Carl Leopold Schmidt (1800–1819)179
»… der Censur-Freiheit wegen«: Johann Gottlieb Fichte vs. Friedrich Nicolai (1801)180
Projekt Spinoza: Schack Hermann Ewald und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1787–1793; 1802/03)182
»Sticheleien und Anzüglichkeiten«: Johann Gottfried Seume (1810/11)185
»Mir scheint der Verf. zu rappeln«: Jean Paul (1804/05; 1809)193
Zensorenscharmützel (1806; 1810)202
Exkurs: Dichter und Staatsdiener: Johann Wolfgang Goethe205
»Inkommensurabel« 205
Erste Zensurerfahrung: Straßburg (1770/71)205
Der »polizeiwidrige« Poet206
Selbstzensur209
»Censurfrey?«211
Konservatives Reformkonzept211
Der informelle Zensor214
Eine »höchst unangenehme Funktion«219
Wider den »Journalistenteufel«221
Maßvolle Liberalität223
Umbrüche und Konflikte in Krisenjahren und in der Rheinbundära225
Exodus und Krisenmanagement (1803/04)225
Konstitutioneller Reformprozess (1808/09)226
Pressepolitik unter französischem Protektorat (1806–1810)227
Rheinbündische Publizistik: Heinrich Luden, Johannes Voigt (1808)228
Anstößiger Scherz: Christian Anton August Slevogt (1809)230
Camouflage mit Folgen: Karl Fischer (1808/09)231
Preußische Selbstzensur: Christian von Massenbach (1808–1810)233
Auf dem Weg zum freien Wort237
Landständisch verfasste Zensurfreiheit (1816)237
Über die Grenzen der Pressefreiheit (1816/17)240
Publizistische Gründerzeit (1816–1818)243
Die Strahlen der Windrose: Heinrich Ludens Nemesis (1814–1818)244
Polizei- oder Justizsystem?: Günther von Berg (1818)248
»Preßfreiheit ist nicht Preßfrechheit«: Christian Wilhelm Schweitzer (1818)248
»Die Okeniade gab reichen Stoff.«: Lorenz Oken (1816–1821)251
Das »Bullending«: August von Kotzebue (1818)260
Ächtung eines »Demagogen«: Jakob Friedrich Fries (1817–1821)262
Der letzte Todesstoß?: Ernst Förster (1819)267
Im Schatten von Karlsbad (1819–1848)272
»Verstrafrechtliche« Pressefreiheit (1848–1874)280
Schlussbemerkungen285
Wandlungen und Krisen der Jenaer Zensur285
Zensur ein Misserfolg?289
Abkürzungsverzeichnis294
Literaturverzeichnis295
Quellenverzeichnis317
Archivalische Quellen317
Zeitungen und Zeitschriften320
Lexika, Nachschlagewerke, Wörterbücher, Biographische Sammlungen320
Gesetztexte, Verordnungen, Amtsschriften, Denkschriften, Verfassungstexte, Statuten321
Quellensammlungen322
Historische Schriften323
Verzeichnis der Drucke 336
Anhang: Ausgewählte Quellen355
1522: Wittenberger Universitätszensur gegen Karlstadt355
1548: Johann Friedrich I., Zensur Erfurter Rat (31.3.1548)356
1553: Druckprivileg an Christian Rödinger (20.11.1553)356
1554: Erneuertes Druckprivileg an Christian Rödinger (22.7.1554)357
1554: Richtlinien zur Herausgabe der Jenaer Lutherausgabe (24.7.1554)358
1556: Ernestinische Polizei- und Landesordnung (22.3.1556)359
1556: Erneute Bestätigung Druckprivileg Rödinger mit Zensurmandat (1.9.1556)360
1558: Freiheiten, Ordnungen und Statuten der Universität Jena (25.1.1558)360
1561: Johann Friedrich II. an Heinrich Schneidewein und Johann Gruner (21.6.1561)361
1561: Konsistorialordnung Weimar (8.7.1561)361
1569: Vermehrte und verbesserte Statuten der Universität Jena (24.1.1569)362
1569: Konsistorialordnung Jena (7.3.1569)362
1574: Jenaer Konsistorialordnung (12.6.1574)363
1580: Polizei- und Landesordnung Sachsen-Weimar364
1589: Polizei- und Landesordnung Sachsen-Weimar (7.3.1589)365
1591: Verbesserte Statuten der Universität (22.1.1591)365
1615: Puncta die drückergesellen betr.366
1655: Ordnung wegen der Buchdrucker (29.10.1655)366
1669: Puncta die Drucker-Gesellen betreffend368
1696: Buchdrucker in Jena Pflichts-Notul368
1772: Von der Befugnis der Akademie in Ansehung der Buchdrucker zu Jena368
1809: Verordnung Herzogliches Landes-Polizey-Collegium (16.2.1809)369
1809: Bekanntmachungen Herzogliches Landes-Polizey-Collegium (22.4.1809)369
1816: Großherzogl. S. Landesdirektion, Karl Hufeland369
1816: Grundgesetz über die Landständische Verfassung des Großherzogthums
Sachsen-Weimar-Eisenach (5.5.1816)370
1816 Weisung des Großherzogs Carl August an Goethe370
November 1818 Christian Wilhelm Schweitzer, Denkschrift, die deutschen Universitäten
betreffend, insbesondere die Universität Jena betreffend370

Vorwort Am 10. Oktober 1962 veröffentlichte Der Spiegel anlässlich des NATO-Manövers Fallex 62 einen Arti­kel, der erhebliche Zweifel an der bundesdeutschen Verteidigungsfähigkeit äußerte. Die Bundesanwaltschaft betrachtete diese Veröffentlichung als militärischen Landesverrat und staats­gefährdende Verschwörung. Am 26. Oktober 1962 besetzten Polizeibeamte und Staatsanwälte Diensträume der Spiegel-Redaktionen in Hamburg, Düsseldorf und Bonn. Herausgeber, Autoren und Redakteure des Hamburger Nachrichtenmagazins wurden verhaftet. Doch die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos. Die konservativ geführte Bundesregierung, die sich die Verdächtigungen zu eigen gemacht hatte, musste zurückstecken: Zwei Staatssekretäre wurden entlassen, der Verteidigungsminister trat zurück, die inhaftierten Journalisten wurden freigelassen. Der Skandal endete mit einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts, dass die Aktion gegen das Printmagazin ein verfassungswidriger Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit darstellt. Es stellte zugleich fest, dass eine freie, von der öffentlichen Gewalt unabhängige Presse ein Wesensmerkmal des freiheitlichen Rechtsstaates ist. Die Aktion gegen den Spiegel und Versuche ähnlicher Art sind an der Wachsamkeit der Öffentlichkeit und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung gescheitert. Die parlamentarische Demokratie erwies sich als wehrhaft und robust. Die Spiegel-Affäre war nicht nur ein Bruch der in Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes proklamierten Meinungsfreiheit, sondern verstieß auch gegen das an gleicher Stelle garantierte Gebot: »Eine Zensur findet nicht statt.« Zensur im Sinne des Grundgesetzes ist ein »kommunikationsgerichtetes Inhaltskontrollverfahren. Es besteht aus einem auf inhaltliche Prüfung abzielenden Überwachungsvorgang und kann auf ein zurechenbares Drohpotential von grundrechtseingreifenden Sanktionsinstrumenten zurückgreifen, die auf die Kommunikation belastend einwirken.« Das Zensurverbot ist daher eine absolute Eingriffsschranke und das Existenzminimum der Meinungs- und Pressefreiheit. Die behördliche Vorprüfung des Inhalts eines Geisteswerkes vor seiner Verbreitung ist nicht statthaft und rechtswidrig. Das Zensurverbot des Grundgesetzes verhindert »die präventive Vorschaltung eines behördlichen Verfahrens […] vor dessen Abschluß das Werk nicht publiziert werden darf.« Im demokratischen Rechtsstaat ist somit die Verbreitung von Stellungnahmen oder Beurteilungen geschützt, gleichviel ob sie richtig, falsch oder einseitig sind. Auch provozierende, unbequeme oder schockierende Äußerungen in Presse, Funk, Theater, Internet und Fernsehen, in Büchern, Vorträgen, in der bildenden Kunst und auf Tonträgern sind erlaubt. Die Freiheitsrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, sie sind die Voraussetzung der demokratischen Willensbildung. Unbegrenzt ist die öffentliche Kommunikation im modernen Rechtsstaat gleichwohl nicht. Dass öffentliche Kommunikation, Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind, bedeutet nicht, dass diese Freiheit schrankenlos ist. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland heißt es daher: »Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung« (Art 5, Absatz 3). Grenzen setzen die aus der Würde des Menschen als oberstem Verfassungsgebot abgeleiteten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre. Diese Rahmen setzenden Schranken ermöglichen den gleichberechtigten, diskriminierungs­freien Diskurs in der Gesellschaft. Äußerungen mündlicher oder gedruckter Art, die den Straftatbestand der Rassendiskriminierung, des Antisemitismus sowie der Volksverhetzung erfüllen, sind verboten. Strafrechtlich verfolgt werden auch die Leugnung des Holocausts, die öffentliche Verbreitung verfassungsfeindlicher Symbole sowie Aufrufe zu Straftaten, die Verletzung der Ehre von Personen und die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Meinungsfreiheit gilt also unter dem Vorbehalt, dass andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang nicht verletzt werden. Die Begrenztheit der Kommunikationsfreiheit trifft für den modernen Verfassungsstaat wie auch für den Obrigkeitsstaat zu. »Man muß sich nur«, schreibt Wolfram Siemann, »einzelne Passagen des gegenwärtig gültigen Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland anschauen, um das wiederzuerkennen, was ehedem auch Teil und Aufgabe der Zensur gewesen ist, nämlich dem gedruckten, veröffentlichten oder mündlich geäußerten Wort Schranken zu setzen.« Kein Zweifel: »… das Strafrecht übt Kommunikationskontrolle aus.« Rechtsprechung und Gesetzesinterpretation jedoch unterscheiden sich. Sie sind – kurz gesagt – im Obrigkeitsstaat repressiv, im Verfassungsstaat liberal, unabhängig, der Appellation zugänglich und Gegenstand des öffentlichen Diskurses. Diese Unterschiede spiegeln den gesellschaftspolitisch bedingten Wertewandel. In den letzten Jahrzehnten haben sich mit dem Kabel- und Satellitenfernsehen, dem Videotext und dem Internet neue Medientechnologien etabliert und die Kommunikationsverhältnisse revolutioniert. Das Internet erlaubt den raschen Zugriff auf global vernetzte Informationsquellen. Die Sammlung, Zusammenführung, Auswertung und Verwendung von Datenbeständen aller Art haben sich in ungeahnter Weise beschleunigt. Der Einsatz digitaler Technologien verändert rasant die Produktionsprozesse, die Verwaltung, das Bildungs- und Gesundheitswesen. Im heutigen Mediendiskurs äußern viele ihr Unbehagen über die digitale Revolution und empfinden sie eher als bedrohlich. Es häufen sich Klagen über eine »zügellose, vor allem demokratie- und jugendgefährdende Kommunikation sowie über anhaltenden Werteverfall.« Andererseits wird befürchtet, dass eine neue Art von Zensur im Entstehen begriffen ist. Das Gefühl, zunehmend von anonymen Mächten kontrolliert zu werden, breitet sich aus. Der »gläserne« Staatsbürger scheint möglich, und viele haben den Eindruck, mehr als je zuvor bevormundet zu werden. Im Juli 2020 beklagten über 150 überwiegend amerikanische Intellektuelle eine »Atmosphäre von Zensur« und »schwere Vergeltungsmaßnahmen« für diejenigen, die sich »vermeintliche sprachliche oder gedankliche Entgleisungen« leisten. Viele Bedenken beziehen sich auf das Internet, das lange ein quasi rechtsfreier Raum war, in dem insbesondere in den sozialen Netzwerken Hasstiraden, Fake News, pornografische Darstellungen und Verschwörungstheorien aller Art ungehindert zirkulieren konnten. Darauf reagierte das im Sommer 2017 vom Deutschen Bundestag verabschiedete Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das die Schutzpflicht des Staates mit der Meinungsfreiheit sinnvoll verbinden soll. Die Betreiber der digitalen Netzwerke sind nun zu einem grundgesetzkonformen Verhalten verpflichtet, sollen also die politische Kommunikation von Störungen frei halten, die dem Ideal eines herrschaftsfreien, allen zugänglichen Diskurses abträglich sind. Ob das Gesetz diesem Zweck gerecht wird, ist zwar umstritten, doch steht fest, dass das Zensurverbot des deutschen Grundgesetzes im Lichte heutiger Entwicklungen einer Neuinterpretation bedarf. Die Zensur ist heute nicht zuletzt deshalb noch immer aktuell, weil autoritäre und diktatorische Regimes sie als ein Instrument der Machtsicherung und der gesellschaftlichen Kontrolle gebrauchen. Die Zensur soll das Entstehen eines kritischen Journalismus und einer offenen Zivilgesellschaft verhindern. Auch wenn in heutigen Diktaturen formal Presse- und Meinungsfreiheit proklamiert werden, bedienen sie sich ausgeklügelter Verfahren, um die Verbreitung von Informationen zu kanalisieren, etwa durch Beschränkung der Internetnutzung oder des Zugangs zu ausländischen Medien. In Obrigkeitsstaaten sind Machtsicherungsinteressen der politischen Eliten und des Staates die primären Kriterien für Barrieren und Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit. In die heutige Interpretation und Anwendung des grundgesetzlichen Zensurverbots in der Bundesrepublik sind auch historische Erfahrungen mit der Zensur eingeflossen. Die Kenntnis der älteren und jüngeren Geschichte der Zensur bestärkt uns darin, dass Meinungs- und Pressefreiheit Grundrechte Grundpfeiler demokratischer Legitimation sind. Wie die Diskussion um die Neuen Medien zeigt, ist die Bestimmung dessen, was, wie und wo gesagt wird und gesagt werden darf, niemals abgeschlossen. Daher können sich Geschichte und Gegenwart wechselseitig erhellen. Dies erklärt dann auch das anhaltend starke öffentliche und wissenschaftliche Interesse an der Zensur und ihrer Geschichte. Dass das Problem Zensur weltweit aktuell ist und es wohl auch bleiben wird, hat die Aktion der argentinischen Künstlerin Marta Minujíin auf der documenta 14 (2017) in Kassel eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Für ihr Projekt Parthenon of Books erbat sie sich aus der gesamten Welt Exemplare eines einst oder aktuell verbotenen Buches. Mit rund 50.000 gespendeten Büchern errichtete sie auf dem Kasseler Friedrichsplatz an genau jenem Ort, wo 1933 die Nationalsozialisten Bücher unliebsamer Autoren verbrannten, eine Nachbildung des Tempels der Göttin Athena auf der Akropolis im Maßstab 1:1. Wissenschaftliche Unterstützung erfuhr das Projekt durch eine von den Kasseler Germanisten Nikola Roßbach und Frank Gassner mit Studenten entwickelte Datenbank. Die List of Banned Books verzeichnet schon jetzt 120.000 jemals verbotene oder unterdrückte Bücher aus der ganzen Welt. Der Parthenon of Books stand somit als Mahnmal »für die Freiheit der Gedanken und Weltsichten« und bewies damit, »dass das kollektive Gedächtnis der Menschheit stärker ist als alle Verbote und Zensurmaßnahmen.«

VorwortAm 10. Oktober 1962 veröffentlichte Der Spiegel anlässlich des NATO-Manövers Fallex 62 einen Artikel, der erhebliche Zweifel an der bundesdeutschen Verteidigungsfähigkeit äußerte. Die Bundesanwaltschaft betrachtete diese Veröffentlichung als militärischen Landesverrat und staatsgefährdende Verschwörung. Am 26. Oktober 1962 besetzten Polizeibeamte und Staatsanwälte Diensträume der Spiegel-Redaktionen in Hamburg, Düsseldorf und Bonn. Herausgeber, Autoren und Redakteure des Hamburger Nachrichtenmagazins wurden verhaftet. Doch die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos. Die konservativ geführte Bundesregierung, die sich die Verdächtigungen zu eigen gemacht hatte, musste zurückstecken: Zwei Staatssekretäre wurden entlassen, der Verteidigungsminister trat zurück, die inhaftierten Journalisten wurden freigelassen. Der Skandal endete mit einem Spruch des Bundesverfassungsgerichts, dass die Aktion gegen das Printmagazin ein verfassungswidriger Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit darstellt. Es stellte zugleich fest, dass eine freie, von der öffentlichen Gewalt unabhängige Presse ein Wesensmerkmal des freiheitlichen Rechtsstaates ist. Die Aktion gegen den Spiegel und Versuche ähnlicher Art sind an der Wachsamkeit der Öffentlichkeit und der Unabhängigkeit der Rechtsprechung gescheitert. Die parlamentarische Demokratie erwies sich als wehrhaft und robust.Die Spiegel-Affäre war nicht nur ein Bruch der in Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes proklamierten Meinungsfreiheit, sondern verstieß auch gegen das an gleicher Stelle garantierte Gebot: »Eine Zensur findet nicht statt.« Zensur im Sinne des Grundgesetzes ist ein »kommunikationsgerichtetes Inhaltskontrollverfahren. Es besteht aus einem auf inhaltliche Prüfung abzielenden Überwachungsvorgang und kann auf ein zurechenbares Drohpotential von grundrechtseingreifenden Sanktionsinstrumenten zurückgreifen, die auf die Kommunikation belastend einwirken.« Das Zensurverbot ist daher eine absolute Eingriffsschranke und das Existenzminimum der Meinungs- und Pressefreiheit. Die behördliche Vorprüfung des Inhalts eines Geisteswerkes vor seiner Verbreitung ist nicht statthaft und rechtswidrig. Das Zensurverbot des Grundgesetzes verhindert »die präventive Vorschaltung eines behördlichen Verfahrens [...] vor dessen Abschluß das Werk nicht publiziert werden darf.« Im demokratischen Rechtsstaat ist somit die Verbreitung von Stellungnahmen oder Beurteilungen geschützt, gleichviel ob sie richtig, falsch oder einseitig sind. Auch provozierende, unbequeme oder schockierende Äußerungen in Presse, Funk, Theater, Internet und Fernsehen, in Büchern, Vorträgen, in der bildenden Kunst und auf Tonträgern sind erlaubt. Die Freiheitsrechte sind Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat, sie sind die Voraussetzung der demokratischen Willensbildung. Unbegrenzt ist die öffentliche Kommunikation im modernen Rechtsstaat gleichwohl nicht. Dass öffentliche Kommunikation, Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind, bedeutet nicht, dass diese Freiheit schrankenlos ist. Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland heißt es daher: »Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung« (Art 5, Absatz 3). Grenzen setzen die aus der Würde des Menschen als oberstem Verfassungsgebot abgeleiteten gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre. Diese Rahmen setzenden Schranken ermöglichen den gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Diskurs in der Gesellschaft. Äußerungen mündlicher oder gedruckter Art, die den Straftatbestand der Rassendiskriminierung, des Antisemitismus sowie der Volksverhetzung erfüllen, sind verboten. Strafrechtlich verfolgt werden auch die Leugnung des Holocausts, die öffentliche Verbreitung verfassungsfeindlicher Symbole sowie Aufrufe zu Straftaten, die Verletzung der Ehre von Personen und die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener. Meinungsfreiheit gilt also unter dem Vorbehalt, dass andere Rechtsgüter mit Verfassungs

Erscheinungsdatum
Mitarbeit Assistent: Falk Burkhardt
Verlagsort Jena
Sprache deutsch
Maße 170 x 240 mm
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte Bibel • Demagogenverfolgung • Demokratie • Luther • Meinungsfreiheit • Pressefreiheit • Zensur
ISBN-10 3-948259-18-6 / 3948259186
ISBN-13 978-3-948259-18-1 / 9783948259181
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