DIE DEUTSCH-ITALIENISCHE HANDELSKAMMER 1921-2021 | LA CAMERA DI COMMERCIO ITALO-GERMANICA 1921-2021

Eine historische Ortsbestimmung | Un inquadramento storico

Maximiliane Rieder (Herausgeber)

Buch | Hardcover
336 Seiten
2023 | 1. Erstauflage
Nova MD (Verlag)
978-3-98595-969-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

DIE DEUTSCH-ITALIENISCHE HANDELSKAMMER 1921-2021 | LA CAMERA DI COMMERCIO ITALO-GERMANICA 1921-2021 -
25,00 inkl. MwSt
Die Historie der Deutsch-Italienischen Handelskammer war immer auch ein Brennglas der großen Geschichte, also des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontextes, in dem die Mailänder Traditionsinstitution agiert. Ihre «Biographie» ist globale, europäische und deutsch-italienische Geschichte in concreto. Epochenübergreifend rekonstruiert das Buch die Entwicklungen und Metamorphosen des bilateralen Wirtschaftsverbands als Wegbereiter, Mitgestalter, Bewahrer und Fundament der historisch gewachsenen und gefestigten Beziehungen zwischen Italien und Deutschland. Der Band erschließt ein weitgehend unbekanntes Kapitel deutsch-italienischer Zeitgeschichte.

Aus Anlaß ihres einhundertsten Geburtstags hat die Deutsch-Italienische Handelskammer (AHK Italien) in Mailand gemeinsam mit dem Deutsch-Italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog Villa Vigoni e.V. die Historikerin Dr. Maximiliane Rieder beauftragt, die Geschichte dieser «100 Jahre Handelskammer in Italien» zu schreiben. Das Buch liegt nun auf Deutsch und auf Italienisch vor, und mit großem Dank an die Autorin wünschen wir dem Werk zahlreiche Leserinnen und Leser in beiden Ländern. Villa Vigoni und Handelskammer haben auch schon früher gut zusammengearbeitet. Immer wieder war das Deutsch-Italienische Zentrum am Comer See Schauplatz von Veranstaltungen der AHK Italien, in denen es etwa um die Perspektiven des europäischen Binnenmarkts ging (1990) oder um die Vorstellung von Programmen zur Investitionsförderung in den neuen Bundesländern (1991). Die AHK hat die Villa Vigoni für Fortbildungsangebote genutzt und für deutsch-italienische Initiativen auf dem Feld der beruflichen Bildung (2016). So scheint der Wunsch, eine breite Leserschaft möge sich für die Studie interessieren, nicht abwegig, wenn man bedenkt, daß die Historie dieser Institution nie ausschließlich «Kammergeschichte» war und ist, sondern immer auch ein Brennglas der großen Geschichte darstellt, also des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontextes, in dem sie agiert. Die Geschichte der AHK Italien ist globale, europäische und deutsch-italienische Geschichte in concreto und unterstreicht die Relevanz der Organisation wirtschaftlicher Interessen. Entwicklungen von globalem und europäischem Ausmaß lassen sich hier nachzeichnen. Tatsächlich ist Rieders Untersuchung ein Beispiel für den noch relativ jungen Zweig der «historischen Verbändeforschung». Dabei handelt es sich um die Erforschung konkreter Einrichtungen an der Schnittstelle zwischen privaten und öffentlichen Interessen, zwischen freiwilligen Zusammenschlüssen und staatlicher Aufsicht und Lenkung. Das macht Verbände und ähnliche Institutionen zu spannenden Untersuchungsobjekten, zeigen sie doch, wie die Ziele und Zwecke, um derentwillen sich eine Gruppe von Menschen organisiert, mit dem jeweiligen Zeitgeist zusammenwirken, mit dem politischen und kulturellen «Klima», in dem man tätig wird. Rieder rekonstruiert Entstehung und Struktur der Deutsch-Italienischen Handelskammer, die Erwartungen, die mit der Gründung 1921 verbunden waren, und portraitiert die wichtigsten Protagonisten. Sie zeigt für die Anfänge und für die folgenden Jahrzehnte, in welchem Ausmaß Organisation und Arbeit der Kammer durch das jeweilige politische Umfeld geprägt waren. Das ist vielleicht das Überraschendste an dem Buch: Man liest die Biographie dieser Institution und hat den Eindruck, die gesamte Dynamik des turbulenten, oft dramatischen Jahrhunderts zwischen 1921 und 2021 spiegele sich in den Herausforderungen und Entscheidungen, vor denen die Akteure standen: die Funktionäre, die Start-ups (die damals noch nicht so hießen), Händler, Wirtschaftskapitäne, alle, die zwischen Italien und Deutschland geschäftlich aktiv sein wollten. Das gilt auch für die Zeit vor Gründung der AHK Italien in Mailand im Jahre 1921, und dies ist der Grund, weshalb sich die Villa Vigoni an dem wissenschaftlichen Unternehmen beteiligt. Denn bereits Generationen zuvor waren es der Gründervater der Villa Vigoni, Heinrich (Enrico) Mylius (1769- 1854), und sein Großneffe Friedrich Heinrich (Federico Enrico) Mylius (1838- 1891), die gewissermaßen in ihrer Person die deutsch-italienischen Handelsbeziehungen verkörperten, aber auch einen enormen Beitrag zum kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Italien leisteten. Heinrich Mylius war Kaufmann. Er stammte aus Frankfurt am Main, ließ sich aber in den frühen 1790er Jahren in Mailand nieder, wo er im Seidenexport sowie im Import von englischen Manufakturwaren, im Kolonialwaren- und im Transithandel aktiv und außerordentlich erfolgreich wurde. Er wusste die Verbindung der im Seidengewerbe starken Lombardei mit dem aufstrebenden Rhein-Main-Gebiet und den Zentren der englischen Industrialisierung klug zu nutzen. Bankwesen, Seidenproduktion und -handel entwickelte er zu den herausragenden Sparten seiner Geschäftstätigkeit. Zu Mylius‘ Mailänder Karriere gehört aber auch sein Engagement in der Bürgerschaft: Unter anderem wurde er 1839 zum Vizepräsidenten der Handelskammer gewählt, und er begründete 1838 die noch heute bestehende Società d’Incoraggiamento d’Arti e Mestieri (SIAM; Vereinigung zur Förderung von Handwerk und Berufsausbildung), die Vorläuferin der Mailänder Polytechnischen Hochschule. Sein Großneffe Friedrich Heinrich, der nach einer europäischen Ausbildung das Familienunter- nehmen Enrico Mylius e Comp. mit seinem Bruder Julius zunächst fortführte, war im Bankwesen, in der Produktion und im Handel von Textilien sowie als Kunstmäzen mindestens so erfolgreich wie sein Onkel. Bis zu seinem Tod engagierte er sich in der deutschen «Kolonie» in Mailand und stellte sein Grundstück in der Via Montebello für den Bau der Evangelischen Kirche zur Verfügung. Sein Wohnsitz im vornehmen Stadtviertel «Principe Umberto», das Villino Mylius, wurde zum Salon der Mailänder Gesellschaft. Auf der konstituierenden Versammlung des «Deutschen Hilfsvereins» in Mailand (1871) übernahm er für fünf Jahre den Vorsitz des Verwaltungsrats. Dessen Mitglieder initiierten fünf Dezennien später die Deutsch-Italienische Handelskammer Zur Förderung der deutsch-italienischen Beziehungen in Wissenschaft, Bildung, Kultur und Wirtschaft vererbte Friedrich Heinrich Mylius‘ Enkel Ignazio Vigoni nach seinem Tod im Jahre 1983 Villa und Grundstück am Comer See testamentarisch der Bunderepublik Deutschland. Die Rolle der Familiendynastie Mylius bei der Organisation ökonomischer Interessen im Mailänder Wirtschaftsleben und für die deutsch-italienischen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen unterstreicht eine Besonderheit der Mailänder Konstellation. Es verwundert auf den ersten Blick, daß die Handelskammer erst 1921 gegründet wurde, während andere deutsche Einrichtungen, die sich evident der Einigung des Deutschen Reichs und der damit einhergehenden steigenden Popularität des «deutschen Modells» verdankten, schon seit den 1870er Jahren in der lombardischen Hauptstadt florierten (man denke an den oben genannten «Deutschen Hilfsverein» und die Deutsche Schule etc.). Wie erklärt es sich, daß Handel und Industrie vergleichsweise spät den Bedarf an einer Organisation zum Schutz ihrer Interessen verspürten? Es scheint so zu sein, daß erst der I. Weltkrieg jene schwierige Situation für die deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen geschaffen hat, die eine Schaltstelle und Interessensvertretung erforderlich machte. Bis dahin hatten diese Beziehungen quasi unabhängig von der Gründung der beiden Nationalstaaten in den Jahren 1861 und 1871 wie zuvor gut funktioniert. Erst der Krieg sorgte für den Bruch. Bis dahin waren «die Deutschen» in Mailand wohl integriert und selbstverständliche, aktive Komponenten des Wirtschaftslebens gewesen. In allen Sparten waren deutsche Unternehmer vertreten: Weinhandel, Druckereiwesen, Versicherungen, Fürsorgeeinrichtungen, Bankwesen, Transport. Diese selbstverständliche Präsenz bildet gewissermaßen die Vorbedingungen dafür, daß die 1921 entstandene Handelskammer in Mailand «bilateral» war, wie die Autorin schreibt – ein Alleinstellungsmerkmal, anders als zahlreiche «rein deutsche» Einrichtungen in Italien. Beide Erzählstränge sind wichtig. An Heinrich und Friedrich Heinrich Mylius‘ Viten lassen sich zweifellos ebenso wie an den deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen die großen Entwicklungen und Umbrüche der Epochen ablesen. Aber es gilt andererseits für die Unternehmerpersönlichkeiten Mylius, was für die Deutsch-Italienische Handelskammer ins- gesamt gesagt werden kann: Bei aller Eingebundenheit in den politischen und kulturellen Kontext der jeweiligen Zeit, bei aller Abhängigkeit von den jeweiligen politischen und rechtlichen Konstellationen gibt es doch die ebenso große Wirkmacht des unternehmerischen Eigensinns. Die 100 Jahre AHK Italien zeigen eindrucksvoll, daß es eigentlich immer darum ging, die Wirtschaftspartnerschaft zwischen Deutschland und Italien lebendig zu halten, ordentliche, profitable Geschäfte zu machen, verbindliche Rahmenbedingungen für die Geschäftsbeziehungen auszuhandeln, Kooperationen auf den Weg zu bringen, attraktive Produkte zu entwickeln und Absatzmärkte dafür zu sichern. Dieses klare Interesse ist nicht immun gegen ideologische Angebote, wie beispielsweise das Kapitel zur Geschichte der Kammer unter dem faschistischen Regime und während des Nationalsozialismus deutlich macht. Handel und Wandel sind in Diktaturen ebenso wenig «neutral» oder unschuldig wie Technik und Ingenieurwissenschaften. Aber das aufs Wirtschaftliche und auf nachhaltiges Wachstum gerichtete Interesse hat der Handelskammer in Mailand eine überraschen- de Kontinuität beschert, jenseits all der schweren Brüche und Zäsuren des XX. Jahrhunderts, jenseits von Kriegen, Systemwechseln, gesellschaftlichen Transformationen einschließlich dem europäischen Integrationsprozess. Zu nennen wären als Elemente dieser Kontinuität die ungeheure Dichte der deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen und die Tatsache, daß auch nach Katastrophen der gemeinsame Neustart rasch gelingt. Man könnte zahlreiche Kooperationen auflisten, deren Erfolg sich dem Umstand verdankt, daß die deutsche Seite und die italienische Seite sich mit ihren jeweiligen Stärken besonders gut ergänzen. So erscheint das deutsch-italienische Wirtschaftshandeln zwar, wie gesagt, selbstverständlich abhängig von legislativen und sonstigen Rahmenbedingungen, aber doch zugleich erstaunlich wenig politisch aufgeladen oder ideologisiert. Bei der Lektüre drängt sich der Gedanke auf, daß der Rückblick, den die Auto- rin vorlegt, durchaus auch ein Abbild der deutsch-italienischen Gegenwart ist, die auf der politisch-medialen Ebene bisweilen zerstritten wirkt, aber im Ökonomischen eng vernetzt ist. Da wünscht man sich, daß das Bewusstsein der Win-Win-Konstellation, die die deutsch-italienischen Wirtschaftsbeziehungen kennzeichnet, stärker in die politische Öffentlichkeit beider Länder ausstrahlen möge.

Erscheinungsdatum
Übersetzer Mauro Cantino
Verlagsort Deutschland
Sprache deutsch; italienisch
Maße 160 x 235 mm
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften
Schlagworte 20. und 21. Jahrhundert • ahk • AHK Italien • Auslandshandelskammern • bilateraler Wirtschaftsverband • Deutschland • Europa • Handelsbeziehungen • Handelsgeschichte • Internationale Beziehungen • Italien • Volkswirtschaft
ISBN-10 3-98595-969-2 / 3985959692
ISBN-13 978-3-98595-969-3 / 9783985959693
Zustand Neuware
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