Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums (eBook)
271 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2010-3 (ISBN)
Marshall Sahlins, geboren 1930, gilt als einer der einflussreichsten und originellsten US-amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart. Er lässt sich auf keine Schule festlegen und vertritt substantivistische, formalistische, strukturalistische, marxistische und neoevolutionistische Standpunkte. Er starb 2022.
Marshall Sahlins, geboren 1930, gilt als einer der einflussreichsten und originellsten US-amerikanischen Sozialanthropologen der Gegenwart. Er lässt sich auf keine Schule festlegen und vertritt substantivistische, formalistische, strukturalistische, marxistische und neoevolutionistische Standpunkte. Heide Lutosch, 1972 in Niedersachsen geboren, lebt in Leipzig und hat bisher zahlreiche Sachbücher zu so diversen Themen wie Selbstmitgefühl, Thomas Mann oder Elefanten aus dem Englischen übersetzt.
Einleitung: Eine kulturelle Revolution von welthistorischem Maßstab
Am Anfang der christlichen Missionsarbeit auf den Fidschi-Inseln sagte einmal ein Häuptling voller Bewunderung zu einem englischen Missionar: »Eure Schiffe sind echt, eure Kanonen sind echt, also muss auch euer Gott echt sein.« Anders als ein typischer Sozialwissenschaftler unserer Zeit denken würde, meinte er damit nicht, dass Vorstellungen wie »Gott« und »Religion« letztendlich ein Spiegel der existierenden politischen Ordnung sind, also das Resultat einer Ideologie, die erfunden wurde, um den jeweiligen Herrschern Legitimität zu verleihen. In diesem Fall wäre die Anerkennung der Existenz des englischen Gottes ein die Form religiöser Bildlichkeit annehmender Ausdruck für die handgreifliche Macht der Kanonen und Schiffe. Der Häuptling meinte es aber genau umgekehrt: Für ihn waren die englischen Schiffe und Kanonen ein materieller Ausdruck der göttlichen Macht (auf Fidschi: Mana) – zu der die Ausländer ganz offensichtlich privilegierten Zugang hatten. »Echt« (dina) ist in der Sprache der Fidschianer eine Eigenschaft von Mana, wie an der bei rituellen Ansprachen üblicherweise gesprochenen Schlussformel deutlich wird: »Mana, es ist echt.« Der Häuptling sagte also, dass die englischen Schiffe und Kanonen, weil sie auf so beeindruckende Weise mit Mana ausgestattet waren, Verkörperungen der Macht des englischen Gottes sein mussten.
Diese Begebenheit ist eine Art Sinnbild für den größeren Zusammenhang, in dem die vorliegende Arbeit steht, und für das weitergehende Erkenntnisinteresse, von dem sie motiviert ist: Es geht um die radikale Transformation der kulturellen Ordnung, die vor etwa 2500 Jahren – in der von dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers so genannten »Achsenzeit« – begann und global betrachtet bis heute anhält.1 Die verschiedenen, unverwechselbaren Kulturen, die sich, ausgehend von ihren Ursprüngen in Griechenland, dem Nahen Osten, Norditalien und China, zwischen dem 8. und 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung immer weiter ausbreiteten, leiteten eine noch immer anhaltende kulturelle Revolution welthistorischen Maßstabs ein. Die wesentliche Veränderung bestand in der Verschiebung des Göttlichen von einer dem menschlichen Handeln immanenten Präsenz in eine transzendentale »andere Welt« mit einer ganz eigenen Realität: Die Erde ist daraufhin den Menschen allein überlassen. Sie können sie seitdem mit ihren eigenen Mitteln und Überzeugungen entsprechend frei gestalten.
Bis sie durch die kolonialen Ideologien der Achsenzeit – insbesondere durch das Christentum – von Grund auf verändert werden, sind die verschiedenen Völker (also ein Großteil der Menschheit) von unzähligen Geisterwesen umgeben – Göttern, Vorfahren, den Seelen der Pflanzen und Tiere und so weiter. Im Grunde sind es diese kleineren und größeren Götter, die die menschliche Kultur erst erschaffen; sie gehören zuinnerst zur menschlichen Existenz und bestimmen im Guten wie im Schlechten über das Schicksal von Menschen – sogar über Leben und Tod. Obwohl sie im Allgemeinen »Geister« genannt werden, sind diese Wesen mit den typischen Attributen von Personen ausgestattet, einem Kernbestand der entsprechenden mentalen Fähigkeiten, charakterlichen Eigenschaften und Willenskräfte. Folglich werden sie auf diesen Seiten häufig als »Metapersonen« oder »Metamenschen« bezeichnet, und wenn alternativ mit dem Begriff »Geister« auf sie Bezug genommen wird, geschieht das aufgrund ihrer Eigenschaft als nichtmenschliche Personen stets in expliziten oder impliziten Anführungszeichen. (Ähnlich dazu ist das Wort »Religion« immer dort unpassend, wo solche metamenschlichen Wesen und Kräfte nicht die Form transzendenter Anhängsel haben, sondern dem menschlichen Tun immanent sind beziehungsweise es überhaupt erst ermöglichen.) Vermittels ebendieser Eigenschaften bilden die Metapersonen im Zusammenspiel mit den menschlichen Personen eine große kosmische Gesellschaft – in der die Menschen eine untergeordnete und abhängige Rolle spielen.
In weiten Teilen der menschlichen Geschichte und in den allermeisten Gesellschaften bestand das Menschsein in genau dieser abhängigen Stellung in einem Universum voller wesentlich mächtigerer metamenschlicher Wesen. Die gesamte Welt vor und außerhalb der Achsen-Zivilisationen war eine Zone der Immanenz. Hier waren die unzähligen metamenschlichen Kräfte nicht in der Form menschlichen Erlebens präsent, sondern als reale, ausschlaggebende Akteure über menschliches Freud und Leid – als die Verursacher von Erfolg und Misserfolg in allen auch nur vorstellbaren Unternehmungen, vom Ackerbau bis zur Jagd, von der Fortpflanzung bis zum politischen Streben. Der Historiker Alan Strathern, der sich mit dem Thema der frühmodernen Religionskämpfe beschäftigt, drückt es in einer sehr erhellenden, kürzlich erschienenen Arbeit über die spezifische Transformation, die in den Sozialwissenschaften üblicherweise als Übergang vom »Immanentismus« zum »Transzendentalismus« bezeichnet wird, so aus: »Die wesentliche immanentistische Annahme besteht darin, dass das Erreichen jedes erstrebenswerten Ziels von der Zustimmung und dem Eingreifen übernatürlicher Kräfte oder Metapersonen abhängt. Sie sind die Kräfte hinter den basalen Fähigkeiten, Nahrung zu produzieren, Krankheiten zu überstehen, reich zu werden, Kinder zu gebären und Kriege zu führen«.2 Langsam dämmert uns, was durch die Kluft zwischen immanentistisch und transzendentalistisch alles auf dem Spiel steht. So leid es mir für all die Geisteswissenschaftler, Marxisten, Durkheimerianer und alle anderen tut, die implizit von einer transzendentalistischen Welt ausgehen: Die immanentistischen Kulturen waren »determiniert durch die religiöse Basis« – jedenfalls so lange, bis sich das Göttliche aus einer immanenten Infrastruktur in eine transzendente Superstruktur wandelte.
Wahrscheinlich versteht es sich von selbst, aber ich möchte es dennoch kurz erwähnen: Die Frage, die hier gestellt wird, lautet, wie immanentistische Gesellschaften real, also ihrem eigenen Kulturverständnis nach organisiert sind und funktionieren, nicht, wie die Dinge (unserer Vorstellung von »indigen« entsprechend) »eigentlich« sind. Es wird sich zeigen, wie sehr unsere eigenen transzendentalistischen Vorstellungen, insofern sie sich im typischen ethnografischen Vokabular niedergeschlagen haben, die immanentistischen Kulturen, die sie lediglich zu beschreiben vorgeben, entstellt haben. Nehmen wir zum Beispiel die etablierte Unterscheidung von »spirituell« und »materiell«: In Gesellschaften, für die alle möglichen sogenannten Dinge – manchmal sogar alles Existierende überhaupt – von innewohnenden Geisterpersonen belebt sind, ist diese Unterscheidung irrelevant. Dass der Unterschied zwischen immanent und transzendent in Bezug auf die kulturelle Ordnung ein fundamentaler ist, ist der wesentliche Punkt dieses Buches. Was man im Allgemeinen »Ökonomie« oder »Politik« nennt, hat in einem verwunschenen Universum eine radikal andere Bedeutung als in einer Welt, in der Götter weit weg und nie direkt involviert sind und wo die Menschen ihre Begriffe und Kunstgriffe frei anwenden können. In immanentistischen Ordnungen ist die rituelle Anrufung von Geisterwesen und ihrer jeweiligen Mächte eine ganz normale Voraussetzung für jede Art von kultureller Praxis. Vermischt mit den menschlichen Techniken der Lebenserhaltung, der Fortpflanzung, der sozialen Ordnung und der politischen Herrschaft als der notwendigen Voraussetzung zur Entfaltung ihrer Wirksamkeit bilden die vielen verschiedenen kosmischen Wesen und Kräfte gleichsam den allgemeinen Nährboden für jegliche menschliche Handlung. Eine Vielzahl von Geisterpersonen ist jeweils mit einer ganz bestimmten sozialen Handlung verbunden wie das Element einer chemischen Verbindung mit einem anderen oder wie ein gebundenes Morphem in einer natürlichen Sprache. Beziehungsweise, wie Lévy-Bruhl über bestimmte ethnische Gruppen in Neuguinea schreibt: »[Es] wird niemals ein Unternehmen ohne die Hilfe der unsichtbaren Mächte gelingen«.3
Max Webers berühmte Charakterisierung der Moderne als Entzauberung der Welt ist ein späteres Echo auf den von Karl Jaspers unter dem Begriff »Achsenzeit« entwickelten Transzendentalismus und die massenhaften gelehrten Kommentare, die er nach sich zog. Was der Sinologe Benjamin Schwartz schon früh auf den Punkt brachte, ist auch heute noch Konsens: »Wenn es trotz allem in all diesen ›Achsen‹-Momenten einen gemeinsamen unterschwelligen Impuls gibt, dann könnte man ihn den Hang zur Transzendenz nennen«.4 Die Auseinandersetzung des niederländischen Orientalisten Henri Frankfort mit dem...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2023 |
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Übersetzer | Heide Lutosch |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Ethnologie |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anthropologie • Ethnografie • Ethnologie • Feldforschung • Geister • Götter • Inuit • Kosmologie • Ontologie • Perspektivismus • Transzendentalismus • Transzendenz |
ISBN-10 | 3-7518-2010-8 / 3751820108 |
ISBN-13 | 978-3-7518-2010-3 / 9783751820103 |
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