Triggerpunkte (eBook)
540 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77676-6 (ISBN)
Von einer »Spaltung der Gesellschaft« ist immer häufiger die Rede. Auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen stehen sich zunehmend unversöhnliche Lager gegenüber. So plausibel sie klingen mögen, werfen entsprechende Diagnosen doch Fragen auf: Wie weit liegen die Meinungen in der Bevölkerung wirklich auseinander? Und ist die Gesellschaft heute wirklich zerstrittener als zur Zeit der Studentenproteste oder in den frühen Neunzigern?
Nicht zuletzt weil man eine Spaltung auch herbeireden kann, tut mehr Klarheit not. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser kartieren aufwendig die Einstellungen in vier Arenen der Ungleichheit: Armut und Reichtum; Migration; Diversität und Gender; Klimaschutz. Bei vielen großen Fragen, so der überraschende Befund, herrscht einigermaßen Konsens. Werden jedoch bestimmte Triggerpunkte berührt, verschärft sich schlagartig die Debatte: Gleichstellung ja, aber bitte keine »Gendersprache«! Umweltschutz ja, aber wer trägt die Kosten? Eine 360-Grad-Vermessung der Konflikte um alte und neue Ungleichheiten, die eine unverzichtbare Diskussionsgrundlage bietet und viele Mythen entzaubert.
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Steffen Mau, geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (st 5092) stand auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von ZDF, Zeit und Deutschlandfunk Kultur. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
71. Einleitung
Spaltungsdiagnosen sind in den letzten Jahren zu einem Masternarrativ geworden, mit dem sich die Gesellschaft ihren Wandel erzählt. Mit Besorgnis registriert man soziale und politische Fliehkräfte, die das Zentrum in entgegengesetzte Richtungen zerren, hin zu den wachsenden Rändern. Wo man sich früher einig war oder Differenzen sachlich austrug und friedlich weiterlebte, so die Wahrnehmung, herrschen heute nur noch Streit und Hysterie, Rechthaberei und Abgrenzung. Der allgegenwärtige Begriff der Polarisierung wird zur Chiffre einer Erosion des Zusammenhalts und einer Bedrohung der Demokratie.
Im Bild der Polarisierung ist die Gesellschaft in zwei Lager gespalten, die mit widerstreitenden Meinungen, Interessen und Werten aufeinanderprallen. Bildlich könnte man auch von einer Kamelgesellschaft sprechen: zwei steil aufragende Höcker, dazwischen ein trennendes Tal unüberbrückbarer Unterschiede. Das Gegenbild wäre die harmonische und wohlintegrierte Dromedargesellschaft, die nur einen Höcker kennt, der sich über den gesamten Rücken spannt.1 Soziale Positionen, Mentalitäten und Einstellungen sind um ein Zentrum herum normalverteilt (Abbildung 1.1).
Abb. 1.1: Kamel oder Dromedar?
Quelle: Freepik
Die Polarisierungsthese behauptet, dass wir uns von einer Dromedar- zu einer Kamelgesellschaft entwickeln. Inwiefern dem so ist, wird sowohl öffentlich als auch wissenschaftlich heiß debattiert. Auf politischen Podien, in Talkshows wie auch in den sozialen Medien verbreiten sich Polarisierungsdiagnosen geradezu inflationär. Auch für den Printjournalismus lässt sich ein sprunghafter Anstieg des Vokabulars von Polarisierung und Spaltung verzeichnen: So kann man anhand des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ermitteln, wie häufig bestimmte Begriffe in großen deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen vorkommen. Abbildung 1.2 zeigt den Be8fund: Der Formel »Spaltung der Gesellschaft« sowie Wörtern, die mit »polaris-« beginnen (etwa »polarisiert«, »polarisierend« oder »Polarisierung«), wird im Verlauf der Jahrzehnte immer größere Prominenz zuteil.2 Spaltungsdiagnosen schießen vor allem in den letzten zehn Jahren in die Höhe, die Häufigkeit des Polarisierungsbegriffes nimmt schon seit Längerem stetig zu.
Abb. 1.2: Spaltung und Polarisierung im Zeitungsdiskurs
Daten: Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache.
Doch stimmt das allseitig aufgerufene Bild der Spaltung? Leben wir tatsächlich in einer Kamelgesellschaft, oder bewegen wir uns auf sie zu? Und wenn ja, wer sind die Menschen, die sich auf den Höckern gegenüberstehen? Diese Fragen stellen den Horizont dieses Buches dar, in dem wir eine eigene Analyse gesellschaftlicher Auseinandersetzungen entfalten, die über Pauschalisierungen hinausgehen soll. Wir schlüsseln anhand vielfältiger Daten auf, welche Konfliktthemen und -gruppen unsere Gesellschaft tatsächlich strukturieren. Dabei rücken wir mit soziologischem Blick jene vielfältigen Formen von Ungleichheit in den Vordergrund, an denen sich die Kontroversen der Gegenwart entzünden. Bevor wir einen Überblick über das Kommende geben, wollen wir gängige Polarisierungsthesen kurz skizzieren und auf einen Nennwert bringen.
9Gesellschaftliche Spaltungsdiagnosen
Trotz der jüngsten Prominenz dieser Thesen gehört das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft in gegensätzliche Blöcke seit Langem zum Repertoire der Zeitkritik. So erklärte Marx die sozialen Kämpfe seiner Zeit durch die Grundspannung des Kapitalismus.3 Als Kamelhöcker treten hier soziale Klassen auf, die durch ihr Eigentum an Produktionsmitteln und ihre Position in der Produktionssphäre bestimmt sind. Im Spiel der kapitalistischen Kräfte, so prophezeite es das Kommunistische Manifest, würden »Zwischenklassen« nach und nach zerrieben.4 Übrig blieben zwei antagonistische Hauptklassen, verkörpert durch die Gruppen der Besitzenden und der Lohnabhängigen.5 Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell war lange Zeit eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften. Es regte unter anderem Studien an, die nachverfolgten, ob und wie sich objektive »Klassen an sich« zu »Klassen für sich« mit einem Gemeinschaftsgefühl und einem geteilten Verständnis der Situation formierten bzw. was diesen Übergang verhinderte.6
Ein dezidiert nicht marxistischer, aber ähnlich strukturell ausge10richteter Forschungsansatz entwickelte sich in der Politikwissenschaft ab den späten sechziger Jahren mit der sogenannten Cleavage-Theorie.7 Cleavages – zu Deutsch: Spaltungslinien – bezeichnen historisch relativ stabile Konfliktkonstellationen, die sich aus der Teilung von Bevölkerungsgruppen entlang sozialer Interessen und Identitäten ergeben. Die Cleavage-Forschung versucht zu erklären, warum nationale Parteiensysteme oft durch ähnliche Gegensätze strukturiert sind (etwa den zwischen Sozialdemokraten und Konservativen) und warum sich die Konstellationen zugleich von Land zu Land unterscheiden. Entsprechend ihrer leitenden Metapher zeichnet die Theorie ein Bild der Meinungslandschaft als geprägt durch Kollisionen und Gräben, die sich in langen historischen Prozessen aus »tektonischen« Verwerfungen ergeben. Was in der Geologie das Aufeinanderprallen oder Auseinanderreißen von Kontinentalplatten ist, sind in der Cleavage-Forschung Großprozesse wie die Herausbildung der Nationalstaaten und die industrielle Revolution. Sie schaffen Gewinner und Verlierer, etwa wenn nationalstaatliche Zentralisierung regionale Eliten deklassiert oder die kapitalistische Produktion Menschen die Arbeitsmittel entzieht und ihr Überleben von Marktgeschicken abhängig macht. In kritischen Momenten der Weichenstellung (sogenannten critical junctures) brechen derlei Antagonismen auf und bringen verschiedene Gruppen miteinander in Konflikt. In welchem Kontext dieser ausgefochten wird und wie sich die Antagonisten organisieren, prägt in der Folge dauerhaft die Parteienlandschaft. Denn einmal entstanden, tendieren die entsprechenden politischen Parteien dazu, diese Konfliktstrukturen auf Dauer zu stellen. Sie bleiben »eingefroren« und verschieben sich nur langsam – bis ein neuer Strukturwandel die nächste Eruption provoziert.
Damit man von einem Cleavage sprechen kann, müssen drei Elemente zusammentreten:8 erstens ein struktureller Interessengegensatz zwischen Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zu Gewinnern oder Verlierern von Transformationsprozessen werden (mit einer typischen Bevölkerungsgliederung nach sozioökonomischen 11oder auch regionalen, religiösen und sonstigen Faktoren); zweitens ein Gruppenbewusstsein in Form eines gesteigerten Zusammengehörigkeitsgefühls und einer geteilten »Kultur« im weiteren Sinne; und drittens eine Form der institutionalisierten politischen Interessenvertretung durch Parteien. Die Kernvorstellung besagt, dass im Parteiensystem Konflikte ihren Ausdruck finden, die auf der tieferen Ebene der Sozialstruktur sowie sozialer Identitäten angelegt sind.
Die Paradigmen der antagonistischen Klassengesellschaft oder einer durch Spaltungslinien geprägten Konfliktlandschaft waren dabei nie unumstritten. Der gewichtigste Einwand gegen die marxistische Spaltungsprognose war der Aufstieg einer Mittelschicht der »Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier«, in der die »Interessenkontraste der äussersten Flügel vermittelnden Ausgleich erfahren«, wie es der berühmteste Sozialstrukturforscher der Weimarer Republik, Theodor Geiger, mit Blick etwa auf die wachsenden Angestelltenmilieus beschied.9 Diese empirisch wohlfundierte Kritik am Zwei-Klassen-Modell mutierte in den fünfziger Jahren unter dem Etikett der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« zu einer Selbstbeschreibung der Bundesrepublik, die sich ganz grundsätzlich von jeglicher Konflikthaftigkeit absetzte und ein »Nivellement aller sozialen Schichten durch Entdifferenzierung und Auflösung der alten sozialen Klassen« behauptete.10 Obgleich die empirische Diagnose einer gemütlich...
Erscheint lt. Verlag | 9.10.2023 |
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Zusatzinfo | Mit Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Armut • bücher neuerscheinungen • Diskurs • Dissens • Diversität • Gender-Sprache • Gendersternchen • gespalten • Gleichstellung • Grabenkampf • Identitätspolitik • Klimawandel • Konflikte • Konsens • Kontroverse • Lütten Klein • Meinungsforschung • Migration • Neuerscheinungen • neues Buch • Öffentliche Meinung • Polarisierung • Reichtum • Spaltung • Streit • Umweltschutz • Ungleichheit |
ISBN-10 | 3-518-77676-2 / 3518776762 |
ISBN-13 | 978-3-518-77676-6 / 9783518776766 |
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