Die anderen Geschlechter (eBook)
272 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80729-9 (ISBN)
Dagmar Pauli ist Chefärztin und medizinisch-therapeutische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Sie befasst sich mit Essstörungen, Geschlechtsidentität und Selbstverletzungen bei Jugendlichen. Pauli ist verheiratet und Mutter dreier erwachsener Kinder.
2. Die total gegenderte Welt
In meiner Sprechstunde sehe ich immer wieder besorgte Eltern mit jüngeren Kindern, die bei der Geburt aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale als Junge gesehen wurden, sich aber nicht entsprechend verhalten. In manchen Fällen wehrt sich das Kind lautstark, der Jungengruppe zugeordnet zu werden, und behauptet, ein Mädchen zu sein, gibt sich selbst sogar einen Mädchennamen. Andere Kinder wollen aber einfach nur ein Kleid in den Kindergarten anziehen, weil sie das so schön finden. Wenn es sich dabei um ein Kind handelt, das wir als Junge zuordnen, haben wir damit bereits ein Problem. Die Eltern fragen sich: Tue ich dem Kind einen Gefallen, wenn ich ihm erlaube, in einem Kleidchen in die Schule zu gehen? Oder wird es dann von den anderen Kindern ausgegrenzt? Was soll ich nun diesen Eltern raten? Das Kind lebt nun mal in einer Welt, in der Jungen nicht mit Röcken oder Kleidern in den Kindergarten gehen. Eine Welt, in der bei uns sofort das Kopfkino losgeht: Wir sehen erwachsene trans Frauen vor uns mit männlichen Geschlechtsmerkmalen und in weiblichen Kleidern und sind dadurch irritiert. Die innere Homo- und Transfeindlichkeit macht sich breit. Die Eltern fragen sich: Ist mein Sohn schwul oder trans? Und das macht ihnen Angst. In vielen Fällen sind sich die Eltern nicht einig, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie fragen sich: Fördern wir vielleicht die weibliche Seite unseres Sohnes, wenn wir ihm erlauben, in einem Rock in den Kindergarten zu gehen? Wird er dadurch trans? Oder unterdrücken wir sein inneres Bedürfnis, wenn wir es verbieten? So landet ein völlig gesundes Kind in meiner Sprechstunde, nur weil es gerne ein Kleid anziehen will.
Das Beispiel soll zeigen, wie stark unsere Welt noch nach Geschlechtern geordnet ist. Sehr früh wird in Kindergärten oder Grundschulen ein «männliches» und ein «weibliches» Verhaltensmuster zementiert, indem die Kinder in geschlechtergetrennte Gruppen eingeteilt werden. «Halt!» – ruft hier ein:e Lesende:r. «Die Kinder in diesem Alter möchten sich doch selbst den Geschlechtergruppen zuordnen, sie fühlen sich ja viel wohler, wenn sie nur mit gleichgeschlechtlichen Kindern zusammen sind.» Richtig. Das trifft für einen Teil der Kinder zu, aber eben nicht für alle. Und wie stark sich Kinder den Geschlechtergruppen zuordnen möchten, wird davon beeinflusst, wie die Erwachsenen die Kindergruppe führen. Und «Halt!» – ruft hier jemand anders. «Das ist doch die Natur des Menschen, dass Frauen und Männer verschieden sind, also auch schon Jungen und Mädchen!» Die Antworten sind kompliziert und vorläufig.
Kinder werden von Anfang an entsprechend des ihnen zugeordneten Geschlechts geprägt. Das beginnt mit dem ersten Lebenstag eines Neugeborenen. Studien belegen, dass Eltern männliche Säuglinge anders behandeln als weibliche. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass Mütter die motorischen Fähigkeiten ihrer drei Monate alten männlichen Kinder eher über- und die der weiblichen Kinder eher unterschätzen.[1] Eltern schreiben höhere Tonlagen beim Schreien eher einem weiblichen und eine tiefere Tonlage eher einem männlichen Säugling zu, obwohl kein objektiver Unterschied besteht. Zudem reagieren sie eher auf tiefere Tonlagen des Schreiens, wenn sie diese einem Jungen zuordnen.[2] Auch im Kindergartenalter unterscheidet sich das erzieherische Verhalten von Eltern und anderen Bezugspersonen erheblich, je nachdem, welchem Geschlecht sie das betreffende Kind zuordnen. Eltern machen beim Vorlesen eines Buches ihren zwei- bis vierjährigen Kindern gegenüber genderstereotype Bemerkungen und erteilen unterschiedliche Anweisungen, je nachdem, welches Geschlecht das Kind hat.[3] Kinder wissen bereits im Kleinkindalter, welches Verhalten welchem Geschlecht zugeordnet wird, und versuchen, sich diesen Vorgaben möglichst anzupassen. Die zugeordneten Eigenschaften für Mädchen und Jungen haben sich im Verlauf der Jahrhunderte sehr stark angeglichen, jedoch nicht so stark wie die tatsächlichen Eigenschaften. Eine Übersicht über die Studienlage ergab, dass die Präferenz für Mädchenspielzeug bei ein- bis achtjährigen Mädchen sowie die Präferenz für Jungenspielzeug bei gleichaltrigen Jungen im Laufe der letzten Jahrzehnte abgenommen haben.[4] Die aktuell nachweisbaren Gruppenunterschiede in Verhalten und Fähigkeiten zwischen Mädchen und Jungen sind stark kulturabhängig. So zeigte eine Metaanalyse, dass die mathematischen Leistungen der Mädchen in verschiedenen Ländern hauptsächlich vom Ausmaß der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Geschlechter bestimmt sind. Es stellte sich heraus, dass die Mathematikleistungen der Mädchen vor allem in denjenigen Ländern besser waren, in denen die Gleichberechtigung der Frauen stärker ausgeprägt ist.[5] Alle Studien zeigen zudem, dass die Gruppenunterschiede zwischen Jungen und Mädchen deutlich kleiner sind als die Unterschiede der Mädchen untereinander oder der Jungen untereinander. Mit anderen Worten: Mädchen divergieren in Verhalten und Fähigkeiten untereinander weit stärker, als sie sich im Durchschnitt von den Jungen unterscheiden.
Trotzdem versucht der biologistisch orientierte Zweig der Forschung weiterhin, Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu messen und diese der «Natur» der Geschlechter zuzuschreiben. Obwohl bekannt ist, dass die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen über die Jahrhunderte sehr viel kleiner geworden sind, gehen wir häufig davon aus, dass aktuell gemessene Unterschiede «natürlich» und damit unveränderbar seien. Es ist aber nicht anzunehmen, dass der jahrhundertelange Prozess der Angleichung zwischen den Geschlechtsrollen ausgerechnet jetzt zum Stillstand gekommen ist. Wenn wir also davon ausgehen müssen, dass diese zunehmende Angleichung nicht aufzuhalten ist und der aktuelle Trend sich fortsetzt, so lässt sich schwerlich voraussehen, welche Unterschiede in einigen Jahrzehnten noch Bestand haben werden. Wir müssen uns der Möglichkeit öffnen, dass auch die aktuellen Beobachtungen von «jungenhaftem» und «mädchenhaftem» Verhalten nicht der Endpunkt einer Entwicklung sind, sondern dass wir möglicherweise in einigen Jahrzehnten nicht mehr viel davon beobachten werden. Unsere Vorstellungen von «natürlichen» Verhaltensweisen und Fähigkeiten von Männern und Frauen oder der Geschlechtereinteilung an sich sind also jeweils von dem geprägt, was wir in unserer Lebenszeit beobachten können. Dementsprechend müssen wir sehr vorsichtig sein, wenn wir diese als Norm auf Individuen anwenden.
Für die meisten Kinder ergibt sich aus der aktuellen Geschlechtszuordnung kein größeres Problem, da sie sich mit dem zugeordneten Geschlecht identifizieren können. Ein nicht zu vernachlässigender Teil jedoch leidet unter dieser Zuordnung. Dies betrifft in besonderem Maße zugordnete Jungen, die sich «mädchenhaft» verhalten. Aktuell stößt ein Kind auf größte Widerstände, wenn es Janosch heißt und rosarote Kleidchen liebt. Dieses Kind muss automatisch davon ausgehen, dass es «kein richtiger Junge» oder sogar ein Mädchen sein muss. Auf jeden Fall stimmt mit ihm etwas nicht. Für solche Kinder wäre die aktuell heiß debattierte «Auflösung» der Geschlechtskategorien ein Segen. Sie könnten einfach Kind sein und müssten sich nicht mit unpassenden Schubladen herumschlagen. Sie könnten einfach ein Kind mit bestimmten Vorlieben und unendlichen Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung sein. Sie könnten sie selbst sein.
Um nachzuvollziehen, wie stark Eltern auch heute noch geschlechtsspezifisches Verhalten ihrer Kinder fördern und geschlechtsatypisches Verhalten bestenfalls mit Skepsis beobachten, führen wir uns folgende Situation vor Augen: Eine Mutter erzählt amüsiert von ihrer Tochter, die sich im Kindergartenalter schon als Dame verkleidet, mit den Schuhen und der Handtasche der Mutter durch die Wohnung zieht und mit Schminke in ihrem Gesicht herummalt. Könnten wir uns dieselbe Situation mit einem kleinen Jungen vorstellen? Würde sie ebenso unbeschwert darüber berichten? Viele Eltern berichten stolz vom geschlechtstypischen Verhalten ihrer Kinder, das dann als Beweis für die «Natürlichkeit» dieses Verhaltens gelten soll. Kinder spüren diesen Stolz, sie spüren aber auch Zurückhaltung, Skepsis oder sogar Ablehnung der Erwachsenen, wenn sie sich genau andersherum verhalten.
Die Geschlechtertrennung von Spielsachen und Kleidung ist zudem ein wirtschaftlich nicht zu unterschätzender Faktor. Was, wenn es keine Jungen- oder Mädchenabteilung mehr gibt in den Spielzeug- und Kleiderläden? Was, wenn die Abteilungen rein nach Interessen eingeteilt werden und auf den Werbefotos sowohl Jungen als auch Mädchen in rosaroten Kleidern und mit Puppen bzw. Autos erscheinen? Umsatzeinbußen wären zu ...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2023 |
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Reihe/Serie | Beck Paperback |
Zusatzinfo | mit 17 Abbildungen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Sexualität / Partnerschaft |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Androgynie • Dialog • Diversität • Feminismus • Genderidentität • Geschlecht • Geschlechterrollen • Geschlechtervielfalt • Geschlechtsdysphorie • Geschlechtsidentität • Identität • Intersexualität • Nicht-Binarität • non-binary • Psychiaterin • Queer • Selbstbestimmtes Leben • Transgender • Trans-Menschen • trans-Sprechstunde |
ISBN-10 | 3-406-80729-1 / 3406807291 |
ISBN-13 | 978-3-406-80729-9 / 9783406807299 |
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Größe: 3,3 MB
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