Frankreich entschlüsseln (eBook)
270 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-86962-648-2 (ISBN)
Isabelle Bourgeois, geboren 1955, ist Mitgründerin und Moderatorin der Dialogplattform www.tandem-europe.eu. Sie hat an der École Normale Supérieure in Fontenay-aux-Roses und an der Sorbonne studiert. Von 1980 bis 1988 war sie Lektorin an der Universität Hannover (Romanistik) und Kulturattaché an der französischen Botschaft in Bonn (zuständig für Rundfunk). Von 1988 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d'Information et de Recherche sur l'Allemagne Contemporaine - CIRAC (vergleichende Studien: Medien und Kommunikation, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Gesellschaft, kulturelle Unterschiede). Von 2001 bis 2015 war sie Chefredakteurin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Regards sur l'économie allemande (CIRAC), von 1989 bis 2001 Dozentin am Institut d'Etudes Politiques (Paris), von 2002 bis 2017 Dozentin an der Université de Cergy-Pontoise und von 1990 bis 2005 freie Autorin für epd-medien, diverse deutsche Tageszeitungen und den Deutschlandfunk. Von ihr liegen zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen vor, u. a. vergleichende Studien (Medien, Wirtschaft, Soziales), außerdem Dokumentarfilme für France 3 (Portraits von Heinrich Böll und Günter Grass) und das ZDF (deutsche Fassung des Portraits von Günter Grass). 1996 gewann sie den Deutsch-Französischen Journalistenpreis TV für Heinrich Böll (France 3). Sie ist Mitglied im Beirat von Eurotopics.
Isabelle Bourgeois, geboren 1955, ist Mitgründerin und Moderatorin der Dialogplattform www.tandem-europe.eu. Sie hat an der École Normale Supérieure in Fontenay-aux-Roses und an der Sorbonne studiert. Von 1980 bis 1988 war sie Lektorin an der Universität Hannover (Romanistik) und Kulturattaché an der französischen Botschaft in Bonn (zuständig für Rundfunk). Von 1988 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre d'Information et de Recherche sur l'Allemagne Contemporaine – CIRAC (vergleichende Studien: Medien und Kommunikation, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Gesellschaft, kulturelle Unterschiede). Von 2001 bis 2015 war sie Chefredakteurin der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Regards sur l'économie allemande (CIRAC), von 1989 bis 2001 Dozentin am Institut d'Etudes Politiques (Paris), von 2002 bis 2017 Dozentin an der Université de Cergy-Pontoise und von 1990 bis 2005 freie Autorin für epd-medien, diverse deutsche Tageszeitungen und den Deutschlandfunk. Von ihr liegen zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen vor, u. a. vergleichende Studien (Medien, Wirtschaft, Soziales), außerdem Dokumentarfilme für France 3 (Portraits von Heinrich Böll und Günter Grass) und das ZDF (deutsche Fassung des Portraits von Günter Grass). 1996 gewann sie den Deutsch-Französischen Journalistenpreis TV für Heinrich Böll (France 3). Sie ist Mitglied im Beirat von Eurotopics.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Ein anderes Medienverständnis, eine andere Informationskultur
1. Meinungskonzentration im Pariser ›Biotop‹
2. Medienpolitik ist Wirtschaftspolitik
3. Eine andere Informationskultur
Teil II: Die République
4. Die République und ihre Werte
5. Frankreich, ›Wiege der Menschenrechte‹?
6. Ausnahmerecht und der Feind im Inneren
7. ›Gewalt‹ und Widerstand
Teil III: Frankreich, das Land,in dem nicht nur Gott lebt
8. Wie sich der Zentralismus konkret auswirkt
9. Parlez-vous français? – Sprache und Macht
10. Pyramidale Hierarchie in Politik und Arbeitswelt
11. Lebenswelten
Schluss
Literatur
1. Meinungskonzentration im Pariser ›Biotop‹
Es gibt in Frankreich nur eine Medienhauptstadt: Paris und das angrenzende Umfeld. Dort sind sämtliche führende Medien angesiedelt, Online-Redaktionen inklusive. Und nicht nur sie. In Paris ballen sich alle Gewalten: Exekutive, Legislative, Judikative und Verwaltung (d. h. Zentralverwaltung). Alle Banken und fast alle Großunternehmen haben ihren Sitz in Paris. Die Kreativwirtschaft konzentriert sich fast komplett in diesem Großraum. Auch die führenden Bildungseinrichtungen, darunter Sciences Po oder die staatliche Journalistenschule Centre de Formation des Journalistes (CFJ) befinden sich in der Hauptstadt, in der sowieso über das Schul- und Hochschulwesen ganz Frankreichs entschieden wird, über Polizei, Gendarmerie usw. Da alles, was nationalen Ereignischarakter und Informationswert hat, sich in Paris konzentriert, liegen dort auch Sitz und Zentralredaktion der Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP); in der Provinz gibt es nur in wenigen Regionalmetropolen Büros. Entscheidender für die AFP, die frontal in Konkurrenz zu Reuter und AP steht, ist die Positionierung auf dem Weltmarkt.
Die Auswirkungen dieser pariszentrierten Architektur auf die französischen Medien, ihre Arbeitsweise sowie ihr Selbstverständnis sind erheblich. Sie prägt naturgemäß auch die Frankreichberichterstattung der ausländischen Korrespondenten. Sie haben selbstredend alle ihre Büros in Paris und verlassen die Stadt nur selten. Paris ist eine eigene Welt, eine Festung genauso wie das berühmte Dorf der Gallier; das ist eine der tieferen Bedeutungen der Comics von Uderzo und Goscinny: eine unterschwellige Zeichnung des Zentralismus. In diesem Meinungsbiotop wird der Meinungsmainstream für ganz Frankreich – und darüber hinaus – produziert.
Die Medien verbreiten ihre Inhalte vom Zentrum an die Peripherie. Rückkanäle gibt es (fast) keine, das Geschehen außerhalb des Zentrums dringt kaum in die Hauptstadt und wird in der Berichterstattung nur in seltenen Ausnahmefällen berücksichtigt. So etwa im Sommer bei Waldbränden in Südfrankreich, bei Flutkatastrophen an den Küsten oder bei Gewaltausschreitungen in diversen Städten. Die ›Gelbwesten‹-Bewegung, deren Vorboten viele Jahre vor den ersten Verkehrskreiselbesetzungen unterwegs waren, wurde erst wahrgenommen, als sie auf den Champs Élysées aufmarschierte.
Eine streng pyramidale Medienstruktur
Während die führenden deutschen Tageszeitungen sogenannte ›überregionale‹ Blätter sind, gehören ihre Entsprechungen in Frankreich in die Kategorie der sogenannten ›nationalen Tagespresse‹ (presse quotidienne nationale). Sie haben ihren Sitz und ihre Redaktion in Paris und bedienen vor allem die Pariser Leserschaft, ob Le Monde, Libération, L’Humanité, La Croix, Le Figaro, Le Parisien/Aujourd’hui en France, Les Echos, La Tribune oder die Sportzeitung L’Équipe.
Das Gleiche gilt für die drei Gratiszeitungen 20 Minutes, Direct Matin, Metro, die nur im öffentlichen Nahverkehr in Paris und einigen Großstädten erhältlich sind. Und selbstverständlich für die wöchentlich erscheinenden Nachrichtenmagazine, von denen es weit mehr als in Deutschland gibt: Le Nouvel Observateur, L’Express, Le Point, Marianne, Challenges, Valeurs actuelles, The Economist, Courrier international oder Paris Match. Auch das mittwochs erscheinende Satireblatt Le Canard Enchaîné gehört dazu. Ganz zu schweigen von sämtlichen Frauenzeitschriften und sonstigen Illustrierten und natürlich von reinen Internetzeitungen wie etwa mediapart.fr. Über das Geschehen außerhalb von Paris berichten allenfalls Sonderkorrespondenten.
Regionale Tageszeitungen sind in Paris kaum erhältlich – mit einer Ausnahme: Ouest-France, die ihren Sitz in Rennes (Bretagne) hat und mit über 600.000 Exemplaren die auflagenstärkste französische Zeitung ist, vergleichbar etwa mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Aber das liegt wohl daran, dass die bretonische Community in Paris stark repräsentiert und wirtschaftlich sehr aktiv ist.
Diese Strukturierung kennzeichnet nicht nur die Printfassungen, die es in Frankreich wirtschaftlich noch schwerer haben als in Deutschland, weil sie überwiegend am Kiosk verkauft werden, sondern auch das Online-Angebot der Verlage. Denn jede Zeitung oder Zeitschrift ist ebenfalls im Internet erhältlich, wo sie meist nur gegen Entgelt zu lesen ist. Um es anders zu formulieren: Während in Deutschland die tradierten Abonnementzeitungen ihr Wirtschaftsmodell heute mehr oder minder digitalisieren, werden die französischen Zeitungen, deren Wirtschaftsmodell überwiegend auf Einzelverkauf beruhte, heute durch ihre Internetpräsenz zunehmend zu (digitalen) Abonnementzeitungen. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf den Informationsstand der Bevölkerung, die so kaum noch Zugang zu der Hintergrundinformation hat, die weiterhin allein die Printmedien bieten. Das Fernsehen ist mehr denn je ein reines Unterhaltungsmedium; der Hörfunk ein Zwitter. Wer außerhalb von Paris lebt, dort nämlich, wo Zeitungen schwer erhältlich sind, und sich wirklich informieren will, müsste im Idealfall gleich mehrere Zeitungen online abonnieren, was sich nur wenige leisten können. Auch der Zugang zum Informationsangebot ist somit pariszentriert.
An deutlichsten ist der Zentralismus beim Medium ›Fernsehen‹. Alle Studios und Redaktionen befinden sich in Paris. Außenstellen gibt es (fast) nicht, sodass auch hier bei Bedarf auf Sonderreporter gesetzt wird. Dies hat zur Folge, dass allein Journalisten, Experten oder Politiker aus dem Großraum Paris an den überaus zahlreichen Diskussionsrunden teilnehmen bzw. teilnehmen können, weil Außenstudios und Funkverbindungen in den ›Rest‹ des Landes fehlen und weil die Studiogäste ohnehin in oder bei Paris leben. Zwar wurde während der Lockdowns in der Coronapandemie zunehmend auf Zuschaltung per Skype o. Ä. zurückgegriffen, doch hat sich dies wegen der schlechten Bildqualität sowie der fehlenden ›Chemie‹ im Studio nicht dauerhaft durchgesetzt. Ausnahmen bestätigen die Regel: So debattiert zum Beispiel Daniel Cohn-Bendit regelmäßig mit Jacques Chiracs ehemaligem Bildungsminister und Philosophen Luc Ferry im Abendmagazin des Nachrichtensenders LCI – er ist fast immer live zugeschaltet. Was in Deutschland eine Selbstverständlichkeit ist, hat in Frankreich (noch) Seltenheitswert.
Entsprechend gestaltet sich auch das öffentliche Fernsehprogramm FRANCE 3 – ein ›nationales und regionales Vollprogramm‹ (chaîne généraliste nationale et régionale). Es ist de facto ein einheitliches Pariser Programm. Anders als bei den Dritten Programmen der ARD beschränkt sich das regionale Programm werktags zum Beispiel auf zwei Regionalfenster (12:30 Uhr bis 13:00 Uhr und 19:30 Uhr bis 20:00 Uhr) mit viel kulturellen, touristischen oder gastronomischen News im Sendegebiet der insgesamt 23 ausgelagerten Studios (die Überseegebiete haben ihre eigenen neun Büros). Nachrichten aus Wirtschaft oder Politik sind dort kaum zu finden, denn sie sind Gegenstand der ›nationalen‹ Hauptnachrichten, die auf die beiden Regionalfenster folgen. So bleibt einem Zuschauer in Marseille oder in Lille das Leben in der Bretagne, den Alpen, auf Martinique oder in Bordeaux weitgehend unbekannt.
Seit der Schließung von FRANCE Ô Anfang September 2020, dem öffentlichen Vollprogramm für die französischen Überseegebiete, das im Inland kaum jemand einschaltete, beschränkt sich die Berichterstattung über diese fernen Landesteile auf die Berücksichtigung der Wetterlage in Guadeloupe, La Réunion, Martinique oder Mayotte am Ende der Wettervorhersage im zweiten öffentlichen Hauptprogramm FRANCE 2.
Paris und das Sonst-Wo
Ein erhellendes Beispiel für den schwierigen Umgang des Pariser Mikrokosmos’ mit dem ›Rest‹ des Landes bot im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2022 die Hauptnachrichtensendung (nach deutschen Kriterien eher ein Magazin) von FRANCE 2 um 13 Uhr: Le 13 heures. Alle vier Wochen bis zum ersten Wahlgang am 10. April 2022 wurde das Studio aus Paris an einen anderen Ort in die Provinz ›ausgelagert‹, und die Nachrichten wurden dort live produziert. Den Auftakt machte am 4. November 2021 die Hafenstadt Dieppe in der Normandie – aus aktuellem Anlassn ging es um den Fischereistreit mit Großbritannien.
Das Aufschlussreichste aber ist der Name, der diesem monatlichen Sonderformat gegeben wurde: Le 13 heures en campagne. Er ist extrem vieldeutig. Beginnen wir mit der ersten Ebene: Auf Deutsch würde es heißen Die 13-Uhr-Nachrichten im Wahlkampf, denn en campagne bedeutet ›im Wahlkampf‹, bezieht sich also auf den Zeitraum bis April 2022. Die zweite Ebene – la campagne – meint auch ›das Land‹ im Sinne von ländlichem Raum. Gemeint ist...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2023 |
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Reihe/Serie | Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses | Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Kommunikation / Medien |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Algorithmen • Auslandsberichterstattung • Berichterstattung • Bildung • Desinformation • Digitalisierung • Erziehung • Europa • Fiskalpolitik • Frankreich • Medien • Missverständnisse • öffentlich-demokratischer Diskurs • Satire • shitstorms • Sozialpolitik • Widersprüche |
ISBN-10 | 3-86962-648-8 / 3869626488 |
ISBN-13 | 978-3-86962-648-2 / 9783869626482 |
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