Den Frieden gewinnen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Die Gewalt verlernen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
240 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-31489-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Den Frieden gewinnen - Heribert Prantl
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Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten
Alle reden vom Krieg, vom Frieden reden zu wenige: Die weißen Tauben sind müde. Heribert Prantl begründet, warum wir eine neue Friedensbewegung, eine neue Entspannungspolitik und keinen dritten Weltkrieg brauchen - es wäre der letzte. Und er denkt darüber nach, wie die Zähmung der Gewalt, wie Entfeindung gelingen kann, wie wir Frieden lernen.
Ein leidenschaftliches Plädoyer fu?r eine Kultur des Friedens - in dem Bewusstsein, dass der Weg zum Frieden kein Sommerspaziergang ist, sondern ein Höllenritt sein kann.

Heribert Prantl, Jahrgang 1953, Dr. jur., gelernter Richter und Staatsanwalt, ist Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, war Mitglied der Chefredaktion und 25 Jahre lang Leiter der innenpolitischen Redaktion und der Meinungsredaktion. Er wurde unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis, dem Kurt-Tucholsky-Preis, dem Erich-Fromm-Preis, dem Theodor-Wolff-Preis und dem Brüder-Grimm-Preis ausgezeichnet. Heribert Prantl ist Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität Bielefeld.

Kapitel 1

Lob der Apokalyptik

Sie ist ein Augenöffner. Sie enthüllt, was passiert, wenn es einfach immer so weitergeht. Von der Falschheit des Begriffs Zeitenwende und von der Rückkehr der Politik ins Militärische

Es hat etwas Schreckliches auf sich mit dem Frieden. Er entfaltet seine Magie vor allem im Krieg; im Frieden verliert er sie wieder. So wird dann der gewonnene Frieden zu seinem eigenen Feind. Das ist seine Schwäche. Auch die Bilder vom Frieden leiden an dieser Schwäche. Ästhetisch ist der Friede nicht besonders attraktiv. Die Darstellungen des Friedens sind öde, fade und farblos. Sie gewinnen ihre Attraktivität im Kontrast nur zu den furiosen Schreckensbildern von Krieg und Katastrophe. Und das Reden vom Frieden ist so oft blutleer; es ist ein ritualisiertes Reden.

Bert Brecht hat versucht, dagegen zu schreiben. Sein Schreiben hatte Kraft, aber wenig Wirkung. Die Remilitarisierung schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konnte er nicht aufhalten. »Das große Karthago«, so schrieb er 1951, »führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.« Das klingt agitatorisch, ist aber die Wahrheit. Und im Ernst der Lage ist Agitation besser als Apathie. Europa erginge es in einem dritten Weltkrieg so wie Karthago, schlimmer noch. Die apokalyptischen Reiter sind nämlich heute atomar bewaffnet.

28,4 x 39,6 Zentimeter. Mehr brauchte Albrecht Dürer nicht, um die apokalyptischen Reiter loszulassen; mehr brauchte er nicht, um Krieg und Mord, um Seuchen und Hunger, um Teuerung und Tod darzustellen. Auf so kleiner Fläche inszeniert er im Jahr 1498, auf einem Holzschnitt, den großen Weltuntergang. Es ist eine Zeit der großen Aufbrüche und Umbrüche; 1492 hat Christoph Kolumbus Amerika entdeckt. 1494 ist in Nürnberg die Pest ausgebrochen. Für das Jahr 1500 ist das Weltende angekündigt. Entdeckungsfieber und Endzeitstimmung liegen in der Luft. Kräfte ballen sich zusammen, die sich wenig später im Gewitter der Reformation entladen. Dürer offenbart seinem Publikum eindringlich die tödliche Wirklichkeit, die destruktive Kraft, den gewalttätigen Charakter dieser Transformation. Sie ist bei ihm nichts, das man unter Kontrolle hat, nichts, das man beherrscht und gestaltet. Sie ist ein Sturm, der Verwüstungen anrichtet und gewaltsam über die Menschen walzt. Wer in Dürers düsterem Kunstwerk den Geist eines dunklen Mittelalters mit seinen Höllenängsten und religiösen Verblendungen am Werk sieht, irrt. Dürer ist ein großer Desillusionierer, Realist und Aufklärer, der seinen Zeitgenossen die Augen für den Ernst der Lage öffnet.

Seine vier apokalyptischen Reiter sind endzeitliche Gestalten aus dem letzten Buch der Bibel, also der Offenbarung des Johannes. Diese Schrift wird Apokalypse genannt; sie ist eine Widerstandsschrift, entstanden am Ende des ersten oder Beginn des zweiten Jahrhunderts in einer Welt entfesselter Gewalt, rätselhaft und nur mühevoll zu entschlüsseln. Es ist eine Trost- und Widerstandsschrift in der Zeit der Christenverfolgung im Römischen Reich. Es handelt sich um eine monumentale Endzeitvision, die in Extremen schwelgt, zwischen kriegerischen Visionen vom Weltuntergang und zartesten Bildern von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. In dieser Offenbarung wird ein Buch, versiegelt mit sieben Siegeln, geöffnet. Die ersten vier Siegel lassen nacheinander die apokalyptischen Reiter hervortreten, die das endzeitliche Gericht über die Erde bringen. Der erste reitet auf einem weißen Pferd und hat einen Bogen. Ihm wird der Sieg gegeben. Der zweite reitet auf einem feuerroten Pferd, er hat ein großes Schwert; ihm ist die Macht gegeben, den Frieden von der Erde zu nehmen, sodass die Menschen einander umbringen. Der Reiter auf dem dritten, dem schwarzen Pferd hält eine Waage in der Hand, auf der der Weizen und die Gerste ausgewogen werden; er bringt die Teuerung und damit den Hunger in die Welt. Die Öffnung des vierten Siegels schließlich macht die Bahn frei für den Reiter auf dem fahlen Ross. Dessen Name ist »Tod«, und die Hölle zieht mit ihm einher.

Albrecht Dürers Reiter rasen vom linken Bildrand auf ihren Rossen heran, unaufhaltsam in ihrem Furor: Es sind drei martialische, muskulöse Krieger mit Bogen, Schwert und Waage; der vierte ist kleiner, aber nicht weniger angsteinflößend im Vordergrund; er ist ein schmächtiges, giftig grinsendes Männlein auf einem halb verhungerten Klepper. Er ist der Tod, der mit seinem Dreizack die niedergetrampelten Menschen in den Schlund der Hölle kehrt. Das Höllenmonster, erst auf den zweiten Blick erkennbar, reißt am unteren linken Bildrand sein schreckliches Maul auf und verschlingt die Opfer. Flucht ist sinnlos. Keiner entkommt. Keiner überlebt.

Außer: die Betrachter. Wir, die das Bild anschauen und uns in seinen Bann ziehen lassen, kommen davon, so gerade noch. Die apokalyptischen Reiter sind um Haaresbreite an uns vorbeigejagt. Es ist, als würden wir das Dröhnen der Hufe hören, den Dampf der Rosse atmen und den Staub schlucken, so nah sind wir dem Geschehen. Wir sind die verschonten Zuschauer des Terrors, die am Spielfeldrand des Krieges stehen, vom Schrecken gepackt und von der Einsicht: Es hätte auch uns treffen können. Wir sind entronnen. Für dieses Mal.

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Wiktorowytsch Schadan hat einen der Menschen sichtbar gemacht, die dieser Tage direkt neben dem Schlachtfeld stehen und warten, dass das Gefecht vorüber ist. Als er 2022 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche entgegennahm, sprach er zu Beginn seiner Dankesrede von diesem Menschen und setzte ihm ein Denkmal: »Seine Hände sind schwarz und abgearbeitet, das Schmieröl hat sich in die Haut gefressen und sitzt unter den Nägeln. Menschen mit solchen Händen wissen eigentlich zu arbeiten und tun es auch gern. Was sie arbeiten, ist eine andere Sache.« Die andere Sache ist die: Der kleine, stille und besorgt dreinblickende Mann arbeitet hinter den Linien. Er ist der Fahrer einer besonderen Einheit. Seine Aufgabe führt ihn, wenn das Töten und Sterben vorbei ist, auf das Leichenfeld. Aber davon redet er nicht. Er redet von der Technik. »›Ihr seid doch Freiwillige‹, sagt er, ›kauft uns einen Kühlschrank.‹ […] Wir verstehen nicht. ›Aber wenn du ihn brauchst, dann fahren wir zum Supermarkt, du suchst dir einen aus, und wir kaufen ihn.‹ ›Nein‹, erklärt er, ›ihr habt mich falsch verstanden: Ich brauche ein Fahrzeug mit einem Kühlschrank. Einen Kühlwagen. Um die Gefallenen abzutransportieren. Wir finden Leichen, die schon länger als einen Monat in der Sonne gelegen haben. Wir schaffen sie mit einem Kleinbus weg, da kriegst du keine Luft mehr.‹ Er spricht über die Leichen – seine Arbeit –, ruhig und gemessen, ohne Wichtigtuerei und auch ohne Hysterie. Wir tauschen unsere Nummern.«2 Serhij Schadan führt seine Zuhörer, ähnlich wie Albrecht Dürer seine Betrachter, an den Rand des Leichenfeldes; er gibt ihnen eine Vorstellung vom Unvorstellbaren, präziser gesagt, von der Unvorstellbarkeit des Krieges; nicht durch eigene Anschauung, sondern durch den stillen Mittelsmann, der selbst erst aufs Spielfeld des Krieges tritt, wenn die Kämpfer fort sind. Unvorstellbar – diese Beschreibung des Krieges gehört hier nicht in eine Reihe mit den redundanten, sich übertrumpfenden und darum wohlfeilen Adjektiven, die zu gebrauchen mittlerweile fast als moralisches Gebot gilt, wenn vom ukrainischen Krieg zu reden ist: »der brutale Angriffskrieg«, »das barbarische Massaker« und in der Steigerung der Steigerung: »der unvorstellbar brutale Angriffskrieg« und »das unvorstellbar barbarische Massaker«. Solches Doppelgemoppel ist Wortreichtum bei gleichzeitiger Sinnarmut, es will vielsagend sein und ist nichtssagend. Es ist dies ein Den-Mund-zu-voll-Nehmen, das weder Information noch Erkenntnis vergrößert, noch das Gesagte nachdrücklicher macht. Bleibt allein die eitel ängstliche Selbstaussage: Hört her, ich habe es begriffen, und ich habe die Moral auf meiner Seite. Die routinierte Redundanz wirkt nicht einmal mehr empört; sie wirkt verlogen, denn sie suggeriert das Gegenteil dessen, was sie betonen will, nämlich man könne sich durchaus einen harmlosen Angriffskrieg und ein humanes Massaker vorstellen.

»Unvorstellbar« meint, dass die Sprache selbst und damit die Fähigkeit, über das Geschehen zu reden, es zu verstehen und sich kollektiv darüber zu verständigen, im Krieg an ihre Grenze kommt oder gar gänzlich abbricht. Mag sein, dass die Vorliebe für Pleonasmen ein Symptom dafür ist. Noch einmal Serhij Schadan: »Genau dieses Gefühl ist es, das dich vom ersten Tag des großen Krieges an begleitet – das Gefühl der gebrochenen Zeit. [... Es geht] um die Sprache. Darum, wie genau und zutreffend die Wörter sind, die wir verwenden, wie markant unsere Intonation, wenn wir über unser Dasein an der Bruchstelle von Leben und Tod sprechen. Inwieweit reicht unser Vokabular – also das Vokabular, mit dem wir gestern noch die Welt beschrieben haben [...]?«

Die nüchterne, unaufgeregte Beschreibung des kleinen besorgten Mannes mit den ölverschmierten Händen gibt eine Ahnung vom Leben an der Bruchstelle; und sie gibt auch eine Ahnung von der Unvorstellbarkeit. Er hat seinen Kühlschrank bekommen. So geht Wunscherfüllung in Zeiten des Krieges. Der kühle Pragmatismus, der karge Realismus, sie verstören mehr, als jedes Pathos es vermöchte. Anders als Dürers apokalyptische Reiter ist Schadans Kühlschrankfahrzeug, das über das Leichenfeld rumpelt, kein mythisches Bild, sondern eine Realmetapher. Aber beide machen sie das Unvorstellbare vorstellbar, beide...

Erscheint lt. Verlag 17.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • 2024 • Angriffskrieg gegen die Ukraine • Antimilitarismus • antimilitaristisch • Armut • Asylrecht • Diplomatie • eBooks • Entspannungspolitik • Flüchtende • Flüchtlingskrise • frieden mit der natur • Friedensbewegung • Frieden schaffen • Friedensverhandlungen • friedliches Zusammenleben • Gaza-Streifen • gewaltfrei • HAMAS • Israel • Klima • Klimakatastrophe • krieg gegen die natur • Krieg gegen die Ukraine • Moskau • Nahost • Naturzerstörung • Neuerscheinung • Palästina • Pazifismus • Russland • Soziale Gerechtigkeit • Ukraine • Ukraine-Krieg • Umweltzerstörung • Waffenlieferungen • Wladimir Putin
ISBN-10 3-641-31489-5 / 3641314895
ISBN-13 978-3-641-31489-7 / 9783641314897
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