Im Ministerium der Lügen (eBook)
256 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-31533-7 (ISBN)
Boris Bondarew war einer von sehr wenigen, die aus Protest gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine den russischen Staatsdienst unter Teilnahme der Öffentlichkeit quittierten. Über zwanzig Jahre war er in verschiedenen Funktionen im russischen Außenministerium und im diplomatischen Dienst tätig und erlebte die Obrigkeitshörigkeit, Korruption und Inkompetenz in den russischen Behörden.
Er ist Russe und Demokrat, seit seiner Kündigung lebt er unter strengen Sicherheitsvorkehrungen im Exil, und er will zurück - in ein anderes Russland ohne Putin.
Mit einem klaren Blick auf die Gegenwart und scharfer Kritik an der grausamen russischen Aggressionspolitik liefert er hier auch seinen Beitrag zu dem, was jetzt wichtig wird: die richtigen Überlegungen anzustellen, bereit zu sein, Russland und vor allem die russische Bevölkerung auf dem Weg zurück zu einer demokratischen Ordnung zu unterstützen.
Boris Bondarew, geb. 1980, arbeitete 20 Jahre lang für das russische Außenministerium. Nach Stationen als Berater für die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen und in den Gesandtschaften in Kambodscha und der Mongolei war er seit 2019 einer der Gesandten der Russischen Föderation beim Büro der Vereinten Nationen in Genf. Am 23. Mai 2022 erklärte er, dass er von diesen Ämtern als Protest gegen die russische Invasion zurückgetreten sei. Diese Invasion sei ein Angriffskrieg. Der Krieg sei nicht nur ein Verbrechen gegenüber den Menschen in der Ukraine, sondern auch ein Verbrechen gegen die russischen Bürger.
Vorbemerkung:
Der 24. Februar 2022 und die Folgen
Bomben über Kyjiw
Der 24. Februar 2022 hätte eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag werden sollen. Tags zuvor hatte ganz Russland wie jedes Jahr seine Armee, die »Vaterlandsverteidiger« gefeiert. Als ich gegen sieben Uhr morgens aufwachte, griff ich wie gewohnt zuerst zum Mobiltelefon, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Die Newsfeeds hatten nur ein Thema: den Beginn von Putins »militärischer Sonderoperation«. Die russische Armee war in die Ukraine einmarschiert, Russland bombardierte Kyjiw, Charkiw, Mykolajiw, Odessa, Poltawa. Ich sah Fotos von Bombeneinschlägen, Videos von fliegenden Marschflugkörpern, endlose Staus am Stadtrand von Kyjiw. Eine Liedstrophe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kam mir in den Sinn: »Am 22. Juni, / Um vier Uhr in der Früh, / Da wurde Kyjiw bombardiert / Und wir wurden informiert: / Jetzt ist der da, der Krieg.« In diesem sowjetischen Gassenhauer geht es um den Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. Damals war es Hitlers Luftwaffe, die »unser« Kyjiw, – unsere Leute, unser Land – bombardierte. Nun bombardierten wir es selbst. Der Aggressor war nicht irgendein fremdes Land, sondern mein eigenes. »Unsere Leute«, das waren jetzt russische Angreifer. An diesem 24. Februar 2022 wurde mir klar: Das russische Regime hatte endgültig seine Maske fallen gelassen – es war wahrhaft faschistisch geworden und knüpfte sein weiteres politisches Überleben an den militärischen Erfolg.
Zu sagen, dass ich schockiert war, wäre eine Untertreibung. Bis zuletzt war ich überzeugt gewesen, dass es keine Invasion geben würde, denn dafür fehlten die objektiven Voraussetzungen. Die Führung des Landes, so meine – offenbar naive – Einschätzung, musste sich doch bewusst sein, dass weder unsere Streitkräfte noch unser militärisch-industrieller Komplex für einen ernsthaften Konflikt mit dem Westen gerüstet waren. Für mich stand fest, dass der Westen einem Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht tatenlos zusehen, sondern der Ukraine beistehen würde. Ein Erfolg Putins wäre der Beweis, dass die westlichen Demokratien nicht in der Lage sind, jene zu unterstützen, die ihre Ansichten und Werte teilen, als da sind: die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Völker, ihre Freiheit, die eigenen Regierungsvertreter selbst zu wählen und sich nicht von einer äußeren Macht unterwerfen zu lassen.
Auch war mir klar, dass die Ukraine nicht mehr so schwach und gespalten dastand wie noch 2014. Die Streitkräfte des Landes waren keine schlecht ausgebildeten, unerfahrenen, zerlumpten Soldatenbürschchen mehr, sondern verfügten über moderne Waffensysteme. Außerdem wusste ich, dass Russland keine wirklichen Verbündeten hatte, die ihm helfen konnten, die Last des Krieges zu tragen. Die 2002 gegründete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einst der Stolz der russischen Diplomatie, war zwar tatsächlich so etwas wie unsere »Mini-NATO«, aber es stand außer Zweifel, dass sich – von Belarus vielleicht abgesehen – kein einziges ihrer Mitglieder in eine Konfrontation Russlands mit dem gesamten Westen hineinziehen lassen würde.
Vor dem 24. Februar hatte ich den Eindruck gehabt, dass die politischen Entscheidungsträger im Land eine ähnliche Ansicht wie ich vertraten. Die Bündelung von Truppen an der ukrainischen Grenze sowie die darauffolgenden Manöver erschienen mir als Teil eines großen politischen Spiels, das darauf abzielte, der Ukraine und ihren westlichen Partnern Zugeständnisse abzuringen. Der größte Schock – und die größte Enttäuschung – dieses Tages war somit die Erkenntnis, wie wenig die Führung Russlands über die aktuelle Situation informiert war und wie weit sie sich von der Realität entfernt hatte.
Es war klar, dass die Ukrainer den russischen Streitkräften nicht mit Brot und Salz begegnen würden. Niemand würde die Kolonnen russischer Panzer mit Blumen bewerfen – eher schon mit Molotowcocktails. Es war mir ein Rätsel, wie man es – fehlgeleitet von pseudohistorischen Chimären – fertigbringen konnte, die Beziehungen zwischen diesen beiden geschichtlich, sprachlich, kulturell und familiär aufs Engste verbundenen Völkern einfach zunichtezumachen. Erschrocken nahm ich zur Kenntnis, dass wir dabei waren, uns in einen blutigen Krieg zu verwickeln, obwohl wir im eigenen Land vor gigantischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen standen. Ich wusste: Diesen Krieg zu gewinnen ist völlig aussichtslos. Die Entwicklung unseres Landes wird dadurch um Jahrzehnte zurückgeworfen. Und das alles nur, damit einige Herrschaften vorgerückten Alters noch etwas länger ihre Paläste bewohnen und sich an ihren enormen Reichtümern ergötzen können, während Zehn-, ja vielleicht Hunderttausende ihrer Mitbürger in einem völlig unnötigen Konflikt ihr Leben lassen.
Ich begriff: Das war der Anfang vom Ende. Der Anfang vom Ende jenes Russlands, das wir kannten, jener Weltordnung, an die wir uns gewöhnt hatten, das Ende jeglicher nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine – überhaupt das Ende des bisherigen Lebens. Ich erinnerte mich an Kyjiw, das ich mehrfach besucht hatte: diese malerische, lebenswerte Stadt mit ihren wunderbaren Menschen und dem köstlichen Essen. Mir war unverständlich, wie man die Ukraine bombardieren und im selben Atemzug sagen konnte: »Wir sind ein Volk und wollen mit euch zusammenleben.«
Das Versagen der Diplomatie
Bereits an diesem Morgen des 24. Februar wusste ich, dass ich meine Kündigung einreichen würde. Ich sah mich außerstande, für diesen Staat weiterzuarbeiten. Die russische Regierung hatte schon so manche Verbrechen begangen, über die ich – zu meinem heutigen Bedauern – hinweggesehen hatte, doch mit diesem Krieg war für mich eine rote Linie überschritten und ein Verbleib im Staatsdienst durch nichts mehr zu rechtfertigen.
Da ich noch nicht wirklich glauben konnte, was geschehen war, fehlte mir die letzte Entschlossenheit, noch am selben Tag mein Kündigungsschreiben aufzusetzen. Stattdessen fuhr ich zur Arbeit und betrat dort sofort das Büro meines Chefs. Dieser machte auf mich einen verlorenen Eindruck – und wahrscheinlich wirkte ich genauso auf ihn. Als erfahrener, hochrangiger Diplomat der Ständigen Vertretung Russlands in Genf wusste er vermutlich nur zu gut, dass Putins »militärische Sonderoperation« das Ende der normalen Diplomatie bedeutete, einer Diplomatie, die auf Dialog beruht, auf der Fähigkeit einander zuzuhören, die Meinung des Gegenübers zu berücksichtigen und Kompromissentscheidungen zu treffen. Sicher, auch in den Jahren zuvor hatte die russische Diplomatie – ohne einen großen Krieg zu führen – so gut wie jeden Kompromiss abgelehnt und dabei versucht, ihre Position auf grobe, ja plumpe Art und Weise durchzusetzen. Aber wenigstens war der Dialog nie abgebrochen.
Der Krieg ist das Versagen der Diplomatie. Aber es wäre falsch zu behaupten, der Grund für die »militärische Sonderoperation« liege darin, dass russische, ukrainische und westliche Diplomaten nicht in der Lage gewesen wären, einen Kompromiss zu finden. Im Gegenteil: Dieser Akt war nichts anderes als Russlands bewusste, vorsätzliche Weigerung, den Konflikt mit der Ukraine diplomatisch zu lösen. Putin will offensichtlich keine friedliche Lösung. Ich denke, sein Ziel ist es, sich selbst, den Russen und der ganzen Welt seine Stärke zu beweisen und somit seine Forderung zu unterstreichen, dass man bei der Lösung jeglicher globalen Probleme seine Position zu berücksichtigen hat. Im Grunde geht es ihm bei alledem um eine Revanche für den so schmerzhaft empfundenen Zusammenbruch der Sowjetunion, darum, die bewährten Regeln der internationalen Beziehungen neu zu schreiben. Ein schneller militärischer Sieg über die Ukraine, in Tempo und Ausmaß gleichermaßen niederschmetternd, würde die ganze Welt zwingen, Russland und seinen unabsetzbaren Führer in neuem Licht zu sehen.
Die Reaktionen der Diplomaten
Nachdem ich das Dienstzimmer meines Vorgesetzten verlassen hatte, ohne von ihm eine klare Stellungnahme zum aktuellen Geschehen zu erhalten, betrat ich das Büro, in dem unser Referat für Abrüstungsfragen residierte. Dort besprach unser Team wie jeden Morgen bei einer Tasse Kaffee das politische Geschehen und die eigenen Arbeitspläne. An diesem Tag schmeckte meine Nespresso-Kapsel besonders schal: Mich deprimierten nicht nur die Nachrichten selbst, sondern auch das anhaltende zufriedene Grinsen vieler Kollegen. Die meisten von ihnen kamen aus dem Militär oder den Geheimdiensten und sahen in dem Geschehen nichts anderes als eine Machtdemonstration ihrer geliebten Heimat. Gewaltsame Lösungen waren für sie das beste und effektivste Mittel. Über die schneidigen Berichte der russischen Medien freuten sie sich wie Kinder und diskutierten begeistert, dass »wir es den Amerikanern mal wieder zeigen« würden.
Es ist mir ein Rätsel, wie sich diese gebildeten und informierten Menschen über den Ausbruch des Krieges freuen konnten. Meine Kollegen wussten doch nur zu gut, wozu Atomwaffen in der Lage sind, schließlich diskutierten wir bei den Vereinten Nationen in Genf ständig diese Frage. Und natürlich dachte ich an nichts anderes, als Putin sagte: »Wir werden die Interessen Russlands mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln schützen.«
Wenn jemand, der mit Politik und Staatsdienst nichts am Hut hat, unter dem Einfluss von Hetze und Propaganda zu der Überzeugung gelangt, dass wir nur einem Angriff der Ukraine und der NATO auf uns...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | M. David Drevs |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Alexej Nawalny • Angriffskrieg gegen die Ukraine • bondarew • Diplomatie • eBooks • Insider • Insiderbericht • Kalter Krieg • Kreml • Krieg • Kriegsende • Kriegserklärung • Lawrow • Moskau • NATO • Neuerscheinung • Putin • Russland • Selenskyi • Selenskyj • Sowjetunion • UdSSR • Ukraine • UNO |
ISBN-10 | 3-641-31533-6 / 3641315336 |
ISBN-13 | 978-3-641-31533-7 / 9783641315337 |
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