Land der vielen Wahrheiten (eBook)

Drei Leben in Afghanistan
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
496 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9632-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Land der vielen Wahrheiten -  Åsne Seierstad
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»Solange wir die afghanische Familie nicht verstehen, können wir Afghanistan nicht verstehen.« ÅSNE SEIERSTAD

Drei Menschen zwischen Hoffnung und Resignation, in einem Land des Krieges und der Widersprüche, in dem gleichzeitig normaler Alltag herrscht: Liebe, Schönheit, Dankbarkeit und Freude. Zwanzig Jahre nach ihrem internationalen Bestseller Der Buchhändler aus Kabul kehrt Åsne Seierstad nach Afghanistan zurück. Sie erzählt die Geschichten derer, die vor den Taliban geflohen sind, und derer, die zurückblieben. Von Jamila, die sich Schul- und Universitätsbesuch erstreitet und als gläubige Muslima für die Rechte der Frauen einsetzt. Von Bashir, der von zu Hause wegläuft, um sich den Taliban anzuschließen und im Heiligen Krieg zu kämpfen. Und von Ariana, die geboren wurde, als westliche Truppen in das Land einmarschierten, nach der Machtübernahme der Taliban zwangsverheiratet wurde und die Hoffnung nicht aufgibt, mit ihrem Jurastudium die Gesellschaft zu verändern. Das Buch ist ein intimes Porträt dreier Menschen, die unterschiedliche Wege gehen, ihrerFamilien, Freunde und Bekannten- und die Geschichte eines Landes im Krieg.

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Letzeres erhielt 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse. Das 2017 ebenfalls bei Kein & Aber erschienene Werk Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad war Norwegens Sachbuch des Jahres. 2023 erschien Land der vielen Wahrheiten. Drei Leben in Afghanistan. Åsne Seierstad lebt in Oslo.

WILLE


Das Fieber stieg.

Würde sie das Kind verlieren?

Das kleine Mädchen hatte knallrote Wangen. Seine Stirn war klamm, die Augen glänzten.

Der Schamane legte Amulette und Kräuter auf die Brust des Kindes. Er hatte Verse auf kleine Zettel geschrieben, die Bibi Sitara ins Trinkwasser legen sollte. Aber sie durfte sie nicht vorher deuten, sonst würde es nicht wirken. Die Mahnung war überflüssig, denn Bibi Sitara konnte nicht lesen.

Schon die Schwangerschaft war kompliziert gewesen, sie hatte gefühlt, wie ihre Lebenskraft schwand. Auch da war der Schamane bei ihr gewesen. Sie hatte ihn gefragt, ob das Kind gesund sei und leben würde. Er hatte zur Geduld gemahnt. Alles würde gut gehen, wenn sie nur das heilige Wasser trank.

Sie werde ein Mädchen gebären, hatte er gesagt, und es würde der große Stolz der Mutter werden. Jamila sollte es heißen – die Schöne.

Er hatte recht bekommen. Das Kind kam gesund zur Welt und war wirklich hübsch, mit großen, graubraunen Augen, heller Haut und einem herzförmigen Gesicht. Es war die Puppe der großen Schwestern. Sie trugen es überall herum, wiegten und verhätschelten es. Sie wickelten es in ein zerrissenes Laken und verschnürten es so fest mit bestickten Bändern, dass es sich kaum rühren konnte.

Bis das Fieber ihr Spiel beendete. Nun schauten die Schwestern zaghaft durch den Türspalt.

Bibi Sitara fühlte, dass ihr Kind im Sterben lag. In ihrer Not ließ sie einen weiteren heiligen Mann rufen, diesmal einen Mullah aus ihrem Dorf. Er setzte sich neben das kranke Kind und rezitierte bis spät in die Nacht Koranverse. Genau wie der Schamane wurde er großzügig bezahlt.

Nach dem Besuch des Mullahs blieb Bibi bei ihrer Tochter sitzen. Der Schamane hatte ihr damals noch mehr prophezeit, nämlich dass ihr Kind etwas Besonderes werden würde. Bibi Sitara hatte dies verdrängt, sie wollte kein außergewöhnliches Kind. Im Gegenteil, sie wünschte sich eine ganz normale Tochter.

Nach einer Woche ließ das Fieber nach. Die Mutter dankte Gott. Alles kam, wie Er es befahl. Alhamdulillah. Gott sei gepriesen.

Nach einer Weile hatten sie vergessen, dass das Kind je krank gewesen war.

Ihre Schwestern nahmen das Spiel wieder auf. Jamila bekam Kleider, Ketten und Ohrringe. Keiner fragte sich, warum sie nie aufstand, vielleicht lag es daran, dass sie so verwöhnt wurde und alles hatte. Sie kroch nur auf dem Teppich umher oder saß mit Kissen im Rücken da. Wenn sie etwas wollte, robbte sie mit den Armen über den Boden oder wand sich wie eine Schlange.

Eines Tages bemerkte die Mutter, dass das eine Bein Jamilas dünner war als das andere. Das wird sich schon angleichen, dachte sie, doch irgendwie schien das Bein auch kürzer.

Sie hob es an, und es fiel schlaff herab.

Erneut rief sie den Schamanen. Es gab mehr Beschwörungen, Amulette und Verse auf Zetteln, aber es half nichts. Das Bein blieb anders.

Noch immer glaubte die Mutter, Allah habe einen Plan.

Niemand wusste, dass ein Virus das Nervensystem des Mädchens angegriffen hatte. Es hatte den Hirnstamm befallen und Jamilas Rückenmark geschädigt. Die Infektion hatte das Bein zunächst geschwächt und dann gelähmt. Die Krankheit hatte einen Namen – Poliomyelitis.

Jamila wurde 1976 geboren. In Europa war Polio weitgehend ausgerottet, doch in Afghanistan wütete das Virus noch. Es gedieh unter den ärmlichen Verhältnissen und wurde durch schmutziges Wasser, Exkremente und Tröpfcheninfektion übertragen.

Gegen Polio gibt es kein Heilmittel, nur eine Impfung, doch diese Chance hatten Jamilas Eltern nie bekommen. Sie waren nie bei einem Arzt gewesen, bei einem »medizinischen Doktor«, wie Bibi es ausdrückte, im Gegensatz zu einem malang, der mit Zaubersprüchen und Handauflegen kurierte. Die seit vielen Generationen vererbte schamanistische Tradition galt nicht als Widerspruch zur Lehre des Korans. Im Gegenteil, ein malang hatte seine Heilkräfte von Allah.

Auch nach der Entdeckung der Mutter verwöhnten die Schwestern und Cousinen ihr fügsames, puppenhaftes Spielzeug. Das Haus war voller Kinder, denn die Brüder von Jamilas Vater wohnten mit ihren Familien rund um denselben Innenhof. Die Mutter reagierte auf den kleinsten Mucks ihrer Tochter und erfüllte ihr jeden Wunsch, sodass es Jamila an nichts fehlte. Sie wurde zwei, drei, vier und fünf Jahre alt, ohne aufzustehen. Den anderen Kindern krabbelte sie blitzschnell hinterher, doch wenn sie auf die Straße liefen, blieb Jamila daheim. Sie versuchte, das schiefe Bein zu verbergen. Die weiten Hosen, die sie unter dem Kleid trug, waren an den Knien zerschlissen. Die Knie waren ihre Sohlen geworden.

»Ihr solltet sie zu einem Arzt bringen«, sagte eine Tante zu Bibi. Vielleicht gab es ja eine Kur. »Sie wird euch zur Last fallen. Wenn das so weitergeht, wird keiner sie heiraten.« Dass Jamila das Gespräch hörte, kümmerte niemanden. Man ging einfach davon aus, dass eine körperliche Behinderung auch den Kopf und das Denken beeinträchtigte.

»Niemand will eine langak!«, seufzten die Tanten. Ja, Jamila war ein Krüppel und saß nur auf ihrem unbrauchbaren Bein. Bestimmt war dies Gottes Strafe für irgendeine Missetat, eine Buße für die Sünden ihrer Vorfahren. Es gab keinen Zufall, alles fiel auf einen zurück. Gott war gerecht, auch wenn die Strafe viel später kam und willkürlich erschien.

Außerdem gab es Dinge, auf die selbst Gott keinen Einfluss hatte, zum Beispiel die schwarze Magie. Vielleicht hatte jemand Jamila mit einem bösen Blick bedacht, um der Familie zu schaden. Solchen Flüchen konnte nur ein Schamane entgegenwirken.

Kein Arzt solle seine Tochter anrühren, beschloss der Vater. Bis auf Gebete und Beschwörungen sowie etwas Wasser aus der heiligen Quelle in Mekka erfuhr das Bein keine Behandlung.

Als Jamila fünf Jahre alt war, bekam die Frau ihres ältesten Bruders eine Tochter. Eines Tages beobachtete sie, wie ihre Nichte die Arme zur Tischkante hinaufstreckte, sich nach oben zog – und stand. Später versuchte Jamila heimlich, es ihr nachzumachen. Sie griff die Tischplatte, spannte die Armmuskeln an und zog sich langsam hoch.

Und bald geschah es: Sie stützte sich mit den Händen auf den Tisch und stand.

Jamila übte eifrig, die Muskeln ihres gesunden Beines wurden immer stärker, sie hielt die Balance. Schließlich nahm sie die Hände vom Tisch.

Beim nächsten Besuch beobachtete sie, wie die Nichte sich am Tisch festhielt und ein Stückchen vorwärtsbewegte.

Sobald sie allein war, machte sie es nach. Plötzlich stand ihre Mutter in der Tür. Jamila stolperte vor Schreck und fiel hin.

»Das musst du nicht tun!«, rief die Mutter erschrocken. »Ich kann dir alles holen.«

Jamila wuchs in einer Familie auf, in der Mädchen keine Wünsche äußerten. Je passiver sie waren, desto besser. Man solle mit offenen Händen leben, hatte ihr die Mutter eingeprägt. Nie etwas ergreifen oder verlangen. Dann würden die Töchter bekommen, was anderen durch die Finger rann.

Seit Jamila die Welt aufrecht stehend gesehen hatte, wollte sie nicht mehr krabbeln. Lieber hinkte sie auf dem starken Bein und zog das schwache nach. Als ihre Nichte ein Gestell zum Laufenlernen bekam, bettelte Jamila so lange, bis ihre Mutter einen Handwerker beauftragte, das Gleiche für ihre Tochter zu zimmern. Es sah aus wie ein kleiner Rollator aus Holz, war aber nur im Haus zu gebrauchen. Die Außenwelt war für Krüppel tabu.

Jeden Morgen, wenn ihre Brüder die Schuluniform anzogen, sich den Ranzen umhängten und nach draußen stürmten, blieben die Schwestern daheim. Lesen lernen würde sie nur von ihren Pflichten ablenken und auf dumme Gedanken bringen. Bildung war gefährlich. Sie würde nur ihren Wert auf dem Heiratsmarkt vermindern, und darum ging es schließlich bei Töchtern – um den Marktwert.

Die auf traditionelle Weise arrangierte Ehe war eine Transaktion. Bezahlt wurden die Qualitäten eines Mädchens: Alter, Aussehen, Fertigkeiten im Haushalt. Außerdem zählten ihr Clan, die Familie sowie deren Besitz, Ehre, Ansehen und Status. Zusammen machten diese Faktoren den Preis aus, den die Eltern mit der Familie des Freiers aushandelten.

Ibrahim stellte hohe Ansprüche an seine Kinder. Der Marktwert seiner Töchter sollte hoch genug sein, um durch Heiraten wichtige Verbündete zu gewinnen. So hatten es die Clans und Familien seit Jahrhunderten praktiziert.

Deshalb galt es, den Wert der Töchter bis zum heiratsfähigen Alter so weit wie möglich zu steigern. Faktoren wie die Clanzugehörigkeit und den Status der Familie konnte man nicht ändern. Umso wichtiger war es, andere Qualitäten zu optimieren. Unsichtbarkeit bekräftigte die Reinheit der Töchter. Kein Fremder sollte Jamilas Schwestern sehen, kein Mann sollte ihre Stimme hören, keiner ihren Namen kennen. Wenn der Name einer Frau verbreitet wurde, war sie bereits besudelt. Das prägte Jamilas Vater seinen Kindern ein. Wenn Gäste im Haus waren, saßen sie still in ihren Gemächern oder flüsterten miteinander.

Ibrahim war ein strenger und traditionsbewusster Mann. Er stammte aus Gasni, einer ganz von Clans beherrschten Stadt in der Hochebene im Südosten des Landes. In Armut und ohne Schulbildung aufgewachsen, hatte er schon als Kind auf dem gestampften Erdboden ihrer Lehmhütte Leder gegerbt. Als Jugendlicher baute und verkaufte er etwas, was die Menschen immer benötigten: Särge.

Er war ein echter Self-made-Afghane. Auch Kleider wurden immer benötigt, also erweiterte er sein Geschäft. Als Nächstes kamen landwirtschaftliche Werkzeuge...

Erscheint lt. Verlag 17.11.2023
Übersetzer Frank Zuber, Franziska Hüther
Sprache deutsch
Original-Titel Afghanerne
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Afghanistan • Afghanistan im Krieg • Familie • Heiliger Krieg • Hoffnung • Leben in Afghanistan • Machtübername Taliban • Menschenrechte • muslimischer Glaube • Porträt • Religiöser Fanatismus • Resignation • Taliban • zwangsverheiratet
ISBN-10 3-0369-9632-X / 303699632X
ISBN-13 978-3-0369-9632-5 / 9783036996325
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