Epistemologien der Geste (eBook)
178 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-107704-8 (ISBN)
Die römische Rhetorik stellt bislang das prominenteste Denkparadigma für das Verständnis der Geste als Analogon der Sprache dar. Die Tradition der «eloquentia corporis», in die sich die maßgeblichen Reflexionen Quintilians und ein wichtiger Teil westlicher Medienkulturen einschreiben, hat uns die heute immer noch in den sogenannten Gesture studies unterschiedlich vertretene Idee überliefert, Gesten lassen sich als eine eigene Körpersprache und somit als Formen des somatischen Wissens auffassen, die ihre syntaktische Natur im Augenblick ihres Vollzugs ausloten. Was passiert aber, wenn die Geste nicht mehr bloß als Kodex, als Medium einer anderweitig sprachlich artikulierbaren Botschaft interpretiert werden kann? Was, wenn eine derartige Mittel-Zweck-Relation der Komplexität sinnstiftender Gesten theoretisch und analytisch nicht mehr gerecht wird, wie es bei der Kunst der Fall ist?
Der Band geht der Frage nach der immanenten Reflexivität von Gesten als Formen materieller Wissensgestaltung nach, d.h. er ist einer ästhetischen Epistemologie gewidmet, die ihre Leistungen an der Schnittstelle zwischen Körper und Medien prozessiert. Dafür wird die operative Ästhetik von Bildern, Texten und weiteren Medien im Hinblick darauf erforscht, ihre spezifischen Gesten zu erfassen.
Luca Viglialoro, Hochschule der Bildenden Künste Essen, Deutschland; Johannes Waßmer, Universität Osaka, Japan.
Körper
Zu einer Ontologie und einer Politik der Geste
Anmerkung: Der Aufsatz ist die Transkription eines Vortrags, den Agamben im Rahmen des Seminars Giardino di studi filosofici an der Università di Cagliari (29. und 30. Juni 2017) gehalten hat [Anm. des Übersetzers].
Meine Reflexion zur Geste begann in den Achtzigern und seitdem kann ich wohl sagen, dass ich nie aufgehört habe, mich damit zu beschäftigen, wenn auch auf einer diskontinuierlichen und unterschwelligen Art. Der Ausgangspunkt war, wie es oft bei mir bewusst oder unbewusst der Fall ist, nicht die Regel und das Höhere – die expressive Geste –, sondern die Ausnahme und das Niedrigere, und zwar die Pathologien der Geste, die ihr klinisches Bild zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch das Tourette-Syndrom (auch bekannt als Tourettismus) gefunden haben. Wie der Titel der 1885 veröffentlichten Studie des französischen Psychiaters bereits verrät (Étude sur une affection nerveuse caractérisée par de l’incoordination motrice accompagnée d’écholalie et de coprolalie) handelt es sich um einen Zusammenbruch der Sphäre der Geste durch eine bemerkenswerte Wucherung von Tics motorischer aber auch verbaler Art, die den Patienten daran hindern, die einfachsten Körperbewegungen zu vollenden. Diese zersplittern sich in spasmodische Anfälle und in Manierismen und unterbrechen jeden Diskurs mit koprolalischen Ausbrüchen und Wiederholungen.
Solche Phänomene werden in ihren zahlreichen Ausprägungen seit der Publikation der Studie von Tourette von Psychiatern und Neurologen analysiert und beschrieben, aber danach, ab den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, von den medizinischen Jahrbüchern nicht mehr aufgenommen. Erst 1971 tauchen sie auf einmal wieder auf, als Oliver Sacks beim Schlendern durch die Straßen von New York in wenigen Minuten drei eindeutige Fälle von Tourettismus beobachtet. Die Hypothese, die ich damals für die Erklärung dieser singulären Angelegenheit vorschlug, war, dass Tics und gestische Wirrnis mittlerweile zur Regel geworden waren, als ob die westliche Menschheit ihre eigenen Gesten verloren hätte – oder zumindest die Fähigkeit, ihre eigene Gestik zu beherrschen. Des Weiteren nahm ich an, dass die Geburt des Kinos, die Versuche von Muybridge und Marey, die Bewegung zu fotografieren, Aby Warburgs Recherchen zu den Pathosformeln, aber auch, aus philosophischer Sicht, Nietzsches ewige Wiederkehr mit einem solchen Verlust von Gesten zu tun hatten und zugleich den extremen Versuch darstellten, das unwiderruflich Verlorene einzuholen.
Ausgehend von solchen Betrachtungen habe ich versucht, eine Antwort auf die Frage zu finden: «Was ist die Geste?», was kein leichtes Unterfangen ist. Die kulturgeschichtlichen und anthropologischen Studien zur Geste ließen mich unbefriedigt, da sie nicht einmal eine Antwort auf diese Frage versuchten und jede Körperbewegung als «Geste» bezeichneten, v. a. jene Bewegungen, die dazu tendierten, eine Bedeutung zum Ausdruck zu bringen. Die Geste wurde nämlich in diesen Studien ähnlich wie in der antiken Rhetorik (in der, wie es bei Quintilian heißt, die «Hände sprechen») als ein nicht-verbales Zeichen betrachtet, das verbale Bedeutungen überträgt und sichtbar macht.
Um sich an eine Definition der Geste anzunähern, wird es nützlich sein, zunächst einige Beobachtungen zum lateinischen Terminus gestus anzustellen und zum Verb gero, aus dem jener stammt. Die zwei Termini existieren nur im Lateinischen, es gibt keine Spur von diesen in den weiteren indoeuropäischen Sprachen. Die Sprachwissenschaftler zögern dabei, eine treffsichere Etymologie anzugeben. Ihr Bedeutungsumfang ist ziemlich weit: Man kann einen Bart oder eine Klamotte gerere, aber auch eine Freundschaft, eine Funktion und gar sich selbst (se gerere: «sich verhalten»). Gestus kann seinerseits jedes körperliche oder persönliche Verhalten bedeuten.
Wieder ließ sich ein wertvoller Hinweis zu diesem Thema in einem wunderbaren Sammelsurium linguistischer Intuitionen finden: Varros De lingua latina. Dort unterscheidet Varro drei ‹Stufen› menschlicher Tätigkeit: «Man kann», so schreibt er, «etwas schaffen (facere) und nicht ausführen (agere), wie etwa beim Dichter, der ein Drama schafft, dieses aber nicht ausführt; umgekehrt kann der Schauspieler (actor) ein Drama ausführen, er schafft dieses aber nicht. Das Drama wird also vom Dichter geschaffen, von diesem aber nicht ausgeführt, während der Schauspieler das Drama ausführt, es aber nicht schafft. Der imperator [der Beamte mit der obersten Macht], bei dem von res gerere die Rede ist, führt weder aus, noch schafft er, sondern gerit, und zwar erhält etwas aufrecht (sustinet), was im übertragenen Sinne diejenigen bezeichnet, die ein Gewicht tragen [oder, nach anderen Kodizes, ein Amt bekleiden]» (VI, 77).
Die Unterscheidung zwischen agere und facere stammt von Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik (1140b) zwischen Handlung (praxis) und Produktion, dem «tun» (poiesis) unterscheidet: «Die Gattung der praxis ist anders als jene der poiesis. Das Ziel des Tuns ist nämlich anders als das Tun selbst, während das Ziel der Praxis kein anderes sein kann, denn gutes Handeln ist in sich ein Ziel». Die Geste lässt sich nicht in die Pole dieser Alternative einschreiben, auf der Aristoteles den Vorrang politischen Handelns gründen wollte: Denn die Tätigkeit der Geste ist weder eine, die ähnlich wie die der poiesis auf einen äußerlichen Zweck zielt, noch eine, die ähnlich wie die Praxis einen Zweck in sich hat. Im Hinblick auf die Definition der Geste gibt es nämlich nichts irreführenderes als die Vorstellung einerseits eines Mittels zum Zweck (z. B. die Bewegung eines Armes, um etwas zu greifen oder zu erstellen), andererseits einer Bewegung, die einen Zweck in sich hat, wie etwa das politische Handeln bei Aristoteles – oder, für die Modernen wie wir, für die die Politik etwas opakes geworden ist, die ästhetische Tätigkeit. Wie Kafka begriffen hatte («es gibt ein Ziel, aber keinen Weg»), ist eine Zweckmäßigkeit ohne Mittel genauso befremdlich wie eine Medialität, die Sinn nur in Bezug auf einen äußerlichen Zweck besitzt.
Eine erste, durchaus unzulängliche Definition der Geste, die ich daher vorschlug, lautete folgendermaßen: Die Geste ist weder ein Mittel, noch ein Zweck, sie ist vielmehr die Darstellung [esibizione] einer reinen Medialität, die Sichtbarmachung eines sich von der Zweckmäßigkeit befreienden Mediums als solchen. Das Beispiel des Mimen ist in dieser Hinsicht erhellend. Was mimt der Mime? Nicht die Geste des Armes, um nach einem Glas zu greifen oder Weiteres auszuführen. Das perfekte Mimen wäre ansonsten die bloße Wiederholung jener bestimmten Bewegung als solcher. Der Mime ahmt die Bewegung nach, indem er aber ihren Bezug auf einen Zweck unterbricht. Er stellt die Geste in ihrer reinen Medialität und Mitteilbarkeit zur Schau [esposizione], jenseits ihres tatsächlichen Bezugs zu einem Zweck.
Es handelt sich um etwas, das sehr stark dem ähnelt, was Benjamin in seiner Zur Kritik der Gewalt das «reine Mittel» und drei Jahre zuvor in Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen als «reine Sprache» bezeichnet. Diese zwei Begriffe verlieren ihre Rätselhaftigkeit, wenn sie auf die Sphäre der Geste zurückgeführt werden, aus der sie stammen. Ist die reine Gewalt ein Mittel, das die juristische Relation zwischen rechtmäßigen Mitteln und richtigen Zwecken niederlegt und unterbricht, während die reine Sprache ein Wort, das nichts als sich selbst und zwar eine reine Mitteilbarkeit vermittelt, so teilt der Mensch durch die Geste keinen mehr oder minder chiffrierten Zweck mit, sondern sein sprachliches Wesen, die reine Mitteilbarkeit jenes vom Zweck befreiten Aktes. Durch die Geste erkennt man nichts, sondern lediglich eine Erkennbarkeit.
Entscheidend, um die Verfasstheit der Geste zu erfassen, ist also das Moment der Unterbrechung und der Verschiebung, und zwar ihr Bezug zur Zeit als lineare chronologische Reihenfolge. Es hat mich immer interessiert, dass ein großer Choreograph aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Domenico da Piacenza, in seinem Traktat Dell’arte di ballare e danzare in die Mitte des Tanzes das Moment der Unterbrechung setzt, das er «fantasmata» nennt.
So lautet seine Definition: «eine körperliche Kraft, die, nachdem man eine Bewegung vollzogen hat, […] Ruhe einkehren lässt, als ob einer den Kopf Medusas gesehen hätte: Man ist wie versteinert in jenem Augenblick, […] das Maß und den Ablauf in Gang setzend».
Domenico bezeichnet als «fantasmata» eine plötzliche Unterbrechung zwischen zwei Bewegungen, in deren reglosen, versteinerten Spannung sich das Maß und der Ablauf der ganzen choreographischen Reihenfolge zusammenziehen. Man merkt hier bei aller Deutlichkeit, dass die Geste nicht allein die körperliche Bewegung des Tänzers ist, sondern auch – und vielmehr – sein Stillstand zwischen zwei Bewegungen, die epoché, die reglos macht und der Bewegung...
Erscheint lt. Verlag | 7.8.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Mimesis | Mimesis |
Zusatzinfo | 6 b/w ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Romanistik | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Ästhetik • Epistemologie • Epistemology • esthetics • Geste • Gesture • Medium |
ISBN-10 | 3-11-107704-7 / 3111077047 |
ISBN-13 | 978-3-11-107704-8 / 9783111077048 |
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