Die Kühe, mein Neffe und ich (eBook)

Mit großen Tieren aufwachsen, leben und arbeiten

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
221 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-579-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kühe, mein Neffe und ich -  Uta Ruge
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Die Kühe auf den Weiden, das ist ein in uns allen tief verwurzeltes Bild. Aber wie ist es, mit ihnen aufzuwachsen, zu leben und zu arbeiten? Davon erzählt Uta Ruge kenntnisreich, persönlich und mit historischer Tiefenschärfe. Kühe waren klug, Kühe trugen Namen. Für das kleine Mädchen waren sie die interessantesten Tiere auf dem Hof, auf dem ihr Neffe heute noch Milchwirtschaft mit 140 Kühen betreibt. Wie war es damals, in den 1950er-, 1960er-Jahren, und wie ist es heute? Und wie hat alles angefangen vor Urzeiten, als die Menschen die ersten Rinder domestizierten, mit ihnen wanderten und schließlich mit ihrer Hilfe sesshaft wurden und Ackerbau betrieben? Uta Ruge erzählt vom täglichen Umgang mit den Kühen, vom Füttern, Melken, von Besamungen und Geburten. Sie erzählt von der Nähe, die durch die Arbeit entsteht, und davon, wie man gleichzeitig die gebotene Distanz zu den Tieren erlernt. Sie hat die Historie der Beziehungen zwischen Menschen und diesen großen Tieren recherchiert, wie sie sich in Höhlenmalerei, Artefakten und religiöser Überlieferung zeigt. Und sie ist über die Dörfer gefahren und berichtet, wie der ökonomische Zwang zur großen Menge und die neuen Regularien die Existenz kleinerer Höfe bedroht. Wie fatal die Entfremdung von unseren Lebensgrundlagen ist, macht dieses hervorragend recherchierte und großartig erzählte Buch deutlich.

Uta Ruge, auf Rügen geboren, wuchs nach der Flucht der Familie als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der TAZ in Berlin und lebte von 1985 bis 1998 als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London. Zuletzt erschien »Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang« (2020). Sie lebt in Berlin.

Uta Ruge, auf Rügen geboren, wuchs nach der Flucht der Familie als Bauerntochter in einem norddeutschen Dorf auf, studierte Germanistik und Politik in Marburg und Berlin, arbeitete im Rotbuch Verlag und bei der TAZ in Berlin und lebte von 1985 bis 1998 als freie Rundfunkautorin und Mitarbeiterin der internationalen Zeitschrift Index-on-Censorship in London. Zuletzt erschien »Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang« (2020). Sie lebt in Berlin.

1 AUFWACHSEN MIT DER HERDE


SPÄTER HERBSTNACHMITTAG. Der Himmel ist verdunkelt von niedrigen Wolken, es regnet.

Ungerührt gehe ich durch Regen und Nachmittag die Trift hoch, um die Kühe zum Melken zu holen. Sie grasen auf der am weitesten entfernten Weide hinter dem Kanal. Ich stiefele durch den Matsch des von großen Treckerrädern aufgewühlten Wegs. Über Kopf und Rücken hängt mir ein grober Jutesack, dessen Ecken sind ineinandergesteckt, eine Kapuze wie für einen Riesen. Ich bin noch klein, der Sack hängt mir bis in die nackten Kniekehlen. In die hinein stoßen bei jedem Schritt die Schäfte der dünnen schwarzen Gummistiefel, saugen sich klebrig an und lösen sich wieder.

Umhüllt von modrig süßsaurem Geruch aus Jute, Getreidestaub und Feuchtigkeit, spüre ich das Aufspritzen des Regens in den Pfützen, höre das Ein und Aus meines Atems und das gurgelnde, saugende Einsinken und wieder Herausziehen der Stiefel aus den tiefen, wassergefüllten Schlepperfurchen. Dann kürze ich den Weg ab, laufe quer über die umzäunten Weiden, klettere über Drähte und grätsche über Gräben, und plötzlich springt ein Hase vor mir auf, reißt mich aus meinen Gedanken in die Gegenwart – und mitten hinein in ein rasend schlagendes Herz, umspannt von nassem Fell.

Mit einem Ruck stehe ich, starre dem flüchtenden Tier nach.

Dann setze ich mich wieder in Bewegung.

Lange blieb mir das Bild des im Sprung weit ausgestreckten Tieres auf der Netzhaut stehen. Es war noch da, als ich die vor dem Ausgang schon wartenden Kühe nach Hause trieb, im Stall die Ketten um ihre Hälse schloss, dicht an ihre großen, nassen Leiber gedrückt. Eingetaucht in den Geruch nach Kuh, Mist und Milch, half ich meinem Vater beim Melken. Das Bild des Hasen war noch da, als ich das Melkgeschirr säuberte und zum Abtrocknen auf die Haken an der Wand hängte, beim Umsetzen des Wasserkühlers, beim Tränken der Kälber. Es löste sich erst auf, als ich die Katze streichelte, die um meine Beine strich und auf ihrer Milch bestand, und als ich ihr Fell unter meiner Hand spürte.

Nichts an der Natur war heilig, alles war Arbeit, vor allem unsere Tiere. Breitbeinig im Mist stehend, hoben und schoben, drückten und zogen wir die kleinen und großen Tiere dorthin, wo sie stehen oder liegen sollten. Wir sprachen mit ihnen, schmeichelnd, aufmunternd, drohend. Wir legten die neugeborenen Ferkel mit ihren Schnäuzchen an das Gesäuge der Sau, schoben einen Finger in die Mäuler der Kälber und zogen ihre Köpfe nach unten in die Eimer, denn dort war die Milch zu finden, nicht oben, im instinktiv von ihnen gesuchten Euter der Kuh, deren Milch wir für uns und zum Verkauf beanspruchten. Wir drückten die Kühe, die wir am späten Nachmittag von der Weide zum Melken in den Stall geholt hatten, ein Stück näher an die vom Balken herab zum Boden führenden Ketten, um sie anzubinden. Als Kinder mussten wir unser ganzes Körpergewicht einsetzen, um die großen Tiere einen Schritt weiter zu bewegen, die mindestens zehn- oder zwanzigmal schwerer waren als wir. Und außerdem mit gleich vier Beinen ausschlagen oder ihre Füße mit scharf behornten Klauen auf unsere im Sommer oft nackten Kinderfüße stellen konnten. Mit Kraft und Vorsicht mussten wir unsere Schultern gegen ihre Schultern lehnen, um sie ein paar Zentimeter näher zur Kette zu bewegen. Und manchmal hielt eine Kuh dagegen.

Wir stießen uns an ihnen – und sie sich an uns. Wenn sie uns widerstanden oder sogar gegen uns ausschlugen, dann schlugen wir oft zurück, obwohl wir das nicht sollten. Und weil es auch nichts half, nur Ruhe und Geduld halfen.

Mal rissen wir uns bei der Arbeit mit ihnen die Haut an einem Holzbalken auf, an dem wir uns hatten festhalten wollen, oder spritzten uns mit klebriger Milch voll, wenn die Kälber ungeduldig gegen die Eimer stießen, quetschten uns Hand oder Fuß in einer zu schnell zuschlagenden Stalltür oder rutschten im Mistgang aus, zerrten uns einen Muskel und humpelten weiter. Wir mühten uns alltäglich mit Schwere und Feuchtigkeit, Hitze und Kälte, hielten das Brennen von Mückenstichen und Brennnesseln aus, das dumpfe Bohren in einem gequetschten Daumen – und vergaßen den Schmerz bei der Arbeit. Wir kannten die Gerüche der verschiedenen Tiere und auch den ihres Dungs, konnten Pferde- und Rindermist unterscheiden und natürlich auch den von Schweinen, Hühnern und Enten. Beim Ausmisten der Ställe mischte sich in ihren Geruch unser eigener Schweißgeruch und begleitete die in Armen, Beinen und Rücken brennende Anstrengung vom Stoßen, Schieben und Heben, Aufladen und Abwerfen.

Das war unser Erleben von Natur, unser Lernen von ihr und über sie, es war das Verrichten einer Arbeit, die nie fertig wurde und jeden Morgen von Neuem begann.

Dazu kam die Stille. Unsere Stille.

Natürlich machten die Tiere Geräusche, gnurschten beim Fressen, pupsten und blubberten beim Misten, und die Ketten klirrten, wenn sich das Vieh legte oder aufstand. Wir nahmen es kaum wahr, gingen durch diese Fülle aus Geräuschen und Gerüchen hindurch, umwoben von den Klängen der Stöße gegen Stein oder Holz, hart oder hohl, ein Plumpsen, Brummen und Stöhnen, ein Klacken, Knacken und Knistern. Jeder Ton sagte uns, wo im Raum wir und das Vieh gerade waren, in welcher Phase der Arbeit. Und zu den Gerüchen und Klängen gehörte auch die Melkmaschine, das Knattern und Heulen ihres Motors, sie roch nach altem Öl, und das schönste Geräusch war, wenn man den roten Knopf nach dem Ausmelken der letzten Kuh endlich wieder eindrücken und die Maschine ausschalten konnte. Das war ein Ausatmen des ganzen Stalles.

Durch dieses Klang- und Geruchsbad bewegten wir uns ganz selbstverständlich, hatten und brauchten keine Worte dafür. Im Umgang mit den Dingen und dem Vieh stellten wir den Lärm und die Gerüche selbst mit her, gehörten dazu, waren Teil davon.

Unsere Stille war keine Totenstille, kein andachtsvolles Schweigen. Es war eine lebendige, feine Musik, die wir beständig mit allem anderen zusammen gleichzeitig komponierten und erzeugten. Die Rhythmen und Melodien stellten sich her aus unserem Wollen und Tun, aus dem, wie wir von den Tieren erschmeichelten, dass sie uns gaben, was wir von ihnen wollten. Im Sommer war unsere Arbeit in helle, leichte Töne gebettet. Durch weit geöffnete Türen hörten wir im Hof draußen vielleicht noch jemanden sprechen oder einen Hund bellen. Die Schwalben flogen in den Stall herein, wurden von fordernd piepsenden Küken im Nest erwartet, zwitscherten einander zu. Im Winter klang alles gedämpft, die Türen waren gegen die Kälte geschlossen, Heu und Stroh lagen auf der Diele und auf dem Heuboden über den Tieren, ihre Masse saugte die hohen und leisen Töne auf, schwächte sie ab, das Klirren der Ketten, das Knistern des Strohs, das Brummen und Rülpsen der Tiere und auch die Schritte der Menschen. Die Gerüche – von Kühen und Mist, ihrer Milch und ihrem Futter – übertönten die Geräusche.

Die Bäume, die den Hof umstanden, boten sommers wie winters eine schützende Umgrenzung, sie rauschten im Wind, aus ihnen tönten Vogelrufe. Wenn sich Wildtiere im späten Herbst und Winter den Höfen näherten, stimmten die Fasane in das Rufen ebenso ein wie unsere Hühner, der Hahn und die benachbarten Enten. In dieses Nebeneinander der häuslichen Tiere, ihrer Körper und Bewegungen, und der frei um den Hof herum lebenden, der Igel, Hasen, Vögel und am Rande der Felder auch der Wildschweine und Rehe, mischte sich unsere eigene Körperlichkeit – mit Atem, Herzschlag und Bewegung. Unsere Stille bestand in den nahezu wortlosen Abläufen gemeinsamer Arbeit.

Mit ihren Tieren vergrößern die Menschen den Raum um sich. Sie schaffen einen Hof durch Ställe und Scheunen, ziehen Zäune um Weiden, sie halten die Tiere bei sich, markieren sie als Eigentum, schützen andere vor ihrem Tritt, Biss und Mist.

Wo immer Menschen sich niedergelassen haben, tauchen bald auch ihre Tiere auf, mindestens Katzen und Hunde, meist Schafe, Ziegen und oft, wenn auch nicht immer, Schweine, dazu Rinder und Pferde, Hühner, Enten, Gänse und Truthühner. Tiere haben immer schon die Fantasie der Menschen angeregt. Noch vor der Domestizierung schnitten, gravierten und ritzten frühe Menschen die Umrisse und Leiber der sie umgebenden Tierwelt in Höhlen- und Felswände, zeichneten und malten Bären und Wildkatzen, Rentiere und Mammuts, wilde Pferde und die urwüchsigen großen Wildrinder, Wisente und Auerochsen. Und schon die frühen Homines sapientes schmückten die Dinge ihres alltäglichen Bedarfs, ihre Gefäße, Geräte und Höhlenwände mit den Leibern, Köpfen, Klauen, Hörnern und Flügeln großer und kleiner Tiere. Sie stellten sich vor, Verwandte von Tieren zu sein, wie noch...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bauer • Deutschland • Kühe • Landwirtschaft • Milchwirtschaft • Österreich • Schweiz • Tierhaltung
ISBN-10 3-95614-579-8 / 3956145798
ISBN-13 978-3-95614-579-7 / 9783956145797
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