Geschlecht und Gender (eBook)

Streit um Worte und die Welt
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
260 Seiten
Büchner-Verlag
978-3-96317-921-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschlecht und Gender -  Jeannette Alt
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Mit den Begriffen Geschlecht und Gender verknüpfen sich wichtige gesellschaftspolitische Debatten, die neue gesellschaftliche Räume und mehr Gleichberechtigung errungen haben. Dennoch entstehen ausgehend von diesen Begriffen in den letzten Jahren auch zunehmend aggressive und einschüchternde Debatten, die den neuen Lebensraum, der im Dazwischen von Geschlecht und Gender entstanden ist, zu bedrohen scheinen. Als Biowissenschaftlerin, die jahrzehntelang mit dem Thema der Frauengesundheit befasst war, beobachtet Jeannette Alt diese Debatten mit gemischten Gefühlen. In »Geschlecht und Gender« geht sie diesen Irritationen auf den Grund, indem sie sich beiden Konzepten stellt - aus Sicht einer, die in der Kategorie des Geschlechts als Forscherin jahrzehntelang zu Hause war und deren Neugier sie zu einer ausführlichen Beschäftigung mit der Kategorie Gender angestiftet hat. Ihre Erkundungen auf natur- und kulturwissenschaftlichem sowie sprachphilosophischem Terrain widmen sich letztlich der grundlegenden Frage: Wie können wir angemessen über dieses Thema sprechen? Alts Absicht ist ein Sachstandsbericht, doch als eine, die an den Wert echter Debatten glaubt, erlaubt sie sich dabei auch, ihre eigene Parteilichkeit durchschimmern zu lassen. Zugunsten eines echten Austauschs, vielleicht auch eines Streit, aber vor allem: eines Lernprozesses.

Jeannette Alt (Dr. rer. nat.) war nach ihrem Studium der Naturwissenschaften zunächst 15 Jahre an biologischen Forschungsprojekten beteiligt. Nach einem Wechsel in die Industrie hat sie dann fast 25 Jahre lang auf dem Gebiet der Frauengesundheit gearbeitet, einem Fachgebiet, das das Bauen von Brücken zwischen den Wissenschaften von der Natur und der Gesellschaft erfordert. Auch privat lebt sie in dem Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur auf einem Bauernhof im Heidekreis, im Zentrum des Kreises, der die drei Metropolregionen Hannover, Bremen und Hamburg verbindet.

Jeannette Alt (Dr. rer. nat.) war nach ihrem Studium der Naturwissenschaften zunächst 15 Jahre an biologischen Forschungsprojekten beteiligt. Nach einem Wechsel in die Industrie hat sie dann fast 25 Jahre lang auf dem Gebiet der Frauengesundheit gearbeitet, einem Fachgebiet, das das Bauen von Brücken zwischen den Wissenschaften von der Natur und der Gesellschaft erfordert. Auch privat lebt sie im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur auf einem Bauernhof im Heidekreis, im Zentrum des Kreises, der die drei Metropolregionen Hannover, Bremen und Hamburg verbindet.

Kapitel 2: Gender oder Geschlecht?


Was sehen Sie, interessierte Leserin, interessierter Leser, vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie das Wort »Frau« lesen oder hören? Einfach nur vier Buchstaben F, R, A und U? Oder sehen sie ein menschliches Individuum mit einem weiblichen Körper, charakterisiert durch breitere Hüften? Vielleicht deutet sich unter der Kleidung eine weibliche Brust an, und man sieht ein Gesicht, das, man weiß nicht wie, eben weiblich ist. Bei der Kleidung und der Länge der Haare bleibt es unbestimmt, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, dass es ein Mann ist, der einen Rock oder ein Kleid trägt, vernachlässigbar gering ist.

Aber was sehen Sie vor Ihrem geistigen Auge, wenn Sie das Wort »Gender« lesen oder hören? Wahrscheinlich sehen Sie ebenfalls eine Frau, vielleicht mit einem Plakat in der Hand, auf dem »Frauenrechte sind Menschenrechte« oder Ähnliches steht. Menschen, die sich in den sozialen Netzen bewegen, sehen vielleicht 60 verschiedene Menschen, die sich auf Facebook aus 60 Optionen ihr »Geschlecht« auswählen,8 unter denen sich solche befinden, die Sie als »Frau«, und auch solche, die Sie als »Mann« bezeichnen würden, und weitere, bei denen es nicht so ganz klar ist. Nun wissen Sie natürlich, dass man die sexuelle Orientierung oder auch die Geschlechtsidentität nicht sehen kann und man sich außerdem vor Stereotypen hüten sollte. So verschmilzt das Wort »Gender« zu einem Bild von einem Wesen, etwa 170 Zentimeter groß, mit zwei Beinen, zwei Armen und einem Kopf: ein Mensch ohne Eigenschaften. Vielleicht sehen Sie beim Wort »Gender« aber auch eine Gruppe von Menschen, die diskutiert, was Gender ist und wie man den Unwissenden das Konzept von Gender beibringen kann.

Sie werden nur wissend lächeln, da Sie selbstverständlich mit den Begriffen »Gender«, »Geschlechtsidentität« und den gängigen Abkürzungen LGBT oder LGBTQ9 vertraut sind. Aber jetzt versetzen Sie sich in Menschen hinein, denen Sie täglich begegnen: in die Kassiererin in Ihrem Supermarkt, in den freundlichen Auslieferungsfahrer an Ihrer Haustür, den Kontrolleur in der Straßenbahn. Was sehen Sie jetzt vor Ihrem geistigen Auge? Reicht Ihre Empathie nicht aus und Sie sehen weiterhin einen Menschen ohne Eigenschaften oder eine Frau, fragen Sie die nette Verkäuferin, was »Gender« ist. Sie werden auf viel Unverständnis stoßen.

Wir setzen voraus, dass Worte der Kommunikation dienen, der Verständigung der Menschen untereinander. Sprache erfüllt ihren Zweck dadurch, dass sie Bilder hervorruft, Bilder, die nach logischen Regeln verknüpft werden und dadurch Information übermitteln. Diese Beschreibung mag unzulässig verkürzt sein, aber sie reicht für das Thema, um das es in diesem Buch geht: um Geschlecht und Gender und um das Versagen der Sprache.

Aber wozu überhaupt über Geschlecht und Gender schreiben? Nun, das ist schnell erklärt: weil uns dieses Thema nicht nur höchstpersönlich betrifft – zumal das Thema Geschlecht, schließlich sind wir alle Geschlechtswesen –, sondern auch, weil mit dem Begriff »Gender« das Geschlecht aus unserem persönlichen und privaten Bereich in die Politik geraten ist und uns nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft betrifft. Wie sagten die Feministinnen der Zweiten Feministischen Welle: »Das Private ist politisch!«

2.1 Gender – ein politisches Thema


In der Politik geht es um Werte. Zwar sind diese oft ökonomischer Natur, aber eben nicht immer. Machen wir uns nichts vor: Zuallererst geht es in der Politik um Macht, um die Macht, ein Wertesystem durchzusetzen. Bei Werten, die nicht ökonomischer Natur sind, geht es natürlich nicht um Macht, sondern darum, durch demokratischen Diskurs zu überzeugen und dadurch die Stimmen der Mehrheit zu gewinnen. Oder etwa nicht?

Für unser Wertesystem gibt es eine klare Grundlage: das Grundgesetz, entstanden in dem durch Krieg zerstörten Deutschland. Im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte tagten 1949 die 61 Männer und vier Frauen des Parlamentarischen Rats in Bonn, um der neuen Werteordnung der Bundesrepublik eine verfassungsrechtliche Form zu verleihen. Am 23. Mai wurde das Grundgesetz genehmigt, und damit wurden zum ersten Mal in Deutschland die gleichen Rechte ohne Ansehen des Geschlechts garantiert. 1949 waren jedoch die Rechte von Frauen, zumal in Ehe und Familie, für unser heutiges Verständnis unerträglich eingeschränkt, und es bestand wenig Neigung, das zu ändern. Bei der Suche nach einer juristisch unanfechtbaren Formulierung des Grundsatzes über die Gleichberechtigung von Mann und Frau wurde daher heftig gestritten. Es war das Verdienst vor allem der Juristin Elisabeth Seibert, dass Artikel 3 Absatz 2 als Auftrag an den Gesetzgeber formuliert wurde: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Damit mussten viele familienrechtliche Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch überarbeitet werden – auch wenn das erst nach einigen Jahren geschah.

Bald stellte sich allerdings heraus, dass gleiche Rechte nicht zu größerer Gleichheit der Geschlechter führten. Trotz formaler Gleichberechtigung blieben faktische Benachteiligungen, sodass Frauen sich ausgeschlossen fühlten. 1994 wurde daher dem Artikel 3 Absatz 2 ein zweiter Satz hinzugefügt: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Damit hat sich der Staat verpflichtet, nicht nur gleiche Rechte von Männern und Frauen zu gewährleisten, sondern zu diesem Zweck ein Geschlecht zu bevorzugen. Man spricht von »positiver Diskriminierung«, was indes wieder mit dem Gleichheitsgrundsatz kollidiert. Eine positive Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht stellt außerdem ein kollektives Recht von Frauen dar. Unser Grundgesetz kennt jedoch keine Kollektivgrundrechte.10

Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch nicht nur dem Grundgesetz verpflichtet. Völkerrechtliche Verträge, Absichtserklärungen und Richtlinien binden unseren Staat. Das betrifft auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. In diesem Zusammenhang begegnen wir einem Problem: die Sprache. Internationale Abkommen sind im Allgemeinen auf Englisch verfasst, die Diskussionen werden auf Englisch geführt, und verschiedene, nicht immer kompatible Auffassungen führen bei den Übersetzungen zu Unschärfen und Missverständnissen.

Ausgehend von der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking11 wurden Konzept und Ziele des Gender-Mainstreamings zur Richtschnur für die UN wie auch für die EU und damit für Deutschland. Zwei Jahre danach folgte die Resolution 1997/2 des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC), und auf der 52. Tagung forderte die Generalversammlung die Staaten auf, die in Peking verabschiedete Aktionsplattform umzusetzen.12 Seither gilt auch für Deutschland Gender-Mainstreaming im Sinne der Resolution 1997/2: »Gender Mainstreaming ist ein Prozess, bei dem alle geplanten Gesetze, Regeln und Programme auf allen Gebieten und auf allen Ebenen bewertet werden hinsichtlich der Folgen für Frauen und Männer. Es handelt sich um eine Strategie, alle Bedenken und Erfahrungen von Frauen und Männern bei der Entwicklung, der Implementierung, der Überwachung und Bewertung in allen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Sphären zu berücksichtigen, sodass Frauen und Männer gleichermaßen profitieren und Ungleichheit beendet wird. Das ultimative Ziel ist die Gleichheit der Gender.«13

Seit 2006 ist Gender-Mainstreaming in allen Ländern der EU verpflichtend. Der Text, auf den man sich geeinigt hatte, war in englischer Sprache abgefasst und verwendete den Begriff »gender mainstreaming«.14 In der deutschen Fassung hingegen ist von Geschlecht und Gleichstellung die Rede.15 Dieses Beispiel zeigt, wie mithilfe der Sprache fast unbemerkt von den Betroffenen politische Wirklichkeit geschaffen werden kann. Das Lehnwort »Gender« ist nicht identisch mit dem Geschlecht, das in unserem Grundgesetz genannt wird, denn das wäre im Englischen »sex«. Nun wird im Alltagsenglisch nicht immer sorgfältig zwischen den Begriffen »gender« und »sex« getrennt, was nicht unerheblich zur Unklarheit beiträgt. Geht es jedoch um solch umfassende Richtlinien, benötigen wir eine präzise Definition. Die finden wir in der Gender-Richtlinie der World Health Organisation (WHO) von 2002: »[Der Ausdruck] Gender wird benutzt, um diejenigen Eigenschaften von Frauen und Männern zu beschreiben, die sozial konstruiert sind, während Geschlecht die biologisch bestimmten Eigenschaften beschreibt. Menschen werden weiblich oder männlich geboren, aber lernen Mädchen und Jungen zu sein und wachsen auf zu Frauen und Männern. Dieses angelernte Verhalten bestimmt die Genderidentität und bestimmt die Genderrolle«.16 Somit ist klar: Mit »Gender« ist nicht das Geschlecht gemeint.

Gender ist jetzt auch in Deutschland angekommen, als Mainstreaming und inzwischen weithin sichtbar als Veränderung der Sprache durch das »Gendern«.

Nun sind »Gender« und »Mainstreaming« im Deutschen unbestimmte Rechtsbegriffe und müssen mit Bedeutung gefüllt werden, die auch verstanden wird. Eine wichtige Institution, die vermitteln kann zwischen einer verständlichen Alltagssprache und der Sprache, die geeignet ist, den politischen Willen in Gesetzesform zu gießen, sind die politischen Parteien.

Die Aufgabe der Parteien ist es, an der politischen...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2023
Verlagsort Marburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Frauengesundheit • Gender • Geschlecht • Gesundheit • Gleichberechtigung • Sprache
ISBN-10 3-96317-921-X / 396317921X
ISBN-13 978-3-96317-921-1 / 9783963179211
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