Psychosomatik (eBook)
228 Seiten
Edition Patrick Frey (Verlag)
978-3-907236-60-4 (ISBN)
Vorwort des Herausgebers — Nicht ohne meinen Körper
1. Der Beziehungsstatus zwischen Körper und Seele ist kompliziert. Wenn es sich denn überhaupt bei diesem Verhältnis um das einer Beziehung handelt, die ja zwei verschiedene Entitäten voraussetzen würde. Es wird noch komplizierter, wenn man – wie David Napier in einem mit 19 Kolleg:innen verfassten Kommissionspaper – «culture» als dritten Faktor im Verständnis von psychischer und körperlicher Gesundheit und Krankheit anmahnt:
This Lancet Commission on Culture and Health, thus, underlines the need to understand how wellbeing is socially generated and understood, and how socially constructed domains of meaning – that is, «cultures» – relate or fail to relate to outstanding notions of health and systems of care delivery. Because wellbeing is both biological and social, we are committed to the idea that health providers can only improve outcomes across diverse domains of meaning once they accept the need to understand the socio-cultural conditions that make people, or allow people to make themselves, healthier.1
Die drei Eckpunkte des geläufigen bio-psycho-sozialen Dreiecks, mit dem die Aspekte der Krankheitsverursachung häufig dargestellt werden, wären somit allenfalls analytische, aber keine (gesicherten) ontologischen Kategorien. Vielleicht sogar auch nur systematische Kategorienverwechslungen? Diese Unklarheiten machen den Begriff der Psychosomatik so schwierig fassbar. In dem Sammelband Auf der Suche nach einer anderen Medizin. Psychosomatik im 20. Jahrhundert schreiben die Herausgeberinnen Alexa Geisthövel und Bettina Hitzer über den Wandel dessen, was man unter Psychosomatik versteht:
Eine allgemein anerkannte Definition von Psychosomatik gab es in der Vergangenheit nicht und gibt es auch heute nicht, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sich Vorstellungen darüber, wie Psyche, Geist oder Seele verfasst sind, wie diese mit dem Körper zusammenhängen und ob daneben andere Dimensionen wie etwa das Soziale berücksichtigt werden müssten, kontinuierlich geändert haben.2
Psychosomatik als mehr oder weniger «holistische» Disziplin versteht sich in der Regel einerseits als eine Kritik an einem biomedizinischen Reduktionismus; andererseits steht sie mit ihrer Forderung nach «Ganzheitlichkeit» aber auch unter dem Verdacht, esoterische Vorstellungen über Gesundheit und Krankheit zu befördern, wie etwa das Konzept einer «Krebspersönlichkeit». Es gehört schliesslich zum Erfolgskonzept der «modernen» Wissenschaften, ihre epistemischen Objekte zu isolieren, d. h. auf überschaubare Interaktionen mit anderen Objekten zu reduzieren.
Elizabeth Wilsons Buch Psychosomatik nun ist ein Plädoyer, diese in der «Verfassung der Moderne» (Bruno Latour)3 vorgesehenen Trennungen (z. B. von Kultur und Natur) zugunsten einer Art Akteur-Netzwerk-Theorie des Bio-Psycho-Sozialen aufzuheben und auch nichtmenschliche und nichtorganische Akteur:innen einzubeziehen. Dazu greift sie auf die Evolutionstheorie und – wie auch in ihrem Buch Eingeweide, Pillen, Feminismus4 –Psychopharmakologie sowie auf die Psychoanalyse zurück, genauer: auf eine Psychoanalyse, welche die Psychoanalytiker:innen selbst vielfach lediglich für deren Vorgängerin halten.
2. Freuds (zusammen mit Josef Breuer verfassten) Studien zur Hysterie von 1895 (GW 1) wurden nach dem Willen der Herausgeber der Gesammelten Werke in die sogenannten «Voranalytischen Schriften» eingereiht. Sie folgen damit der offiziellen psychoanalytischen Geschichtsschreibung, dass die Veröffentlichung der Traumdeutung (GW 23) im November 1899 die Geburtsstunde der «eigentlichen» Psychoanalyse sei, wohingegen die früheren Schriften nicht zur eigentlichen Psychoanalyse gehörten. Der «psychische Apparat», den Freud dort entwirft, ist ein virtuelles Gebilde, das Modell einer Maschine, die nichts anderes vermag als zu wünschen. Träume sind der Versuch, den Schlaf störende Wünsche durch imaginäre (entstellte) Wunscherfüllung zu beseitigen. In der Traumtheorie ist der Körper (im Falle des Harndrangs z. B.) mehr Stichwortgeber als Akteur – ganz anders als in den Studien über Hysterie, in denen ganz offensichtlich der Körper «spricht».
1905 erscheinen zwei Bücher Freuds, an denen er gleichzeitig gearbeitet hat: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten (GW 6) und die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (GW 5). Nicht nur das Letztgenannte beschäftigt sich (naturgemäss) wieder ausführlich mit dem Körper und seinen erogenen Zonen, allen voran jenen, die mit der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung verknüpft sind. Auch der Witz enthält überraschenderweise eine Art Theorie der (als sozialer Austausch gedachten) Konversion, nämlich dort, wo das Lachen als Abfuhr einer «ersparten» Energie gedeutet wird.
Auf welche Weise gelangen wir aber zum Lachen, wenn wir die Bewegungen eines anderen als übermäßig und unzweckmäßig erkannt haben? Auf dem Wege der Vergleichung, meine ich, zwischen der am anderen beobachteten Bewegung und jener, die ich selbst an ihrer Statt ausgeführt hätte. Die beiden Verglichenen müssen natürlich auf gleiches Maß gesetzt werden, und dieses Maß ist mein mit der Vorstellung der Bewegung in dem einen wie im anderen Falle verbundener Innervationsaufwand. [ …] Hier weist uns die Physiologie den Weg, indem sie uns lehrt, daß auch während des Vorstellens Innervationen zu den Muskeln ablaufen, die freilich nur einem bescheidenen Aufwand entsprechen. Es liegt aber jetzt sehr nahe anzunehmen, daß dieser das Vorstellen begleitende Innervationsaufwand zur Darstellung des quantitativen Faktors der Vorstellung verwendet wird, daß er größer ist, wenn eine große Bewegung vorgestellt wird, als wenn es sich um eine kleine handelt. Die Vorstellung der größeren Bewegung wäre also hier wirklich die größere, d. h. von größerem Aufwand begleitete Vorstellung.5
Freuds Verhältnis zur Biologie ist durchaus ambivalent. Doch ist die Distanz, die er zu Chemie und Biologie hält, vor allem eine eher strategische als eine prinzipielle; er hat schliesslich seine eigene neue Disziplin gegenüber fremden Ansprüchen zu verteidigen.
Wilsons Affirmation des Biologischen wiederum bedeutet keinen biologischen Reduktionismus. Sie plädiert vielmehr für eine biologische Anreicherung des Psychischen oder eine Psychisierung des Körpers, die darüber hinaus die körperlichen Grenzen für die Interaktion mit anderen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen (Bruno Latour) in theoretischer Hinsicht durchlässig macht. Ihr Plädoyer schliesst auch eine Reduktion des Psychischen auf das zentrale Nervensystem aus. Ihre Neuro-Psychoanalyse ist also etwas anderes, als man gemeinhin darunter versteht. Der Gegenstand, den sie für ihre Version einer Psychosomatik vorschlägt, ist nicht das Gehirn, sondern ein delokalisiertes6 nervöses System.
3. Überraschend ist auch Wilsons Positionierung zur Frage, wie weit Darwin Lamarckist gewesen bzw. geblieben ist. Gemeinhin gilt Lamarck mit seiner Behauptung der Vererbung erworbener Eigenschaften als ein überholter und widerlegter Vorgänger der Darwin’schen Evolutionstheorie. Demgegenüber zeigt Wilson, dass sich der Begriff der «Vererbung» auch mit Darwin als ein weit umfassenderes Konzept als ein rein biogenetisches fassen lässt. Wilson schreibt,
dass die Evolution darin nicht in erster Linie ein biologischer Prozess ist und sich nicht sinnvoll darauf reduzieren lässt. Jeder einzelne von Darwins Texten führt vor, dass der Stoff der Evolution grundsätzlich heterogen ist, d. h. mit Sicherheit biologischer Art, aber auch psychologischer, kultureller, geologischer, ozeanischer und meteorologischer. Wir wurden daran gewöhnt, uns die Beziehungen zwischen diesen Kräften der Evolution als recht einseitig vorzustellen (die Wirkungen der Geologie auf die Kultur, des Biologischen auf die Psyche), doch aus einer eingehenderen Beschäftigung mit Darwins Werk ergibt sich ein aus reziproken Verhältnissen gebildetes System.7
4. Wem Wilsons kühne Verknüpfungen von Nervenbahnen, Organen, Evolutionstheorie, Hysterie intuitiv «unverdaulich» anmuten, sollte vielleicht die Lektüre des Buches mit einem Abschnitt («Evolution als Differenzierung»)8 aus dem letzten Kapitel beginnen, in dem sich die Autorin mit Darwins letztem Werk, Die Bildung der Ackererde durch die Würmer, beschäftigt.
Die Welt nach Darwin ist bestimmt durch ein wüstes Hin und Her, einen aktiven Tauschhandel zwischen Arten, zwischen Königreichen, zwischen organischen und anorganischen Formen, zwischen Lebewesen und Geologie und Kultur und Psyche. In Darwins System berührt und vermehrt sich alles mit allem [ …]
Dieses System der produktiven Differenzierung ist nirgendwo überzeugender beschrieben als in Darwins letztem Buch über die Ackererde und die Tätigkeit der Würmer. Die vielleicht erstaunlichste Behauptung des Buchs findet sich schon auf den ersten Seiten: «Ich wurde hierdurch zu der Folgerung geführt, daß die ganze Ackererde über das ganze Land hin schon viele Male durch die Verdauungskanäle der Würmer gegangen ist und noch viele Male durchgehen wird.»9 Fruchtbar wird Boden also erst, nachdem er von Tierkörpern verdaut und ausgeschieden worden ist. Mit dieser...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2023 |
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Übersetzer | Patricia Claire Kunstenaar |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-907236-60-2 / 3907236602 |
ISBN-13 | 978-3-907236-60-4 / 9783907236604 |
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