Im Minus-Bereich (eBook)
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77608-7 (ISBN)
Jana Costas hat sich einem Reinigungsteam am Potsdamer Platz angeschlossen. Unter dem glitzernden Komplex liegt der Minus-Bereich: vier Stockwerke mit labyrinthischen Gängen und fensterlosen Räumen. Dort ziehen sich Alex, Ali, Luisa und Marcel um, bevor sie Büros und Luxusapartments putzen. Jenseits aller Klischees ist diese Arbeit für sie auch eine Quelle des Stolzes. Costas schildert ihre Kämpfe um Würde, porträtiert eine expandierende Branche und holt so die oft unsichtbaren Beschäftigten in die Sichtbarkeit.
Jana Costas, geboren 1982 studierte an der London School of Economics und promovierte an der Cambridge University. Seit 2014 hat sie eine Professur für Personal, Arbeit und Management an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder inne.
7Einführung in die Unterwelt: Der »Minus-Bereich« am Potsdamer Platz
»Jana in der Unterwelt«, murmelt Norbert, einer der Vorarbeiter bei Reinlich & Co.,1 als er von meiner Absicht erfährt, eine Feldstudie über die Reinigungskräfte am Potsdamer Platz durchzuführen. Die »Unterwelt«, das ist der sogenannte »Minus-Bereich«: bis zu vier weitläufige Tiefgeschosse mit fensterlosen Lager- und Pausenräumen sowie einem großen Entsorgungszentrum. Dieses subterrane System aus Tunneln, Aufzügen, Treppen, labyrinthischen Korridoren und Höhlen, in denen sich die Reinigungskräfte bewegen und mit anderen Arbeiterinnen und Arbeitern interagieren, ist der Schauplatz der vorliegenden ethnografischen Studie über eine der Öffentlichkeit gewöhnlich verborgene Sphäre.
Norberts Metapher aus der griechischen Mythologie passt gut: In der Unterwelt herrscht der Gott Hades, dessen Name »der Nicht-Gesehene« oder »der Unsichtbare« bedeutet, über die Toten.2 Zwar sind die Reinigungskräfte vom Potsdamer Platz überaus lebendig und kehren auch regelmäßig an die Erdoberfläche zurück; während ihrer Arbeitszeit jedoch sind sie meist zur Unsichtbarkeit verurteilt: ein unüberwindbarer Styx aus Stahl und Beton verbirgt sie vor den Blicken der Oberwelt.
Der Potsdamer Platz ist ein prominenter Gebäudekomplex, eine am Reißbrett entworfene Micro-City mitten in Berlin, nahe dem Brandenburger Tor. Mit den von der crème de la crème internationaler Architekten im Auftrag großer 8Unternehmen entworfenen Gebäuden sollte dem Areal der Glanz der Vorkriegszeit zurückgegeben, seine Geschichte im Nationalsozialismus und im Kalten Krieg vergessen gemacht und eine ideale »Stadt für das 21. Jahrhundert« geschaffen werden.3 Die Hochhäuser Renzo Pianos, Hans Kollhoffs Backstein-Tower mit seinen Art-déco-Anleihen und Richard Rogers' lichtdurchfluteter Bürokomplex mit gelben Sonnenblenden und begrünten Atrien machen das Quartier zu einer futuristischen Erscheinung im Stadtbild. Mit Einkaufszentren, Ablegern amerikanischer Sternehotelketten, einem Entertainment-Center, einem Spielcasino, einem Multiplex-Kino und Luxusapartments ist das Areal ein Tummelplatz kaufkräftiger Konsumentinnen und Touristen, gut verdienender Angestellter und weltläufiger Anwohnerinnen.
Mir ist das Areal gleichermaßen vertraut und fremd. Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen und oft hier gewesen, allerdings ohne je den geringsten Einblick in die Unterwelt und den Alltag der dort Arbeitenden zu haben. Ich weiß auch nicht viel über das Reinigungsgewerbe. Deshalb kommt es mir auf dem Weg in die Unterwelt vor, als beträte ich mitten in meiner Heimatstadt eine fremde Welt.
Mein Interesse am Reinigungspersonal und seiner Arbeit geht auf eine Begegnung vor über zehn Jahren zurück. Damals blieb ich, als Strategieberaterin für die Datenanalyse eines Projekts verantwortlich, eines Abends länger im Münchener Büro des Unternehmens. Gegen neun Uhr wurde es still auf der Etage. Ich hörte, wie die letzten Kollegen das Büro verließen, sah die Türen hinter ihnen zufallen und die Lichter auf den Fluren erlöschen. Ich war so in meine Tabellenkalkulation vertieft, dass ich aufschreckte, als plötzlich eine junge Frau in einem Reinigungskittel vor mir stand. Nach einer flüchtigen Begrüßung ging sie weiter ins nächste 9Büro und fing dort an sauber zu machen. Unsere kurze Begegnung machte mich nachdenklich. Was ging in ihr vor, wenn sie abends in leeren Fluren und Büros unterwegs war? Was sah sie in mir, einer weiteren Frau, die hier einsam vor sich hin arbeitete, ganz anders angezogen war und offenbar einer besser bezahlten und mit einem höheren Status verbundenen Tätigkeit nachging? Wer von uns beiden wollte im Augenblick weniger hier sein? Wann schlief sie, wann sah sie ihre Kinder? Hatte sie überhaupt welche? Wo wohnte sie? Und wie kam es, dass sie in der Gebäudereinigung arbeitete?
Diese Begegnung machte mir bewusst, dass das Hotelzimmer, in dem ich schlief, das Büro, in dem ich den Tag verbrachte, und die Straßen zwischen diesen Orten von Personen gereinigt wurden, die zugleich abwesend und anwesend waren: abwesend, da man sie gewöhnlich weder sieht noch hört, und doch anwesend, da mangelnde Sauberkeit sofort auffallen würde. Zwischen ihrem Leben und meinem bestand zum einen ein unmittelbarer Zusammenhang – die Arbeitszeiten der Reinigungskräfte orientierten sich an denen der Beraterinnen –, zugleich waren sie scharf voneinander getrennt. Bis zu dem Tag, an dem ich mich dem Reinigungspersonal in der Unterwelt des Potsdamer Platzes anschließe, habe ich mit Reinigungskräften immer nur als Dienstleistern zu tun gehabt.
Am Vorabend meines ersten Tags am Potsdamer Platz fällt mir das Einschlafen schwer. Ich habe zwar alles Mögliche über die Gebäudereinigung gelesen und bei Schulungsworkshops mit Kundenbetreuerinnen und Vorarbeitern von Reinlich & Co. gesprochen, fürchte aber dennoch, nicht gut genug vorbereitet zu sein. Ich habe Angst, dass ich den Wecker um vier Uhr früh verschlafe oder dass vor Ort etwas schiefgeht. Was, wenn die Leute gar nicht mit mir reden wol10len und mich einfach ignorieren? Nach einer unruhigen Nacht radle ich im Morgengrauen voller mit Aufregung und Sorge gemischter Neugier durch die Stadt.
Um kurz vor fünf Uhr begrüßen mich Norbert und Tom, der für die Objekte am Potsdamer Platz zuständige Kundenbetreuer, in ihrem breiten Berlinerisch. Tom geht mit mir die formelle Einführung durch, die sich alle neuen Mitarbeiter anhören müssen: Sicherheits- und Reinigungsvorschriften, einen Plan des Geländes sowie die Verpflichtung zur Vertraulichkeit im Hinblick auf Informationen, die die Kunden von Reinlich & Co. betreffen.
Eine Begehung des Potsdamer Platzes und seiner architektonischen Highlights schließt sich an. Als wir einen Lastenaufzug betreten, macht mich Norbert auf die schmutzigen Wände aufmerksam: »Passen Se uff, nicht anlehnen! Das ist schmutzig.« Er siezt mich, weil er noch immer eine Besucherin in mir sieht, jemanden, der gut gekleidet ist und Personen in der Firmenzentrale kennt. Der dortige Personalchef, Ludwig, hat mir versprochen, dass ich mich praktisch unbeschränkt bewegen kann: Dem Unternehmen sei daran gelegen, der Gebäudereinigung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. In Toms und Norberts Augen wiederum bin ich jemand von »der Uni«, einer Institution, mit der sie nichts anfangen können, solange ihre Firma dort keinen Reinigungsauftrag hat. Auch wenn ich beschlossen habe, meinen akademischen Hintergrund und mein Forschungsinteresse offenzulegen, will ich unbedingt den Eindruck vermeiden, dass ich mir auf meine Titel etwas einbilde, um den ohnehin bestehenden kulturellen, sozialen und ökonomischen Abstand zwischen den Reinigungskräften und mir nicht noch zu vergrößern. (Später, als sie sich an mich gewöhnt haben, fragen sie nach meinem akademischen Rang und reagieren mit ungläubigem 11Lachen, als sie erfahren, dass ich, eine Umgangssprache sprechende junge Frau mit griechischem Hintergrund, Professorin bin: »Ist der Titel auf deinem Perso drauf? Zeig mal!«)
Nach dem Rundgang führen Tom und Norbert mich zu Michaela, einer 62-jährigen Reinigungskraft aus dem Berliner Osten. Nach einer kurzen Begrüßung greift sie zu Bürste und scharfem Reinigungsmittel, um mir zu zeigen, wie man Toiletten schrubbt. Zu meiner Überraschung trägt sie keine Handschuhe – mit denen habe sie einfach »kein Gefühl« für das, was sie tue. Ich beschließe, ebenfalls auf Handschuhe zu verzichten, und damit beginnt meine erste Schicht.
Als ich während der Pause um neun Uhr mit Michaela und anderen Kolleginnen bei Kaffee und einer Kleinigkeit zu essen um einen Tisch sitze, gehen fragende Blicke hin und her. Zeit, mich vorzustellen: »Hi, ich bin Jana, ich komme von der Universität und mache eine Studie über Reinigungsarbeit. Ich will erfahren, was es heißt, hier zu arbeiten.« Michaela antwortet als Erste. »Na endlich!«, ruft sie. »Endlich schaut sich mal jemand an, was wir hier tun, anstatt es für selbstverständlich zu halten.«
Ich bin für diese Aufgeschlossenheit dankbar, aber auch ein bisschen überrascht, dass Michaela meine Anwesenheit so bereitwillig als Zeichen der Wertschätzung und des Respekts begreift. Immerhin komme ich aus der Oberwelt, in der Reinigungskräfte im Allgemeinen ignoriert oder abfällig behandelt werden. Tatsächlich denken auch nicht alle wie Michaela. ...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Übersetzer | Richard Barth, Michael Müller, Stephan Gebauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Dramas of Dignity. Cleaners in the Corporate Underworld of Berlin |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Sozialwissenschaften ► Soziologie | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Berlin • bücher neuerscheinungen • Dramas of Dignity. Cleaners in the Corporate Underworld of Berlin deutsch • edition suhrkamp 2792 • EGOS Book Award 2023 • ES 2792 • ES2792 • Internationaler Tag der Gebäudereinigung • Klassengesellschaft • Kurt-Rothschild-Preis 2024 • Müll • Neuerscheinungen • neues Buch • Potsdamer Platz • prekär • Prekariat • Putzfrau • Putzkraft • Putzmann • Reinigungsfirma • Systemrelevant • unsichtbar |
ISBN-10 | 3-518-77608-8 / 3518776088 |
ISBN-13 | 978-3-518-77608-7 / 9783518776087 |
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