Hinter Mauern (eBook)
197 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77625-4 (ISBN)
Volker M. Heins und Frank Wolff zeigen, welche Wirkung Mauern und die Abwehr von Migration »nach innen« entfalten: Das Drängen der EU auf »sichere Außengrenzen« untergräbt das europäische Versprechen auf Frieden und Rechtsstaatlichkeit. Letztendlich gefährden befestigte Grenzen gerade jene demokratischen Werte und Strukturen, die sie zu schützen vorgeben.
Frank Wolff, geboren 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar und am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien in Osnabrück. Außerdem ist er Research Associate am Bard College in Berlin. 2019 erschien sein viel beachtetes Buch <em>Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961-1989</em> (stw 2297).
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Europa
Einwanderungskontinent mit Rassismusproblem
Die tunesische Hafenstadt Sfax ist ein Treffpunkt von Migranten aus Westafrika, die mit der Hilfe von Schleusern von hier aus versuchen, nach Italien überzusetzen. So auch Aminata Traouré, die im Frühjahr 2021 von französischen Journalisten interviewt wurde. Obwohl sie bereits ein Baby und zwei weitere Angehörige bei einem Schiffbruch im Mittelmeer verloren hatte, war die junge Frau aus der Côte d'Ivoire entschlossen, es noch einmal zu versuchen. So groß ist die Not, so groß die Anziehungskraft Europas. »Europa oder der Tod!«, lautet das Motto von Traouré und Tausender Westafrikaner, die in Tunesien ihren eigenen europäischen Traum träumen.1
In der Sehnsucht dieser Menschen spiegelt sich das Bild, das die Europäische Union von sich selbst pflegt. Sie möchte in den Augen der Welt unwiderstehlich sein. Die EU verkörpert, in den Worten des ehemaligen französischen Außen- und Europaministers Jean-Yves Le Drian, eine »echte humanitäre Macht«, mehr noch, das hoffnungsvolle »Projekt eines neuen Humanismus«.2 Die daraus entstehende Anziehungskraft soll aber nicht dazu führen, dass immer mehr Menschen sich tatsächlich angezogen fühlen und auf die Idee kommen, in Europa leben zu wollen. Darum errichtet die EU an ihren Grenzen bedrohliche Infrastrukturen, die all jene abschrecken sollen, die mit dem Gedanken spielen, ohne die entsprechenden Papiere einzureisen oder einzuwandern. Europa ist hin- und hergerissen zwischen dem Streben nach globaler 20Attraktivität und der Angst vor den globalen Einwanderungsbewegungen, die doch die Folge seiner Attraktivität sind. Aus dieser Spannung zwischen einem Sinnbild von Hoffnung und der Vergeblichkeit der Hoffnung ergibt sich der erste große Widerspruch, in dem sich die EU bewegt. Dieser Widerspruch prägt nicht nur den Blick, den potenzielle Migranten auf Europa haben, sondern auch das Verhältnis der Europäer selbst zur EU.
Der zweite Widerspruch liegt darin, dass einige Mitgliedsstaaten der Union aus ökonomischen und demografischen Gründen eine sozial breitgefächerte Einwanderung brauchen, aber wenig tun, um diese auch zu ermöglichen. Die bestehenden Einwanderungsprogramme beschränken sich auf hochbezahlte Berufe und Bildungseliten. Die Mehrzahl der Migrationswilligen hat somit keine andere Wahl, als entweder zu Hause zu bleiben oder mithilfe von Schleusern riskante Umwege zu suchen und aufwändige und unsichere Asylverfahren zu durchlaufen.
Dieser Widerspruch prägt auch europäische Länder außerhalb der EU. Im September 2021 war auf dem Cover der britischen Wochenzeitung The New European eine Fotomontage zu sehen: Ein Grenzschutzpolizist in einem Boot, auf dem »Border Force« steht, ruft einer Gruppe Schwarzer Geflüchteter, die mit Schwimmwesten in einem überfüllten Schlauchboot sitzen, die Frage zu: »Kann jemand von euch Lastwagen fahren?« Lastwagenfahrer waren nach dem Brexit knapp im Vereinigten Königreich. Das Fernsehen zeigte Bilder von leeren Regalen in Supermärkten. Der Güterverkehr lag am Boden. Auf dem Kontinent machte sich derweil Schadenfreude breit. Viele dachten sich: Das haben die Briten nun davon, dass sie aus der Europäischen Union ausgetreten sind und vor allem ihre osteuropäischen Migranten 21vergrault haben. Erst wollen sie sich hinter Mauern verschanzen, dann müssen sie doch ihre Tore öffnen, um dringend benötigte Arbeitskräfte hereinzulassen.
Innerhalb der EU sieht es oft nicht viel besser aus. In Deutschland fehlen Hunderttausende Arbeitskräfte, in der Gastronomie, der Hotelbranche, im Transportwesen, den Krankenhäusern, in Handwerksbetrieben, in Kitas, im Einzelhandel, in der Baubranche und anderswo. Im Jahr 2021 gab es über 63 000 unbesetzte Ausbildungsplätze.3 Frühere Hoffnungen, den Personalmangel durch Arbeitskräfte aus den EU-Nachbarländern auszugleichen, haben sich zerschlagen. »Die Einwanderung aus der EU geht dramatisch zurück«, sagt Herbert Brücker, Migrationsexperte am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg.4 In Europa mehren sich die Regionen, die durch mangelnde Zuwanderung in große Schwierigkeiten geraten. Hinzu kommen andere Regionen, die durch die Abwanderung der Jungen und Ehrgeizigen veröden. Migranten willkommen heißen, und sei es im eigenen Interesse? Es scheint ganz so, als möchte man lieber ungestört aussterben.
Dabei versteht sich Europa als ein »Einwanderungskontinent«. Der Begriff wurde vor einigen Jahren von dem ehemaligen EU-Justizkommissar Franco Frattini in die Diskussion eingeführt.5 Frattini, ein hartgesottener Konservativer, der illegale Pushbacks, also das Zurückdrängen von Flüchtlingen an den eigenen Landesgrenzen, ebenso befürwortete wie eine enge Kooperation mit Libyen in Migrationsfragen, machte sich keine Illusionen über die wirtschaftliche und demografische Notwendigkeit der Einwanderung nach Europa. Daran sieht man deutlich: Selbst konservative Kräfte in Politik und Gesellschaft, die auf territoriale und kulturelle Abschottung setzen, kämpfen zwar für restriktive Regeln im Bereich 22der Einwanderung und des Aufenthaltsrechts, nicht aber für einen kompletten Migrationsstopp. Das gilt selbstverständlich auch für das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien, wo das Amt für Nationale Statistik unlängst verkündete, dass im Jahr 2022 eine geschätzte Rekordzahl von 1,1 Millionen Menschen eingewandert ist, vor allem Ukrainer, Afghanen und Hongkong-Chinesen.6 Die Einwanderung aus den kinderreichen und wirtschaftlich schwachen Regionen des Globalen Südens, aber eben auch aus anderen Teilen der Welt, in den zunehmend kinderlosen und wohlhabenden Norden wird somit weitergehen. Nicht nur, weil im Süden Ursachen für die Abwanderung fortexistieren, sondern auch, weil es im Norden einen realen Einwanderungsbedarf gibt, der sich auf makabre und paradoxe Weise mit massiven Abschottungstendenzen und tödlichen Grenzsicherungen verbindet.
In Deutschland fällt dabei auf, dass in dem Land, das jahrzehntelang kein Einwanderungsland sein wollte, obwohl es faktisch längst eines war, inzwischen auch Konservative wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz die »klassischen« Einwanderungsländer wie die USA als Vorbilder empfehlen. Wenn man genauer hinhört, wird die Vorbildfunktion allerdings vor allem darin gesehen, dass sich die US-Regierung das Recht vorbehält, nach ausschließlich selbstgewählten, nicht verhandelbaren Kriterien zu entscheiden, wer im Land gebraucht wird und wer nicht – ohne Rücksicht auf den Willen und die Bedürfnisse potenzieller Migranten –, und mit Blick auf ein ganz spezifisches Idealbild der erwünschten Gesellschaft.7 Diese Liebe europäischer Konservativer zur Idee einer hochselektiven Einwanderungsgesellschaft, die das Leben hinter Mauern nicht in Frage stellt, ist bemerkenswert. Im Folgenden werden wir zeigen, dass der Verweis auf das vermeintliche Vorbild USA zwar eine Weltoffenheit sugge23riert, aber den Blick auf die rassistischen Aspekte der Migrationspolitik auf beiden Seiten des Atlantiks verstellt.
Offene Grenzen – aber nicht für alle
Im Herzen des europäischen Projekts steckt die Idee, dass die freie Binnenmobilität eine europäische Lebenswelt ermöglichen solle. Doch die Tore im Innern Europas sind nicht für alle offen und nicht einheitlich weit geöffnet. Es ist nicht nur so, dass der Schengen-Raum scharf zwischen den Menschen drinnen und draußen unterscheidet. Er teilt auch Menschen, die in ihm leben, sehr ungleiche Rechte zu. Die einen leben in der Illusion, es existierten überhaupt keine Grenzen mehr, wohingegen andere nirgendwo davor sicher sind, von der Polizei angehalten und nach ihren Papieren gefragt zu werden. Für sie scheinen die Grenzen nicht verschwunden, sondern im Gegenteil allgegenwärtig zu sein.
An den Außengrenzen der EU wiederum entdeckt die nationale Politik ausgerechnet im Prozess der partiellen Aufweichung der europäischen Binnengrenzen die Einwanderungskontrolle als das letzte Bollwerk staatlicher Souveränität. Dies gilt nicht nur für Staaten wie Polen oder Ungarn, deren Regierungsparteien sich als nationale Schutzmächte gegen eine angeblich aus Brüssel diktierte...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
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ISBN-10 | 3-518-77625-8 / 3518776258 |
ISBN-13 | 978-3-518-77625-4 / 9783518776254 |
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