Rassismuskritik -  Wolfram Stender

Rassismuskritik (eBook)

Eine Einführung
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-036706-7 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
31,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Rassistisch motivierte Gewalttaten werden - das ist keine Frage - von den meisten Menschen in Deutschland und anderswo verurteilt. Doch wie steht es um die weniger offensichtlichen Formen von Rassismus? Betroffene sehen sich immer wieder damit konfrontiert, dass ihre Erfahrungen mit diesen Formen des Rassismus nicht anerkannt oder kleingeredet werden. Hier bedarf es einer rassismuskritischen Perspektive, die solche Erfahrungen einordnet und dadurch sichtbar macht. Das leistet diese Einführung in die Rassismuskritik, indem sie die aktuelle Rassismusforschung vorstellt, die zentralen Begriffe wie 'Alltagsrassismus', 'Institutioneller Rassismus' und 'Struktureller Rassismus' erklärt und mithilfe von Fallstudien veranschaulicht. Welche Konsequenzen sich daraus für eine rassismuskritische Soziale Arbeit ergeben, wird abschließend erläutert.

Dr. Wolfram Stender ist Professor für Soziologie an der Hochschule Hannover.

Dr. Wolfram Stender ist Professor für Soziologie an der Hochschule Hannover.

Fanons Prinzip: Zur Einleitung


»Ein für allemal stellen wir folgendes Prinzip auf: eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht. Solange man diese Evidenz nicht erfasst hat, wird man an einem großen Teil der Probleme vorbeigehen« (Fanon 2013, S. 74). Kaum eine Erkenntnis über die gesellschaftliche Funktionsweise von Rassismus stieß auf mehr Unverständnis als dieser Satz aus dem Buch »Schwarze Haut, weiße Masken« von Frantz Fanon. Das Buch gilt heute als ein Schlüsseltext der Rassismuskritik. Der 27-jährige Fanon schrieb es vor dem Hintergrund der kolonialen Situation seiner Zeit und der sich vollziehenden antikolonialen Befreiungskämpfe, an denen er selbst aktiv beteiligt war. Das von ihm formulierte »Prinzip« richtete sich gegen jene zeitgenössischen Erklärungsversuche von Rassismus, die diesen auf ein rein subjektives Phänomen – »comme une tare psychologique« (Fanon 2006, S. 46) – reduzierten. Dem setzte Fanon die Perspektive derjenigen entgegen, die Rassismus alltäglich am eigenen Leib erfahren. Für sie stellt sich das »Problem« anders dar. Rassismus ist eine ständige Bedrohung, er durchdringt alle Bereiche des Lebens. Er ist dort, wo Menschen durch physische Gewalt getötet werden. Er ist aber auch dort, wo Menschen alltäglich erniedrigt und beleidigt werden, ihre Rechte strukturell verletzt und ihre Lebenschancen systematisch zerstört werden. Rassismus hat eine massive gesellschaftliche Materialität. Er ist für diejenigen, die ihm ausgesetzt sind, eine Erfahrung der Gewalt – egal in welcher Gestalt und in welcher Form.

In »Schwarze Haut, weiße Masken« reflektiert Fanon auf seine Erfahrungen in Frankreich zu Beginn der 1950er Jahre. Schon damals verurteilten die Vereinten Nationen Rassismus. Siebzig Jahre später besteht über kaum einen anderen Sachverhalt weltweit so hohe Einigkeit wie darüber, dass das, was mit dem Wort Rassismus bezeichnet wird, verabscheuungswürdig, moralisch zu verurteilen und politisch zu bekämpfen ist. Fast alle Staaten der Welt haben die Antirassismuskonvention, International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (ICERD), seit ihrer Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung im Jahr 1965 unterzeichnet.1 Sie haben sich damit verpflichtet, Rassismus in jeder Form unverzüglich und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, jeder Person in ihrem staatlichen Hoheitsbereich wirksamen Schutz gegen alle rassistischen Handlungen zu gewährleisten, wirksame Maßnahmen zu treffen, um das Vorgehen der eigenen staatlichen Behörden zu überprüfen, und alle Gesetze und sonstigen Vorschriften zu ändern, aufzuheben oder für nichtig zu erklären, die rassistische Diskriminierung bewirken (ICERD Art. 2).

Ist also das Fanon'sche Prinzip veraltet? Ist der Rassismus nur noch das Relikt einer untergegangenen Epoche, entstanden im langen 16. Jahrhundert, als »Menschenrassen« erfunden wurden, um die im Zuge der europäischen Expansion begangenen Verbrechen zu rechtfertigen und die Welt nach dem Prinzip der »Reinheit des Blutes«2 neu zu ordnen, aufgestiegen zur wissenschaftlichen »Rassenlehre« als angesehener und einflussreicher Disziplin im 18. und 19. Jahrhundert, untergegangen im kurzen 20. Jahrhundert mit dem Sieg über den Nationalsozialismus, dem Verbot der »Rassentrennung« in den USA, dem Sturz des Apartheidsystems in Südafrika und der weltweiten Befreiung vom Kolonialsystem als definitivem Endpunkt einer langen, von entsetzlicher Grausamkeit und Ungerechtigkeit gekennzeichneten Geschichte? Dies ist die Meinung vieler heute. Für sie ist Rassismus eine »Erbschaft«, ein »Überbleibsel« oder eine »Hinterlassenschaft« aus vergangener Zeit, die in der Gegenwart fortlebt, aber kein für die Gegenwartsgesellschaft konstitutives Strukturmoment. Zur Begründung wird auf gesellschaftliche »Liberalisierungen« und demokratische »Öffnungen« verwiesen und darauf, dass Rassismus ein »Thema des Mainstreams« geworden sei.

Aber es gibt auch die Gegenthese. Zwar ist es richtig, dass Rassismus auch in Deutschland heute kein Tabuwort mehr ist, Bücher wegen, über und gegen Rassismus zu Bestsellern avancieren, Aktionspläne gegen Rassismus mittlerweile regierungsamtlich erstellt, »Antirassismus-Beauftragte« berufen werden und neuerdings auch ein »Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor« existiert. Aber was heißt es, wenn Rassismus ein »Thema des Mainstreams« geworden ist, dieser jedoch weiterhin die strukturelle Dimension des Problems leugnet? Zweifellos, in Halle wie in Hanau, in Charleston, Pittsburgh, Christchurch, El Paso, Oslo, Buffalo und Paris – die Liste ließe sich leicht fortsetzen – war es die Extremgewalt von Personen, die Rassismus und Antisemitismus in welcher Variante und Kombination auch immer »im Herzen« (Jorge García) tragen: weltanschauliche und vom Hass getriebene Rassisten3. Die öffentliche Verurteilung dieser Form von Gewalt ist groß. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Rassismus auch heute in einer Weise tötet, die aus der öffentlichen Diskussion nach wie vor fast komplett herausfällt: in Formen struktureller Gewalt, die das Recht auf Leben und auf körperliche wie seelische Unversehrtheit verletzen. Dass etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die statistische Lebenserwartung von Rom:nja in Europa zehn Jahre niedriger liegt als im Durchschnitt der EU-Bevölkerung (vgl. Europäische Kommission 2011), hat nachweisbar etwas mit Rassismus zu tun. Es ist Resultat eines gesellschaftsgeschichtlichen Gewaltzusammenhangs, der sich in der Persistenz rassifizierter sozialer Ungleichheit fortsetzt und im Begriff des strukturellen Rassismus reflektiert.

Dieser Begriff aber, der die gesellschaftlichen Mechanismen der fortdauernden Reproduktion sozialer Ungerechtigkeit entlang rassifizierter Merkmale zum Gegenstand hat, stößt nach wie vor auf breite politische und öffentliche Abwehr und gezieltes wissenschaftliches Unverständnis. Gegen die Dethematisierung der strukturellen Dimension des Rassismus, die u. a. durch die Fixierung des ›Mainstreams‹ auf rassistische Einzeltaten und individuelle Formen von Rassismus organisiert wird, ist das Fanon'sche Prinzip zu verteidigen. Es entspricht auch heute der Erfahrung von Millionen von Menschen, auch wenn der Rassismus seine Gestalt verändert haben mag. Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hat Howard Winant auf das Paradox der angeblich »postrassistischen Gesellschaft« hingewiesen: »Today racism operates in societies and institutions that explicitly condemn prejudice and discrimination« (Winant 2001, S. 307). Statt die »Zeitenwende« hin zur »offenen Gesellschaft«, die den Rassismus erfolgreich überwunden habe, zu verkünden, wäre es die Aufgabe einer Rassismusanalyse, die den Namen verdient, den Zusammenhang zwischen der weltweiten öffentlichen Ächtung von Rassismus und den Mechanismen seiner Reproduktion im gesellschaftlichen Prozess zu untersuchen. Angesichts der Dynamik der weltgesellschaftlichen Ungleichheits- und Dominanzstrukturen, den mit ihr einhergehenden Formen neuer Grenzziehungen und Segregationen sowie der Renaissance offen rassistischer Politikprojekte, die auch in einigen Ländern der Europäischen Union mittlerweile die Regierungspolitik bestimmen, spricht nichts für die frohe Botschaft, dass ein Ende des Rassismus bevorsteht.

Das Fanon'sche Prinzip, Rassismus als strukturelles Problem zu begreifen, kann als der kleinste gemeinsame Nenner rassismuskritischer Theorie und Praxis betrachtet werden. Dabei ist es riskant, von Rassismuskritik im Singular zu sprechen, so wie es auch riskant ist, von Rassismus im Singular zu sprechen. Zwar gibt es einige basale Erkenntnisse, die unstrittig sind, etwa dass »Rassen« nicht existieren: »The truth is that there are no races: there is nothing in the world that can do all we ask ›race‹ to do for us« (Appiah 1985, S. 35). Dahinter kann niemand zurück. Es gibt keine natural kinds, keine natürlichen Gruppen im Sinne biologischer Tatsachen oder vorgesellschaftlicher Essenzen, wie in der traditionellen Rassismusforschung noch bis in 1950er Jahre angenommen wurde. Aber existieren »Rassen« als soziale Tatsachen? Existieren sie als »gelebte Erfahrung«? Existieren sie als »artikulierte Praxis«? »Race does not exist, but it does kill people«, so formulierte es Colette Guillaumin (1995, S. 107) vor vielen Jahren. Und ebenso treffsicher heißt es bei Linda Martín Alcoff: »Race korreliert zwar nicht mit Klinalvariationen, jedoch hartnäckig und mit statistisch überwältigender Signifikanz mit Lohnniveau, Arbeitslosigkeit, dem Armutsniveau und der Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu sitzen« (Alcoff 2021, S. 92). »Rassen« existieren nicht, aber »Rassen«-Konstruktionen sind in ihren materiellen, symbolischen und psychischen Effekten überaus real. Deshalb ist wenig gewonnen, wenn man das Wort einfach aus dem Wortschatz – oder dem Gesetzestext – streicht. Die durch den Rassismus geschaffenen Realitäten des...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Zusatzinfo 1 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Gesellschaft • Haltungskompetenz • Handlungskompetenz • Handlungswissen • Politische Bildungsarbeit • Soziale Arbeit • Soziologie
ISBN-10 3-17-036706-4 / 3170367064
ISBN-13 978-3-17-036706-7 / 9783170367067
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich