Digitalisierung -  Oliver Bertsche,  Frank Como-Zipfel

Digitalisierung (eBook)

Herausforderungen und Handlungsansätze für die Soziale Arbeit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
211 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040466-3 (ISBN)
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Seit den 1980er Jahren ist ein Prozess im Gang, der für die Gesellschaft so umfassend ist wie kaum ein anderer zuvor: die Digitalisierung. Betrafen frühere technologische Neuerungen meist nur spezifische Bereiche, erweisen sich die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung als ungemein breitenwirksam. Das betrifft auch die Soziale Arbeit. Dieses Buch bietet einen Überblick über die zentralen sozialwissenschaftlichen Diskurse und analysiert die Folgen der Digitalisierung für die Soziale Arbeit. Dabei werden die Exklusionsrisiken der Digitalisierung für deren Adressatinnen und Adressaten herausgestellt, ohne die Chancen dieses technologischen Umbruchs zu vernachlässigen. Abschließend wird gezeigt, wie sich Soziale Arbeit durch Digitalisierung wandelt und welche neuen Fragen bezüglich der Kommunikation, Prognostik und Berufsethik entstehen.

Prof. Dr. Oliver Bertsche lehrt Erziehungswissenschaft, Kinder- und Jugendhilfe sowie Sozialraumorientierung an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Prof. Dr. Frank Como-Zipfel lehrt dort sozialpädagogische Methoden.

Prof. Dr. Oliver Bertsche lehrt Erziehungswissenschaft, Kinder- und Jugendhilfe sowie Sozialraumorientierung an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt. Prof. Dr. Frank Como-Zipfel lehrt dort sozialpädagogische Methoden.

1 Digitalisierung – Annäherungen an ein komplexes Phänomen, oder: Zur Interdependenz von Technik und Gesellschaft


Der Begriff Digitalisierung und die damit assoziierten Phänomene prägen ganz ohne Zweifel die gesellschaftlichen Gegenwartsdiskurse. Die weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ab dem Frühjahr 2020, vordringlich die Einschränkung unmittelbarer zwischenmenschlicher Kontakte, die Begrenzung der physischen Bewegungsfreiheit, Distanzbeschulung und Homeoffice-Regelungen, haben auch dem*der letzten Skeptiker*in unmissverständlich klargemacht: Die Digitalisierung ist zu einer sozialen Realität geworden, und es ist an uns, die Formen und Normen ihrer praktischen Gestaltung zu definieren. Allein es fehlt an Konsens darüber, was unter Digitalisierung zu verstehen ist und wodurch sie sich auszeichnet. So kommt es denn auch, dass Vertreter*innen aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen, der Politik, der Arbeitswelt, der Wirtschaft, dem Kultur-‍, Bildungs- und Gesundheitssystem etc. zwar allesamt von der Digitalisierung als einer technisch-rationalen Realität, einer individuellen, sozialen und beruflichen Herausforderung oder als einem Leitparadigma moderner Gesellschaften sprechen, damit aber alles Mögliche assoziieren und der Begriff deshalb Gefahr läuft, sich zu einer beliebig instrumentalisierbaren Worthülse zu verformen. Allerdings, so muss man selbstkritisch einräumen, stellt uns die Vielgestaltigkeit der mit der Digitalisierung assoziierbaren Phänomene und Manifestationen, von der Computerisierung und Mediatisierung über die Technologisierung und Vernetzung bis hin zur Algorithmisierung und Robotik, definitorisch vor eine kaum lösbare Aufgabe. So muss denn auch der Versuch, eine tragfähige Definition dieses »schillernden Phänomens« (Block u. a. 2022, S. 9) zu fassen, die alle diese Aspekte abzubilden und zu integrieren vermag, entweder bereits im Ansatz scheitern oder sich, den eigenen Anspruch gleichsam limitierend, auf ausdrücklich simplifizierende Aussagen beschränken.

Vor diesem Hintergrund schlägt etwa der Kognitionspsychologe Christian Stöcker vor, als Digitalisierung den technisch-operativen Basisprozess zu bezeichnen, der es erlaubt »Daten in ein Format zu überführen, mit dem Computer umgehen können. Dieses Format ist: »Strom an, Strom aus»« (Stöcker 2020, S. 99). Stöckers Definition verweist auf einen wesentlichen, letztlich irreduziblen Aspekt der Digitalisierung: ihre Technizität. Unterdessen lässt sie aber einen anderen nicht unwesentlichen Gesichtspunkt der Digitalisierung unberücksichtigt: ihre soziale Bedeutung. So kreist denn auch ein Großteil der öffentlich geführten Digitalisierungsdiskurse weniger um den Aspekt ihrer Technizität als um die gesellschaftspolitische Relevanz der Digitalisierung, insbesondere aber ihre sozialen und individuellen Wirkungen und damit einhergehenden Perturbationen, vor allem mit Blick auf die durch sie bewirkten oder beförderten Transformationen in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens: der Kommunikations- und Diskurskultur, im Bereich der Medien und des Journalismus, der Kultur, Bildung und Wissenschaft, auf der Ebene der Politik und des Regierungshandelns, der Infrastruktur und Umwelt, der Arbeitswelt und Verwaltung, des Gesundheitswesens und nicht zuletzt im Bereich der öffentlichen Sicherheit und Verteidigung. Anders formuliert: Die Digitalisierung »beeinflusst, wie wir lernen, arbeiten, kommunizieren, konsumieren und unsere Freizeit gestalten, kurz gesagt: wie wir im Alltag leben und wirken« (Müller-Brehm, Otto & Puntschuh 2020a, S. 4). Dieses vielschichtige Transformationspotenzial findet seine Entsprechung in einem polarisierten fachwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs, der zwischen überschwänglichen technikoptimistischen Utopien (z. B. Kurzweil 2013; Schmidt & Cohen 2013; Pentland 2014) und sich in Auflösungsnarrativen ergehenden Dystopien (z. B. Bostrom 2016; Han 2013, 2021; Spitzer 2012, 2020) oszilliert.

Annäherung an den Begriff »Digitalisierung«

Fest steht, dass die Digitalisierung im Sinne des technischen Fortschritts nicht selbstreferentiell und isoliert für sich selbst steht, sondern in vielfältige soziale Prozesse eingebunden und mit diesen verknüpft ist. Ihre funktionalen Prämissen, Botschaften und Gesetzmäßigkeiten sowie ihre übergreifenden sozioökonomischen Verflechtungen sind jedoch nicht immer und in jedem Fall unmittelbar einsehbar und müssen erst im Rahmen eines synthetisierenden sozial-‍, gesellschafts- und kommunikationswissenschaftlichen Diskurses identifiziert und anschließend auf einer politischen Ebene legitimiert werden.

Bereits dieser erste Versuch einer definitorischen Annäherung an den Begriff der Digitalisierung macht deutlich, dass wir es mit einem vielschichtigen und komplexen Diskurs zu tun haben, der sich aus miteinander verknüpften und in Interaktion stehenden Ebenen zusammensetzt: Mit einem hoch dynamischen technologischen Basisprozess korrespondiert ein vielgestaltiger gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, der Grundfragen sowohl der individuellen Lebensführung als auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufwirft und seinerseits Verfahren der ethischen, politischen und rechtlichen Regulierung provoziert, mit anderen Worten: Der Begriff Digitalisierung verweist auf eine komplexe und folgenreiche »sozio-technische Konstellation« (Block u. a. 2022, S. 7), die auf den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen in vielgestaltiger Weise tiefgreifende soziale Veränderungen bewirkt.

1.1 Digitalisierung und soziale Praxis – Zeitdiagnosen der soziotechnischen Entwicklung


Dass sich die Digitalisierung ohne soziale Bezüge nicht adäquat erfassen lässt, ist nur vordergründig betrachtet eine triviale Erkenntnis, denn erst unter einer dezidiert gesellschaftstheoretischen bzw. kulturgeschichtlichen Perspektive lässt sich die wahre Gestalt der Digitalisierung erfassen: eine hoch komplexe, synthetisierende Form, in der das Technologische und Soziale wechselseitig aufeinander verweisen.

So gesehen gerät die Digitalisierung etwa in der von Andreas Reckwitz vorgeschlagenen Modellierung einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz 2017) zum Motor eines umfassenden Strukturwandels in der spätmodernen Gesellschaft, in der das Besondere, sowohl auf einer subjektiv-individuellen als auch auf einer objektiven Ebene, zu quasi paradigmatischer Form gerinnt.

In Armin Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft erweist sich das Digitale insofern als »einer der entscheidenden Selbstbezüge der Gesellschaft« (Nassehi 2019a, S. 29), als sich die Musterhaftigkeit und Komplexität der Gesellschaft, »die komplexe Regelmäßigkeit des Sozialen« (ebd., S. 56), selbst als Bezugsproblem der Digitalisierung erweist. Und dieses, so muss ergänzt werden, steht in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Siegeszug moderner Digitaltechnik, sondern erreicht durch diesen vielmehr einen Punkt, an dem sich die tief im komplexen Gefüge moderner Gesellschaften angelegten funktionalen Struktur- und Ordnungsmuster in ihrer Digitalität entbergen.

Aus einer nicht unähnlichen Perspektive argumentiert die Philosophin Sybille Krämer, indem sie auf ein prozessuales Verständnis der Digitalisierung rekurriert, »das auf der Zerlegung eines Kontinuums beruht, die Codierbarkeit dieser Elemente einschließt und auf deren (Re-)‌Kombinierbarkeit zielt« (Krämer 2022, S. 10). Auf diese Weise gelingt es ihrem Argumentationsgang, das Digitale vom Computer zu lösen und unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Gottfried W. Leibniz (1646 – 1716), Ada Lovelace (1815 – 1852) und Josephine Miles (1911 – 1985) »Keimformen des Digitalen« bereits in der alphanumerischen Schrift- und Buchkultur auszumachen.

Auch für den Kultur- und Medienwissenschaftler Felix Stalder steht fest, dass der gegenwärtig beobachtbare gesellschaftliche Transformationsprozess nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit technologischen Neuerungen wie der Verbreitung von Computern und dem Internet steht. Vielmehr beschreibt er in seinem Buch »Die Kultur der Digitalität« (2016) anschaulich, wie sich Mechanismen und Strukturen des Digitalen teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen und ihren Ursprung vor allem in Prozessen einer sich fortschreibenden gesellschaftlichen Pluralisierung finden. Hierzu zählt er neben Verschiebungen im Bereich der Arbeitswelt, insbesondere der schrittweisen Etablierung einer Wissensökonomie, auch Emanzipationsbestrebungen sozial marginalisierter Gruppen sowie einen generellen Kulturalisierungsschub. Da die sozial etablierten und tradierten Strukturen und Deutungsmuster diesen Entwicklungen vielfach nicht gewachsen sind, entwickeln Gesellschaften immer neue mediale Formen des kulturellen Ausdrucks, um den dynamischen Transformationen gewachsen zu sein. Folgerichtig identifiziert Stalder für den Gegenwartsdiskurs drei Formen der Digitalität: Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität. Als bedeutsam gilt der Hinweis, dass die neuen Technologien »also...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Sozialpädagogik
Schlagworte Gesellschaftsanalyse • Haltungskompetenz • Handlungswissen • Professionelles Handeln • Professionsethik • Transformation
ISBN-10 3-17-040466-0 / 3170404660
ISBN-13 978-3-17-040466-3 / 9783170404663
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