Bildungsgerechtigkeit im Ganztag (eBook)
182 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040462-5 (ISBN)
Dr. Tanja Grendel ist Professorin für Soziale Arbeit in Bildungs- und Sozialisationsprozessen an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.
Dr. Tanja Grendel ist Professorin für Soziale Arbeit in Bildungs- und Sozialisationsprozessen an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden.
1 Bildung und soziale Ungleichheiten: Theorie, Empirie und aktuelle Entwicklungen
Bildung, darauf weist bereits die Einleitung hin, ist in unserer Gesellschaft ein wertvolles Gut (Hradil 2001, S. 31). Bezogen auf formale Bildung eröffnen oder verwehren Abschlüsse und Zertifikate z. B. Zugänge zu bestimmten beruflichen Positionen, sind mit Einkommen, Prestige und Möglichkeiten der politischen Partizipation verknüpft. Immer dann, wenn »Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ›wertvollen Gütern‹ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten« (ebd., S. 30), spricht man von sozialer Ungleichheit.
Bildungsungleichheit
»Bildungsungleichheit« liegt also vor, wenn bestimmte Gruppen systematisch bessere oder schlechtere Zugangs- bzw. Teilhabechancen zu bzw. an Bildung haben.
Häufig sind ungleiche Bildungschancen eine Frage der »sozialen Herkunft«, die anhand unterschiedlicher Modelle bestimmt werden kann, darunter Klassen, Schichten oder Milieus. Allen Modellen liegt die Vorstellung einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft zugrunde, die Zuordnung erfolgt jedoch auf der Grundlage unterschiedlicher Merkmale. Mit dem Konzept der Klasse werden die Mitglieder einer Gesellschaft – je nachdem, ob sie Produktionsmittel besitzen oder nicht – in Herrschende und Beherrschte unterschieden; die soziale Schicht kategorisiert Menschen anhand von objektiven Merkmalen wie Bildungsabschlüssen, Einkommen und Berufsprestige; soziale Milieus beziehen in die Analyse neben objektiven auch subjektive Merkmale wie Werteorientierungen – etwa zwischen Tradition, Modernisierung und Neuorientierung – in die Gruppenbildung mit ein.
Soziale Herkunft
Wenn von der sozialen Herkunft die Rede ist, geht es also – im weiteren Sinne – um sozialstrukturell geprägte Bedingungen des Aufwachsens bzw. der Ressourcen in der Familie, die Einfluss auf Bildungsverläufe nehmen (können).
Ausbuchstabiert wird der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen inzwischen durch eine ganze Reihe elaborierter Erklärungskonzepte. Nachfolgend werden zentrale Ansätze vorgestellt (▸ Kap. 1.1), bevor diese theoretischen Perspektiven mit aktuellen empirischen Daten und Befunden verknüpft werden (▸ Kap. 2.2).
1.1 Theoretische Erklärungskonzepte
Geht es um theoretische Erklärungen sozial ungleicher Bildungschancen, wird in der Wissenschaft zumeist auf das Konzept primärer und sekundärer Herkunftseffekte nach Raymond Boudon sowie die Arbeiten Pierre Bourdieus rekurriert. Auch hier sollen diese Theorien in ihren Grundzügen skizziert werden, ergänzt durch Verweise auf Weiterentwicklungen dieser Ansätze und die Berücksichtigung des Modells der sozialökologischen Entwicklung nach Urie Bronfenbrenner.
1.1.1 Boudon: Primäre und sekundäre Herkunftseffekte
Boudon (1974) interpretiert sozialstrukturelle Unterschiede im Bildungssystem als Ergebnis primärer und sekundärer Herkunftseffekte.
Primäre und sekundäre Herkunftseffekte
Primäre Effekte äußern sich in Form von Kompetenzunterschieden, die auf sozialstrukturell variierende Sozialisationsbedingungen – etwa in den Bereichen Erziehung, kulturelle Anregung und Förderung – zurückgeführt werden, wohingegen sich sekundäre Effekte im Kontext von sozialstrukturell variierenden Bildungsentscheidungen zeigen und relativ unabhängig von Schulleistungen bzw. den primären Herkunftseffekten wirken (Watermann/Maaz 2006, S. 220).
Konkret heißt das, dass auch bei guten und sehr guten Schulleistungen die Übergangsentscheidung bei bildungsbenachteiligten Kindern seltener für das Gymnasium oder die Hochschule ausfällt als im Fall von privilegierten Kindern. Akteur*innen der Übergangsentscheidungen sind für Boudon in erster Linie die Eltern, was sich mit den in Deutschland geltenden Regelungen deckt, denn außer in den Ländern Bayern, Brandenburg und Thüringen gibt der Elternwille und nicht die Empfehlung der Lehrer*innen den Ausschlag für die weiterführende Schule.
Zurückgeführt werden sozialstrukturelle Muster des elterlichen Entscheidungsverhaltens auf Unterschiede in der »Abwägung von Vorzügen (Nutzen) und Nachteilen (Kosten) von höherer Bildung« (Becker/Lauterbach 2004, S. 15). Es wird also angenommen, dass Entscheidungen für oder gegen das Gymnasium oder ein Studium rational getroffen werden. Die Bewertung von Kosten und Nutzen formaler Bildungsabschlüsse bemisst sich dabei an der jeweiligen Bedeutung, der ihnen für den Statuserhalt innerhalb der Gesellschaft beigemessen wird: Während für höhere Positionsgruppen auch formal höhere Bildungsabschlüsse Voraussetzung des Statuserhalts sind, trifft dies bei unteren Positionsgruppen nicht zu. Hinzu kommt, dass es sich bei Bildungsentscheidungen um »Entscheidungen unter Unsicherheit« handelt, die »sich hinsichtlich der Bildungserträge, der Kosten verschiedener Bildungswege und der Realisierungswahrscheinlichkeiten unterschiedlicher Bildungsabschlüsse ergeben« (Kristen 1999, S. 17). Die Entscheidung für das Gymnasium oder eine akademische Ausbildung bedeutet nach dieser Lesart für untere Herkunftsgruppen zunächst einen Verzicht auf Einkommen bei unsicheren Erfolgsaussichten, auch weil Vorbilder im Nahumfeld häufig fehlen (Grendel 2012, S. 28).
In neueren Arbeiten ergänzen Maaz/Nagy (2009) zwei weitere Unterformen der sekundären Herkunftseffekte auf Bildungsentscheidungen: darunter zum einen sekundäre Effekte der Leistungsbeurteilung, zum anderen sekundäre Effekte der Schullaufbahnempfehlung. Sie tragen damit wissenschaftlichen Befunden Rechnung, die zeigen, dass Schüler*innen aus bildungsbenachteiligten Familien trotz gleicher Leistungen häufig schlechtere Noten erhalten und für sie trotz gleicher Leistungen seltener eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen wird (Maaz/Dumont 2019, S. 310). Dieser Aspekt wird nachfolgend im Zusammenhang mit den Arbeiten Bourdieus aufgegriffen, welche diesbezüglich tiefergehende Einblicke in die Ursachen und Mechanismen der Bildungsungleichheit geben.
Alles in allem, so lässt sich an der Stelle festhalten, zeigt Boudon also Bereiche auf, in denen Herkunftseffekte sichtbar werden. Mit Blick auf Kompetenzen (primäre Herkunftseffekte) und Entscheidungen für die Beteiligung an konkreten Bildungsgeboten (sekundäre Herkunftseffekte) entwirft er eine Struktur, die Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung nach wie vor prägt (▸ Kap. 1.2).
1.1.2 Bourdieu: Kapital, Habitus und Feld
Bourdieu geht – ähnlich wie das Konzept primärer und sekundärer Herkunftseffekte – ebenfalls auf unterschiedliche Voraussetzungen bzw. Kompetenzen für den schulischen Erfolg und auf unterschiedliche Perspektiven und Werteorientierungen in Bezug auf Bildung(stitel) ein. Dabei berücksichtigt er jedoch stärker die unbewussten, d. h. nicht per se rationalen Anteile an Bildungsentscheidungen und legt zudem die Verantwortung des Bildungssystems an der Reproduktion ungleicher Bildungschancen offen.
Zur Beschreibung der Sozialstruktur greift Bourdieu auf das Modell des Sozialen Raums zurück, das Klassen – auf die sich sein Konzept der sozialen Herkunft stützt – vertikal nach der Quantität und horizontal nach der Qualität ihrer Kapitalausstattung differenziert. Unterschieden werden, neben dem ökonomischen Kapital (u. a. Geld und Besitz), das soziale und das kulturelle Kapital. Unter sozialem Kapital werden die umgangssprachlich als ›Vitamin B‹ bezeichneten Ressourcen verstanden, die durch Beziehungen entstehen (z. B. Zugänge zu Freizeitangeboten). Das kulturelle Kapital wiederum gliedert sich in die objektivierte Form (z. B. der Besitz von Kulturgütern wie Büchern), die institutionalisierte Form (z. B. Bildungszertifikate) und die inkorporierte Form (z. B. verinnerlichte Kompetenzen des Zugangs zu und des Verständnisses von Bildungs- und Kulturgütern; siehe ausführlich Bourdieu 1983; Bourdieu 1987, S. 19).
Der Form des inkorporierten Kapitals wird in der Bildungsforschung besondere Aufmerksamkeit zuteil, etwa mit Blick auf das elterliche Vorlesen in der Kindheit, das neben der Förderung sprachlicher Kompetenzen u. a. mit der Vermittlung eines selbstverständlichen und positiv besetzten Zugangs zu Büchern in Verbindung gebracht wird und damit als gute Vorbereitung auf schulisches Lernen gilt (▸ Kap. 1.2.2).
Insgesamt eignet sich der Kapitalansatz folglich als Heuristik, um herkunftsspezifische Voraussetzungen des Bildungserfolgs zu beschreiben: Je nach Vorliegen können diese Zugänge eröffnen oder verwehren, etwa zu kulturellen...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Sozialpädagogik |
Schlagworte | Bildungsbenachteiligung • Bildungsdebatte • Bildungsforschung • Bildungsgerechtigkeit • Bildungspolitik • bildungspolitische Praxis • Bildungssystem • Bildungsteilhabe • Bildungswesen • Bildungswissenschaften • Kinder- und Jugendhilfe • Netzwerkarbeit • Schulsozialarbeit • Sozialraum • Soziologie |
ISBN-10 | 3-17-040462-8 / 3170404628 |
ISBN-13 | 978-3-17-040462-5 / 9783170404625 |
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