Traum und Albtraum (eBook)

Amerika und die vielen Gesichter der Freiheit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83104-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Traum und Albtraum -  Julian Heißler
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Kein anderer Begriff ist mehr mit dem US-amerikanischen Selbstverständnis verbunden wie der der Freiheit - sei es die Befreiung von den einstigen Kolonialherren, sei es die individuelle oder ökonomische Freiheit, sei es die freie Rede oder die Religionsfreiheit. Doch die starke Betonung des Freiheitsgedankens wie auch die Vielfalt seiner Ausdrucksformen müssen unweigerlich zu Konflikten führen. Der Journalist Julian Heißler nimmt den Freiheitsbegriff als Leitfaden für seinen Blick auf die USA. Ob es um die Meinungsfreiheit, den Zugang zu Waffen, den Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie geht: In einer einzigartigen Mischung aus Reportage und Analyse betrachtet Heißler die gegenwärtigen Widersprüche und Konflikte der USA, die sich aus ihrem Freiheitsverständnis ergeben.

Julian Heißler, Jahrgang 1983, berichtet seit Januar 2018 für die WirtschaftsWoche aus Washington DC. Zuvor schrieb er mehrere Jahre in Berlin für verschiedene Medien über die deutsche Bundespolitik. Er studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität zu Berlin und absolvierte das Masterprogramm Journalismus der Hamburg Media School.

Julian Heißler, Jahrgang 1983, berichtet seit Januar 2018 für die WirtschaftsWoche aus Washington DC. Zuvor schrieb er mehrere Jahre in Berlin für verschiedene Medien über die deutsche Bundespolitik. Er studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie an der Freien Universität zu Berlin und absolvierte das Masterprogramm Journalismus der Hamburg Media School.

Freies Volk


Vorbemerkung: In diesem Kapitel wird mehrfach das englische Wort race verwendet. Dem führenden amerikanischen Wörterbuch Merriam-Webster zufolge beschreibt der Begriff „eine der Gruppen, in die Menschen häufig auf der Grundlage von körperlichen Merkmalen eingeteilt werden, die bei Menschen mit gemeinsamer Abstammung als gemeinsam angesehen werden“.1 Diese Definition unterscheidet sich von der des deutschen Duden für den Begriff Rasse. Sie lautet: „Bevölkerungsgruppe mit bestimmten gemeinsamen biologischen Merkmalen“. Der englische Ausdruck stellt die Zuschreibung durch Dritte in den Mittelpunkt, der deutsche nicht. Laut Duden gilt Rasse deshalb aufgrund der „willkürlichen Auswahl von Eigenschaften“ mit Blick auf Menschen mittlerweile als überholt.2 Race wiederum ist im amerikanischen Sprachgebrauch weiterhin üblich und wird auch hier im Sinne der Merriam-Webster-Definition genutzt.

 

Am Morgen des 7. März 1965 schlich sich Sheyann Webb aus der Wohnung ihrer Eltern in einem sozialen Wohnungsbauprojekt in Selma, Alabama. Sie hatte ihre Haare in einen Zopf gebunden, trug eine Caprihose und schwarz-weiße Oxford-Schuhe. Ihr Ziel war die nahegelegene Brown Chapel AME Church. Dort trafen sich an diesem Vormittag rund 600 Demonstranten, die allermeisten von ihnen schwarz, um gemeinsam ins rund 80 Kilometer entfernte Montgomery zu marschieren, die Hauptstadt des Bundesstaates. Die Bürgerrechtler forderten ein Ende der diskriminierenden Regeln, die Afroamerikaner in weiten Teilen des Südens vom Wählen abhalten sollen. Doch das wollte die rassistische Führung von Alabama nicht zulassen. Gouverneur George Wallace gelobte, die Demonstration aufzuhalten, wies die Polizei an, „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um einen Marsch zu verhindern“.3 Damit war klar, dass der Staat mit Gewalt reagieren würde, sollte der Protest tatsächlich stattfinden. Doch die Bürgerrechtler, unterstützt von Martin Luther King jr., dem Präsidenten der Southern Christian Leadership Conference (SCLC), ließen sich davon nicht einschüchtern. Auch Sheyann Webb nicht. Ihre Eltern hatten ihr aus Sorge vor einer Eskalation verboten, das Haus zu verlassen, doch sie ließ sich davon nicht aufhalten. Ohne ihren Vater, ihre Mutter oder eines ihrer sieben Geschwister zu wecken, stahl sie sich ins Freie. Auf der Waschmaschine hatte sie eine kurze Nachricht an ihre Familie hinterlassen, entschuldigte sich für ihren Ungehorsam und erklärte ihre Gründe. „Ich marschiere für unsere Freiheit“, schrieb sie.

Sheyann Webb war neun Jahre alt.

Stunden später war sie wieder zu Hause. Schwer atmend, die Augen brennend von Tränengas. Der Marsch war nicht weit gekommen. Keine Meile vom Versammlungsort an der Brown Chapel AME Church entfernt, an der Edmund-Pettus-Bridge, stellten sich den Bürgerrechtlern rund 150 Sicherheitskräfte in den Weg. Die Polizei gab den Demonstranten zwei Minuten, um sich zu zerstreuen, doch schon eine Minute und fünf Sekunden später4 griff der Kommandeur zum Megafon und gab den Befehlt „Vorrücken! Treibt sie zurück!“5 Was folgte, ist unter dem Begriff Bloody Sunday in die amerikanische Geschichte eingegangen. „Wir wurden niedergeschlagen. Sie fingen an, uns mit Knüppeln zu malträtieren, uns mit Pferden niederzutrampeln und Tränengas freizusetzen“, erinnerte sich John Lewis, einer der Anführer des Marsches und später langjähriger Kongressabgeordneter.6 Er glaubte, zu sterben, verlor das Bewusstsein. Demonstranten trugen ihn zurück in die Kirche. 17 Menschen mussten ins Krankenhaus, rund 50 weitere wegen ihrer Verletzungen ärztlich behandelt werden. King, der die Entwicklung aus Atlanta verfolgt hatte, reiste kurz darauf nach Selma, um einen zweiten Marsch anzuführen.7 Sheyann Webb wiederum kauerte in ihrem Kinderzimmer auf dem Bett, weinte und schrieb ihr Testament.

Zur Bürgerrechtsbewegung war das Mädchen zufällig gekommen. Sie hatte einige Monate vor dem Marsch mit ihrer besten Freundin vor der Brown Chapel AME Church gespielt, als plötzlich einige ungewöhnlich schöne Autos vorfuhren. Als ein Mann in weißem Hemd und schwarzer Krawatte ausstieg, bildete sich sofort eine Menschentraube um ihn. Also wollten auch die Kinder wissen, was dort vor sich ging. „Wisst ihr, wer das ist“, fragte sie einer der Männer, doch Sheyann und ihre Freundin hatten keine Ahnung. „Das ist Dr. Martin Luther King jr.“, erklärte der Mann – und stellte die Mädchen dem Pastor vor.

King unterhielt sich ein bisschen mit Sheyann und ihrer Freundin. Als er sich schließlich umdrehte, um mit seinen Begleitern eine Strategiebesprechung in der Kirche abzuhalten, gingen die Mädchen einfach mit. „Er hat mich sehr beeindruckt“, erinnert sich Webb, heute Webb-Christburg, fast 60 Jahre später an diesen Moment. „Ich hielt ihn sofort für etwas Besonderes.“ Nach der Besprechung rannte sie nach Hause, erzählte ihren Eltern von ihrem Treffen mit King. Doch die waren entsetzt, sorgten sich um die Sicherheit ihrer Tochter. „Sie sagten mir, ich solle mich von diesem Schlamassel fernhalten“, erinnert sich Webb-Christburg. „Es war das erste Mal, dass ich nicht auf sie gehört habe.“

In den folgenden Wochen rannte Sheyann immer wieder zur Kirche, schwänzte die Schule und flunkerte ihre Eltern an – immer in der Hoffnung, wieder auf King zu treffen. So wurde sie noch als Kind Teil der Bürgerrechtsbewegung. Bald hatte King einen Spitznamen für sie: die kleinste Freiheitskämpferin. Beim geplanten Marsch, der an der Edmus-Pettus-Brücke endete, war sie die jüngste Teilnehmerin. Doch die Wochen im Frühjahr 1965 haben ihr Leben für immer geprägt. Nach dem Studium gründete sie ein Mentoren-Programm, das Jugendliche auf den Aktivismus vorbereiten sollte, schrieb ein Kinderbuch über den Marsch von Selma. In ihrem Haus in Montgomery hängt heute ein Ölgemälde, das sie als Kind auf dem Schoß von King zeigt. Das Bild ist einem Foto nachempfunden, das von den beiden existiert. Die junge Sheyann trägt darauf einen weißen Mantel, der Bürgerrechtler einen schwarzen Anzug und eine Blumenkette um den Hals. Beide lächeln knapp an der Kamera vorbei.

Das Bild entstand am 21. März 1965, zwei Wochen nach dem Bloody Sunday. An diesem Tag machten sich rund 5000 Demonstranten von der Brown Chapel AME Church erneut auf, um in die Hauptstadt zu marschieren. Doch diesmal schützten Truppen der Bundesregierung den Zug vor den Sicherheitskräften von Alabama, garantierten so ihre sichere Ankunft in Montgomery. Vier Tage später erreichte der Zug die Hauptstadt. Vor dem State Capitol sprach King zu rund 25 000 Demonstranten, die sich dem Protest mittlerweile angeschlossen hatten.8 „Lasst uns an die Wahlurnen marschieren, bis die Rassisten von der politischen Bühne verschwinden“, forderte er.9

Die Kundgebung war ein symbolischer Triumph, denn auch in Washington befand sich die Bürgerrechtsbewegung nach quälend langen Kämpfen auf dem Weg zum Erfolg. Die breite Öffentlichkeit war entsetzt von den Bildern aus Selma, verlangte Veränderungen. Das galt auch für US-Präsident Lyndon B. Johnson. Seit er nach der Ermordung von John F. Kennedy zwei Jahre zuvor ins Weiße Haus eingezogen war, hatte der Präsident aus dem Süden daran gearbeitet, der Diskriminierung in den ehemaligen Staaten der Konföderation etwas entgegenzusetzen. Nun drängte er auf Reformen im Wahlrecht. „Es gibt keinen Grund zum Stolz auf das, was in Selma geschehen ist. Es gibt keinen Grund zur Selbstzufriedenheit angesichts der langen Verweigerung gleicher Rechte für Millionen von Amerikanern“, so der Texaner vor einer Sondersitzung des Kongresses. „Unser Auftrag ist zugleich der älteste und der grundlegendste dieses Landes: das Unrecht zu korrigieren, Gerechtigkeit zu üben und den Menschen zu dienen.“10 Das zog. Johnson boxte ein weitreichendes Gesetzespaket durch den teils zögerlichen Kongress. Im August unterschrieb er den Voting Rights Act von 1965.11 Das Gesetz verbot die rassistischen Praktiken, mit denen vor allem im Süden Millionen schwarze Amerikaner seit Jahrzehnten vom Wählen abgehalten worden waren (dazu mehr im Kapitel Freie Wahl). In Selma etwa waren vor dem Voting Rights Act gerade einmal 335 der rund 15 000 schwarzen Einwohner als Wähler registriert. Ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des Gesetzes war ihre Zahl auf rund 11 000 gestiegen.12 Auch die Eltern von Sheyann Webb-Christburg ließen sich ins Wählerverzeichnis eintragen. „Das war mein Wunsch zu meinem zehnten Geburtstag“, erinnert sie sich. Ein Jahrhundert nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde damit ein großer Teil der afroamerikanischen Bevölkerung auch in der Praxis zu dem gemacht, was sie auf dem Papier längst waren: vollwertige Staatsbürger. Und damit frei.

 

Wer sich den Vereinigten Staaten zugehörig fühlen darf, ist eine seit der Gründung der Nation umstrittene Frage. „Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass zu diesen Rechten Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“, heißt es in der Unabhängigkeitserklärung, mit der sich der Zweite Kontinentalkongress am 4. Juli 1776 von der britischen Krone lossagte.13 Doch eingehalten wurde dieses Gleichheitsversprechen über Jahrhunderte nicht. Die Mehrheit der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung und fast die...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amerika • Freiheit • Freiheitsbegriff • Gesellschaft • Nordamerika • Politik • USA
ISBN-10 3-451-83104-X / 345183104X
ISBN-13 978-3-451-83104-1 / 9783451831041
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