Neue deutsche Europapolitik (eBook)

Währungsunion und Industriepolitik zwischen Eurokrise und geopolitischer Wende
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
546 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45529-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neue deutsche Europapolitik -  Etienne Schneider
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Während der Coronakrise setzte die Bundesregierung anders als während der Eurokrise nicht auf Austeritätspolitik, sondern überraschend auf eine gemeinsame europäische Verschuldung und Umverteilung im Rahmen des EU-Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU) - ein Bruch mit dem europapolitischen Tabu einer »Schulden-« und »Transferunion«. Zugleich drängt Deutschland seit 2019 in der Industriepolitik auf einen strategisch-interventionistischen Ansatz unter Aushöhlung der EU-Wettbewerbspolitik. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Umbrüche und Krisentendenzen des deutschen Wirtschaftsmodells analysiert Etienne Schneider, welche Interessen und Konflikte diesem Wandel der deutschen Europapolitik zugrunde liegen.

Etienne Schneider, Dr. phil., ist PostDoc am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.

Etienne Schneider, Dr. phil., ist PostDoc am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien.

Einleitung


2010: Seit Jahresbeginn schießen die Zinsen für griechische Staatsanleihen in die Höhe. Im Vorjahr hat die neue Regierung in Athen das Haushaltsdefizit auf über zwölf Prozent nach oben korrigieren müssen. Seither stufen die internationalen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Griechenlands sukzessive herab, ausländisches Kapital wird massenhaft aus Griechenland abgezogen. Bereits im Januar diskutieren die Euro-Finanzminister:innen1 über ein Rettungsprogramm für Griechenland. Doch die deutsche Seite blockiert (Hadjiemmanuil 2019). Im Februar drängt Frankreich auf eine gemeinschaftliche Unterstützung, um eine Insolvenz Griechenlands abzuwenden, nicht zuletzt wegen der empfindlichen Exposition französischer Banken – ein kritischer Moment, in dem sich die Eurokrise womöglich noch im Keim hätte ersticken lassen. Doch die deutsche Seite blockiert erneut. Die Krise eskaliert, greift über auf Irland, Portugal und Spanien. Im März akzeptiert die deutsche Bundesregierung ein Kreditprogramm für Griechenland, unter Einbindung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Doch dieses kommt zu spät. Die Eurokrise hat längst eine von Griechenland unabhängige Eigendynamik entfaltet. Angesichts der anstehenden Landtagswahlen in Nordrhein-Westphalen Anfang Mai verschleppt die deutsche Bundesregierung abermals eine gemeinschaftliche Reaktion auf die Eurokrise. Anfang Mai 2010, noch vor den Wahlen, gerät die Krise vollends außer Kontrolle: Das europäische Interbankengeschäft kommt zum Erliegen, selbst der wichtigste US-amerikanische Aktienindex Dow Jones bricht ein. Die Europäische Zentralbank (EZB) kauft erstmals in großem Maßstab Staatsanleihen auf, um einen Zusammenbruch des Euro zu verhindern. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet und der geschäftsführende Direktor des IWF, Dominique Strauss-Kahn, fliegen eigens nach Berlin, um die deutsche Bundesregierung umzustimmen. US-Präsident Barack Obama interveniert persönlich im Kanzleramt (vgl. Gammelin/Löw 2014, Gocaj/Meunier 2013, Tooze 2018).

Erst unter diesem massiven Druck lenkt die Bundesregierung schließlich ein und stimmt der Einrichtung eines vorübergehenden Stabilisierungsmechanismus für die Eurozone zu, der so genannten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Die Bundesregierung knüpft ihre Zustimmung jedoch an weitreichende Bedingungen. Sie besteht nicht nur auf einem Vetorecht hinsichtlich der Mittelvergabe. Vor allem sollen Kredite nur gegen harte Auflagen vergeben werden, verhandelt und überwacht durch die inzwischen berüchtigte ›Troika‹ aus IWF, Europäischer Kommission und EZB. Diese sehen in den so genannten Krisenländern tiefgreifende Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben, umfangreiche Privatisierungen und drastische Lohnsenkungen zur Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit (›innere Abwertung‹) vor. Andere Vorschläge, der Eurokrise durch eine breitere Streuung von Risiken oder anderweitige Ausgleichsmechanismen zu begegnen, lehnt die Bundesregierung dagegen ab – eine Position, an der sie auch im weiteren Krisenverlauf konsequent festhalten wird (Mahnkopf 2012, Germann 2018, Howarth/Schild 2021). In der Folge erleben die Krisenländer einen beispiellosen wirtschaftlichen Einbruch, getrieben von einer deflationären Spirale aus Austerität und schwacher Konjunkturentwicklung – mit verheerenden sozialen Folgen, vor allem in Griechenland (Branas et al. 2015, Kouvelakis 2018, Perez/Matsaganis 2018, Storm/Naastepad 2014).

2015: Nach einer Welle sozialer Proteste gegen die Krisen- und Austeritätspolitik in Südeuropa gewinnt SYRIZA mit deutlichem Vorsprung die Wahlen in Griechenland. Erstmals seit dem Ausbruch der Eurokrise gelangt damit eine Partei an die Macht, die glaubhaft verspricht, mit der Austeritätspolitik zu brechen – und die bereit ist, dafür auch in offene Konfrontation mit der Troika und anderen europäischen Regierungen zu gehen (Ovenden 2015). In den darauffolgenden Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm geht es nicht mehr allein um Griechenland. In den Verhandlungen verdichtet sich eine viel größere Auseinandersetzung über Fortsetzung oder Bruch mit einer zunehmend autoritär durchgesetzten Politik der Austerität und inneren Abwertung in der Europäischen Union (EU). Umso konsequenter soll ein Verhandlungserfolg der griechischen Regierung verhindert werden, um ein Exempel zu statuieren (Oberndorfer 2017). EU-Ratspräsident Donald Tusk warnt explizit vor der politischen Ansteckungsgefahr der »Illusion«, dass »es möglich ist, eine Alternative zur traditionellen europäischen Wirtschaftsauffassung aufzubauen« (Tusk 2015, eig. Übersetzung). Im Sommer 2015 wird SYRIZA letztlich mit bislang beispiellosen Maßnahmen in die Knie gezwungen: Die EZB schränkt die Kreditlinien gegenüber griechischen Banken ein, ohne diese Lebensader steht das griechische Finanzsystem vor dem Kollaps (Schneider/Sandbeck 2019). Der finale ›Todesstoß‹ für das Regierungsprojekt SYRIZAs kam jedoch wiederum von der deutschen Bundesregierung: In den entscheidenden Verhandlungen Mitte Juli lässt das Bundesfinanzministerium (BMF) ein einseitiges, schlicht gehaltenes Papier unter den Beteiligten streuen. Es bietet Griechenland »zügige Verhandlungen« über einen Austritt aus dem Euro an, verbunden mit »humanitärer« Unterstützung bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieses Schritts (BMF 2015a, Dams/Gersemann 2015).

Damit schien sich ein Eindruck zu bestätigen, der im Verlauf der Eurokrise vielfach geäußert und analysiert wurde: Die Bundesrepublik (BRD) ist kein Mitgliedsland unter anderen, sie ist innerhalb der EU dominant – wirtschaftlich, und immer mehr auch politisch. War mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) anfangs die verbreitete Erwartung verbunden, der Euro erweise sich als »Konvergenz-Maschine« (Gill/Raiser 2012), der die Mitgliedsländer wirtschaftlich sukzessive auf die gleiche Ebene hebe und damit letztlich auch politisch auf Augenhöhe bringe, so offenbarte die Eurokrise die wachsende Polarisierung und Machtasymmetrie zwischen Zentrum und Peripherie in Europa (Celi et al. 2018, Magone et al. 2016, Weissenbacher 2015). Aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seines Status als größter Gläubiger wird der deutsche Staat zunehmend als zentraler Krisenmanager in der Eurokrise betrachtet (Bulmer/Paterson 2013). Berlin sei nun die »heimliche Hauptstadt Europas« (Gammelin/Löw 2014), und Bundeskanzlerin Angela Merkel habe de facto die Führung über Europa übernommen (Mahnkopf 2012: 479, Proissl 2010), so eine in ähnlicher Form vielfach variierte Diagnose. Jürgen Habermas (2015) geißelte die neue Rolle Deutschlands als »Zuchtmeister« Europas, der prominente Soziologe Ulrich Beck (2012) sah ein »deutsches Europa« im Zuge eines Macchiavellischen Griffs zur Macht entstehen. Zugleich, so eine ebenfalls häufig vertretene Sichtweise, setze die BRD ihre neue Macht in Europa – anders als etwa die USA in der Nachkriegszeit – nicht hegemonial ein: Anstatt durch Allianzen und Konsens der Unterworfenen zu führen, verfolge Deutschland seine Eigeninteressen brachial und mit Zwang gegen andere Mitgliedsländer (Bulmer 2014, Morisse-Schilbach 2011). Indem Deutschland Europa derartig rücksichtlos seinen Eigeninteressen unterwerfe (Donnelly 2018), verstärke es letztlich jedoch die Desintegrationstendenzen und treibe Polarisierung und Spaltung zwischen den Mitgliedsländern weiter voran (Karnitschnig 2018, Kundnani 2014). Auch in der nach der akuten Krisenphase geführten Diskussion über eine weitere ›Vertiefung‹ und langfristige Stabilisierung der WWU durch zusätzliche Elemente der Risikoteilung oder Ausgleichsmechanismen ist die deutsche Seite zu keinen relevanten Zugeständnissen bereit (Seikel/Truger 2019, Schneider/Syrovatka 2019).

2020: Die Corona-Krise trifft folglich auf eine nach wie vor enorm fragile WWU (Herr et al. 2019). Erneut schnellen die Zinsen auf Staatsanleihen der südeuropäischen Mitgliedsländer nach oben, eine zweite Eurokrise steht im Raum (Handelsblatt 2020). Italien drängt, unterstützt von Spanien und Frankreich, auf Corona-Bonds, eine zeitlich auf die Pandemiebewältigung befristete Gemeinschaftsanleihe der Euro-Länder. Aber Deutschland blockiert erneut. Im Mai jedoch stellt sich die Bundesregierung hinter das Projekt eines europäischen Wiederaufbaufonds (NextGenerationEU). Dieser sieht zwar keine Corona-Bonds mit gesamtschuldnerischer Haftung, wohl aber erstmalig eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme in großem...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte akkumulationsregime • Desintegration • Europäische Union • Eurozonenkrise • EU-Wettbewerbspolitik • Finanzkrise • Regulationsansatz • Sozioökonomie • strategische Industriepolitik • Varieties of Capitalism-Ansatz • vergleichende politische Ökonomie
ISBN-10 3-593-45529-3 / 3593455293
ISBN-13 978-3-593-45529-7 / 9783593455297
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