Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung (eBook)
330 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45305-7 (ISBN)
Hermann-Josef Große Kracht, Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt. Christian Spieß, Dr. theol., ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Leiter des Johannes Schasching SJ Instituts der Katholischen Universität Linz.
Hermann-Josef Große Kracht, Dr. phil., ist Akademischer Oberrat am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt. Christian Spieß, Dr. theol., ist Professor für Christliche Sozialwissenschaften und Leiter des Johannes Schasching SJ Instituts der Katholischen Universität Linz.
Im Dickicht korporatistischer Ordnungsmodelle. Der katholische Richtungsstreit im Weimarer Wohlfahrtsstaat
Jonas Hagedorn
Der deutsche Wohlfahrtsstaat war und ist die institutionelle Antwort des Staates und intermediärer Akteure auf die – angesichts einer kapitalistischen (Markt-)Wirtschaft entstandenen und entstehenden – sozialen Risiken der Menschen. Sowohl die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als auch die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege waren in Deutschland treibende Kräfte der Wohlfahrtsstaatsentwicklung und sind als Träger öffentlicher Aufgaben (Tarifpartnerschaft, selbstverwaltete Sozialversicherungen als öffentlich-rechtliche Körperschaften, Wohlfahrtskorporatismus etc.) aktiv an der Wohlfahrtsproduktion beteiligt. Auch wenn sie nicht den Staat repräsentieren, partizipieren sie doch seit jeher – teils in hohem Maße – an der Ausführung wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben. Zwar ist es der Staat, der zur Schaffung sozialer Sicherheit verpflichtet ist. Gleichwohl muss er damit einhergehende Aufgaben nicht in Gänze selbst übernehmen, sondern kann sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben auch auf intermediäre Akteure stützen. Diese wohlfahrtsstaatliche Beteiligung von Intermediären und diese Koproduktion haben in Deutschland eine lange Tradition. Denn der Staat begann sich Ende des 19. Jahrhunderts und dann besonders in der Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat zu verstehen und seine Aktivitäten entsprechend auszurichten,25 als zentrale, wohlfahrtsstaatlich elementare Felder sozialer Praxis z.B. von Wohlfahrtsverbänden – darunter kirchlichen Verbänden in konfessionellem Wettstreit – bereits besetzt waren.26
Der deutsche Wohlfahrtsstaat konstituierte sich demnach nicht zuletzt durch seine Verhältnisbestimmung zu und in Abstimmung mit den in diesen Feldern aktiven und miteinander konkurrierenden intermediären Akteuren. Da er eine »generelle Sozialbindung öffentlichen Handelns« impliziert und da von ihm erwartet wird, »die politische Überformung der Marktprozesse nach Maßstäben sozialer Gerechtigkeit« zu gewährleisten, geht er selbst mit einem »normativ gehaltvolle[n] Begriff« einher, der auf die Linderung von Not, die Schaffung sozialer Rechte und gerechter Strukturen sowie die Ausbalancierung sozialer Ungleichheitslagen abzielt.27 Den normativen Gehalt lieh er sich zunächst von intermediären Akteuren, adaptierte ihn, spiegelte ihn zurück und übertrug in der Folgezeit zunehmend öffentliche Aufgaben an jene Akteure. Karl Gabriel, dem dieser Beitrag gewidmet ist,28 hat neben der Säkularisierung als großem religionssoziologischen Forschungsgegenstand die (europäische) Wohlfahrtsstaatsentwicklung und den diesbezüglichen Beitrag der konfessionellen Wohlfahrtsverbände, insbesondere der Caritas in Deutschland, beforscht und – wie kein anderer Sozialethiker in den letzten Jahrzehnten – reflexiv begleitet.29
Im Folgenden werde ich in einem ersten Schritt der Frage nachgehen, welche Richtungen im Katholizismus an einer korporatistischen Grammatik, u.a. der intermediären Grammatik des deutschen Wohlfahrtsstaates, mitgeschrieben haben (1.). In einem zweiten Schritt werden die vertretenen Korporatismusmodelle näher beleuchtet und voneinander abgegrenzt (2.). Im Rahmen eines Ausblicks wird abschließend die Frage behandelt, warum der Wissensbestand des katholischen Solidarismus einer theoretischen Überprüfung in korporatistischer Absicht30 unterzogen werden sollte (3.).
1.Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Weimarer Zeit
Nach dem Abklingen des noch in den 1910er-Jahren mit äußerster Vehemenz geführten Gewerkschaftsstreits (vgl. Hagedorn 2018, 76-89) flammte in den 1920er-Jahren im sozialen Katholizismus Deutschlands ein neuer Richtungsstreit auf, der die Ausrichtung korporatistischer Strukturen, mit denen auf die Verwerfungen kapitalistischer Wirtschaft reagiert werden sollte, betraf. Im sozialen Katholizismus der Weimarer Zeit prägten diesen Streit drei Richtungen: erstens die Anhänger der ›Wiener Richtungen‹, die die Zugewandtheit zur romantischen Ideenwelt und der Rekurs auf Karl Freiherr von Vogelsang (1818-1890) verbanden,31 zweitens die Gruppe der ›katholischen Sozialisten‹ und drittens die Gruppe der ›katholischen Solidaristen‹. Diese Dreigliederung sozialkatholischer Richtungen ist bereits Ende der 1920er-Jahre vorzufinden (vgl. Hagedorn 2018, 94). In der Katholizismusforschung und der wissenschaftlichen Literatur hat sie sich weitgehend durchgesetzt.32
1.1Die Wiener Richtungen
Unter der Bezeichnung ›Wiener Richtungen‹ werden die Strömungen im Sozialkatholizismus subsumiert, »die mehr oder weniger nach rückwärts schauende, an Romantik, Feudalismus und Stadtwirtschaft orientierte«33 Auffassungen vertraten. Der Untergang des Kaiserreichs, die Revolution, die Ausrufung der Republik und dann vor allem die Inflations- und Weltwirtschaftskrise führten zu einer Renaissance dieses Ideenspektrums. »Die fast vergessenen antikapitalistischen, ständisch-zünftlerischen Ideen der katholisch-sozialen Bewegung« des 19. Jahrhunderts »lebten wieder auf« (Gierse 1932, 130). Zu den untereinander teils stark divergierenden Wiener Richtungen zählt u.a. die von Othmar Spann in Wien vertretene Ganzheitslehre (Universalismus), die näher in den Blick genommen wird.
Othmar Spann (1878-1950) wurde in der Zwischenkriegszeit zum maßgeblichen Exponenten der sozialromantischen Ideenwelt. Er wurde 1919 als Professor an die Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien berufen und trat mit wirtschaftstheoretisch-soziologischen und philosophischen Arbeiten in Erscheinung. Er konzipierte ein »universalistisches System«, ausgehend »von der Ganzheit als erster soziologischer Wirklichkeit« (Arnold 1932, 1296). Als das Primäre galt Spann die Ganzheit, die sich ausgliedert; auch der einzelne Mensch würde erst durch Ausgliederung zu existieren beginnen. »Das Ganze ist vor den Gliedern«34 wurde zu einem Merksatz seiner Lehre. Spann hielt »nur zwei letzte Sozialtheorien« für möglich: »die eine denkt die Gesellschaft als Summe von einzelnen« – ein atomistischer Ansatz –, »die andere als Ganzes, das sich in seine Teile ausgliedert«.35 Er wandte sich gegen das seiner Ansicht nach vom Einzelmenschen ausgehende Alternativsystem zur Ganzheitslehre, das er im Solidarismus vertreten sah.
Besondere Beachtung erlangte die vom katholischen Akademikerverband im Juni 1931 veranstaltete soziologische Tagung in Maria Laach, auf der Othmar Spann ein großes Podium geboten wurde und universalistischen Ideen »ein nicht unbeträchtlicher Einbruch in den reichsdeutschen Katholizismus«36 gelang. Mit den Referaten zur universalistischen Ideenwelt Spanns wollte der katholische Akademikerverband an »eine beachtenswerte Tradition« anknüpfen, an »eine Entwicklungslinie, die schon kraftvoll unter der Mitarbeit bester Köpfe seit den Tagen der Romantik sich vorwagte, bevor ein gutgemeinter, ›weltzugewandter‹ Anpassungskatholizismus mit stark staatssozialistisch angekränkelter sozialpolitischer Werkfreudigkeit an der geistigen Gesamthaltung des damaligen Sozialkatholizismus so viel verdarb« (Ruster 1932, 102).
An der Universität Wien präsentierte Spann in seinen Vorlesungen die Grundlagen eines autoritären korporativen Ständestaats, griff die demokratischen Grundlagen der jungen österreichischen Republik an und bahnte dem Austrofaschismus intellektuell den Weg.37 Auch richtete er seine Kritik gegen eine Sozialpolitik, der aufgrund der »Schöpfung neuer ständischer Körper zum Ersatz für die alten«38 eine Alibifunktion zukäme.
1.2Die Richtung der katholischen Sozialisten
Die katholischen Sozialisten traten in Deutschland mit der 1929 erstmals veröffentlichten Monatsschrift Das Rote Blatt der katholischen...
Erscheint lt. Verlag | 19.7.2023 |
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Co-Autor | Bernhard Emunds, Christel Gärtner, Hermann-Josef Große Kracht, Jonas Hagedorn, Philip Manow, Matthias Möhring-Hesse, Frank Nullmeier, Ilona Ostner, Aloys Prinz, Hans-Richard Reuter, Christian Spieß, Berthold Vogel, Katja Winkler |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Katholische Kirche • Katholische Theologie • Konfession • Kritische Theorie • Linkskatholizismus • Not und Armut • Rechtsextremismus • Rechtspopulismus • Religion • Religionswissenschaft • Religion und Politik • Religiöser Sozialismus • Säkularisierung • soziale Grund- und Teilhaberechte • Sozialstaat • Sozialversicherung • Subsidiaritätsprinzip • Theologie • Weimarer Republik • Wohlfahrtspolitik • Wohlfahrtsstaat • Wohlfahrtsstaatforschung • Wohlfahrtsverantwortung |
ISBN-10 | 3-593-45305-3 / 3593453053 |
ISBN-13 | 978-3-593-45305-7 / 9783593453057 |
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Größe: 4,0 MB
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