Krise. Macht. Arbeit. (eBook)
200 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45557-0 (ISBN)
Hans-Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Jena.
Hans-Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Privatdozent am Institut für Soziologie der Universität Jena. Stephan Hebel ist Autor, Journalist und Redakteur der Frankfurter Rundschau.
2Krise als Alltagserfahrung und Wege zur Transformation
In der Tat muss es ein Essential linker Erzählungen sein, nach den Interessen zu fragen, die hinter gesellschaftlichen Entwicklungen stehen. Ohne die Antwort auf diese Frage bleibt im Dunkeln, warum es so schwer ist, offensichtlich katastrophenträchtigen Entwicklungen Einhalt zu gebieten. Denn in der Regel verfügen diejenigen, deren Interessen in der gegenwärtigen Politik gut aufgehoben sind, auch über die Macht, diese Politik und die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie hervorbringen, auch zu stabilisieren.
Hebel: Lass uns, nach dem ersten Überblick im vorangehenden Kapitel, die »Vielfachkrise des Kapitalismus« noch etwas näher betrachten – auch wenn es nicht einfach ist, der Komplexität des Krisengeschehens gerecht zu werden, ohne in der Form allzu akademisch zu werden. Wie würdest Du es dennoch versuchen?
Urban: In der Tat besteht die Besonderheit der gegenwärtigen historischen Situation meines Erachtens im Zusammentreffen ganz unterschiedlicher Krisenentwicklungen. Das entspricht auch dem Empfinden vieler Menschen, innerhalb wie außerhalb der Betriebe. Ich unterscheide hier zwischen zwei unterschiedlichen Krisendynamiken: Zum einen geht es um die Umbrüche, die uns seit vielen Jahren bekannt sind und die als Phänomene des 21. Jahrhunderts schon lange diskutiert werden. Wissenschaftlich ließe sich eher von »säkularen oder strukturellen Umbrüchen« sprechen. Zu nennen sind hier die Globalisierung und die Digitalisierung. Aber auch die Dekarbonisierung, also die möglichst umfassende Vermeidung von CO₂, gehört mittlerweile objektiv wie im Bewusstsein der Gesellschaft dazu. Das sind für sich genommen bereits Jahrhundertaufgaben, die schwer zu bewältigen sind.
Hebel: Zu diesen einzelnen Krisenerscheinungen kommen wir dann später noch…
Urban: …und als wären diese Globalprobleme nicht schon unübersichtlich und bedrohlich genug, erleben wir seit einigen Jahren zusätzlich eine Kette von sogenannten externen Schocks, also von historischen Zufallsereignissen, die dann aber doch nicht so zufällig sind: Zu nennen sind hier die Risse in den Lieferketten der industriellen Wertschöpfung, die Covid-19-Pandemie und natürlich seit dem Februar 2022 der Ukrainekrieg. Diese Krisen waren so nicht vorhersehbar, sind aber in ihren Auswirkungen weitreichend. Sie haben viel mit Strukturen des globalen Kapitalismus zu tun, wie noch zu besprechen sein wird. Es treffen also eher kurzfristig entstandene Ereigniskrisen auf diese längerfristigen Strukturprobleme, die uns ohnehin schon signalisieren, dass es sehr, sehr schwierig wird, die »Welt im Griff« zu behalten – eine mehr als problematische Formulierung aus den politischen Debatten. Das schafft eine Situation, in der viele Menschen nicht nur glauben, den Überblick zu verlieren, sondern sich auch immer weniger vorstellen könnten, mit welcher Politik diese Krisen gelöst werden könnten. Und selbst wer eine Ahnung davon hat, wie es gehen könnte, muss sich fragen, wie realistisch solche Lösungsstrategien sind.
Hebel: Ist das wirklich so neu?
Urban: Ja, ich halte diese Situation tatsächlich für einmalig. Historische Brüche, etwa durch Kriege oder Umweltkatastrophen, hat es natürlich öfter gegeben. Aber neu ist, dass sich so vieles grundlegend verändert und die Veränderungen in so kurzer Frist mit so großer Wucht aufeinanderprallen. Begriffe wie die Polykrise oder eben Vielfachkrise versuchen, diese historische Ausnahmesituation auf den Punkt zu bringen. Der Begriff Polykrise kommt eigentlich aus der Europaforschung und will deutlich machen, dass die Europäische Union sich in einer Vielzahl von Parallelkrisen befindet, die die ökonomische, die politische und die kulturelle Sphäre zugleich betreffen. Der britische Historiker Adam Tooze hat den Begriff zur Beschreibung der gegenwärtigen Situation in die Debatte eingebracht. Er sieht ihre Besonderheit darin, dass nicht nur viele Dimensionen von Krise gleichzeitig auftreten, sondern dass diese Krisenprozesse sich auch wechselseitig durchdringen und verstärken.
Hebel: Kannst Du dafür Beispiele nennen?
Urban: Nehmen wir den russischen Angriff auf die Ukraine und die Dekarbonisierung. Es ist mit Händen zu greifen, dass der Ukrainekrieg und die dadurch ausgelöste Energiekrise einen unmittelbaren Effekt auf die Themen Dekarbonisierung und Ökologisierung haben. Anders gesagt: Wir fallen meilenweit hinter die Fortschritte bei der Entwicklung von regenerativen Energiequellen zurück, so unzulänglich sie auch gewesen sein mögen. Der Ausbau von Windkraft und Solarenergie gewinnt nicht wirklich an Fahrt, und stattdessen gewinnt Fracking-Gas, das über tausende von Kilometern mit Dieselschiffen zu einem exorbitant hohen Preis aus den USA geliefert wird, an Bedeutung. Insgesamt hat der sogenannte fuel switch, also die Umstellung von Gas auf Kohle und Öl in Folge der ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland, die bisherigen Einsparungen bei den Emissionen weitgehend kompensiert. Wir haben es also mit einem umfassenden Scheitern zu tun.4
Ein zweites Beispiel: Das Zerreißen von Lieferketten ist ja nicht nur auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, sondern scheint auch zu signalisieren, dass die kapitalistische Variante der heutigen Globalisierung an ihre Grenzen stößt. Wertschöpfungsketten über den gesamten Globus zu spannen und Zulieferteile mit enormen ökologischen Kosten über Kontinente hinweg zu jagen, um Bruchteile von Kosten einzusparen – diese Art des Wirtschaftens erweist sich immer offensichtlicher als nicht zukunftsfähig. Aus guten Gründen ist daher eine Debatte im Gange, wie es mit der Globalisierung weitergehen soll. Die Position der Deglobalisierung zielt auf einen Rückbau von globalen Lieferketten und sogenanntes Re-Sourcing, also auf ein Zurückholen ausgegliederter Produktion. Andere plädieren für eine Radikalisierung der Globalisierung, indem sie sagen: Weil die Krisen in Deutschland die Kosten nach oben treiben, müssen jetzt vor allem die Kostenreduzierungsmöglichkeiten in den Niedriglohnländern aktiviert werden. Das liefe darauf hinaus, vor allem arbeitsintensive Teile der Produktion noch stärker als bisher in Länder mit niedrigen Löhnen und Sozialstandards zu verlagern. Also: Bekämpfung der Defizite der Globalisierung durch forciertes Out-Sourcing. Hinzu kommt schließlich aktuell die Politisierung der Globalisierungsdebatte unter dem Begriff Friend-Sourcing: Aus den Störungen, die heute schon aus dem Ukrainekrieg resultieren oder die morgen aus den befeuerten Konflikten zwischen China und Taiwan resultieren könnten, wird die Strategieempfehlung abgeleitet, die unternehmerischen und politischen Globalisierungsstrategien nicht nur ökonomisch, also betriebswirtschaftlich, sondern zugleich politisch zu durchdenken und zwischen ökonomisch und moralisch guter und schlechter Globalisierung zu unterscheiden. Gute Globalisierung kann demnach nur noch in Räumen stattfinden, in denen man es mit befreundeten Staaten und befreundeten Regierungen zu tun hat.
Ich sehe in dieser Debatte, wie die neuen geopolitischen Paradigmen die traditionelle Form der wirtschaftlichen Globalisierung überformen. Die imperiale Geopolitik hat der neoliberalen Globalisierung den Rang abgelaufen, stellt Therborn lakonisch fest. Doch bereits die Debatte über die zukünftige Rolle Chinas für die deutsche Exportwirtschaft zeigt, dass sich eine solche Strategie ganz neue Probleme einhandelt: Wer ist eigentlich Freundes-, wer Feindesland? Wäre der chinesische Markt moralisch akzeptabel, wenn die chinesische Regierung Zurückhaltung gegenüber Taiwan signalisieren würde und die befürchteten Störungen beim Import der so wichtigen Halbleiter aus Taiwan vermieden werden könnten? Und was ist mit dem EU-Mitgliedstaat Ungarn oder dem Nato-Partner Türkei, zwei nachweislich autoritären Regimen? Da herrscht Unübersichtlichkeit pur.
Hebel: Wie kommt das in den Betrieben an?
Urban: Die Betriebsräte gerade in den großen, global aufgestellten Unternehmen stehen mittlerweile nicht nur vor den Problemen, die mit der Konjunkturkrise, der Energiekrise oder...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | Digitalisierung • Gewerkschaften • Globalisierung • gute Arbeit • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • multiple Krisen • Reformen |
ISBN-10 | 3-593-45557-9 / 3593455579 |
ISBN-13 | 978-3-593-45557-0 / 9783593455570 |
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