Rechte Zeitverhältnisse (eBook)
401 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45463-4 (ISBN)
Dr. Philipp Rhein ist ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe für Politikwissenschaft der Universität Kassel und Mitglied des Promotionskollegs »Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität« an der Universität Tübingen.
Dr. Philipp Rhein ist ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe für Politikwissenschaft der Universität Kassel und Mitglied des Promotionskollegs »Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität« an der Universität Tübingen.
1.Krisenzeit oder Zeitkrise? Rechtspopulismus in ›entsicherten‹ Zeiten
Vor nunmehr über 20 Jahren warnten Dietmar Loch und Wilhelm Heitmeyer vor einer neuen autoritären Versuchung, die das kommende 21. Jahrhundert prägen werde (Loch und Heitmeyer 2001). Mit Blick auf Ralf Dahrendorfs (1997) Diagnose, der die zu Ende gehenden 1990er Jahre an der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert sah, blicken Loch und Heitmeyer auf die Entwicklung der liberalen westlichen Demokratien voraus. Sie erwarten, dass die Globalisierung die sozialen und politischen Zustände – gemeint sind die wohlhabenden Nationalstaaten des globalen Nordens – auf vielfältige Weise umkrempeln werde. Erfahrungen politischer Souveränitäts- und biografischer Kontrollverluste würden autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Kräften zum Durchbruch verhelfen. Denn einerseits werde das spätkapitalistische Versprechen autonomer und flexibler Lebensführung zunehmend als An- und Überforderung sowie als Verlust stabiler sozialer Verortung erfahren und sich zu sozialer Polarisierung und kollektiven Orientierungslosigkeiten auswachsen (Sennett 1998). Andererseits werden auf der politischen Ebene in den zu »Postdemokratien« (Crouch 2015, 2021) erstarrten liberalen Demokratien erhebliche Legitimations- und Demokratiedefizite und eine demokratische Regression (Schäfer und Zürn 2021) prognostiziert, die sich, infolge eines zu erwartenden nationalstaatlichen Souveränitätsverlusts, zu einer generellen Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit der Demokratie und des politischen Systems auswachsen würden. Auf dieser Linie wird der Rechtspopulismus als Reaktion auf eine Hegemonie eines postdemokratischen Liberalismus gedeutet (Jörke und Selk 2018). Dem zugrunde lägen vielgestaltige Erfahrungen von Kontrollverlusten, die zur Demokratieentleerung beitrügen, mit der Konsequenz, dass sich die unheilvolle Koalition aus autoritärem Neoliberalismus,6 sozialer Desintegration7 und Demokratieentleerung verschärfen und »neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden« (Heitmeyer 2001, S. 500).
In diesem Krisenpanorama wird der neue autoritäre Populismus als Rückkehr des Politischen (Laclau 2005; vgl. exemplarisch auch den Band von Panizza 2005) nach langen Jahren des postdemokratischen, ja post-politischen Liberalismus aufgefasst. Die »Stunde der Populisten« schlage dann, wenn es gelinge, dieses Legitimationsproblem erfolgreich zu politisieren und zu skandalisieren (Jörke und Selk 2017, S. 67). Komplexe und opake Prozesse politischer Entscheidungsfindung ließen sich immer seltener auf einen demokratischen Mehrheitswillen zurückführen, was in liberalen Demokratien zu Legitimationsproblemen und zur Konjunktur von Verschwörungstheorien und Ängsten führe, die einen »Illiberalismus der Furcht« beförderten (Selk 2019).
In diesem Kapitel wird, mit Blick auf den Stand der Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen des Rechtspopulismus, die These herausgearbeitet, dass der Rechtspopulismus keine neuralgische Angst- und Kontrollrückgewinnungsreaktion von Globalisierungs-»Opfern« ist und in dem Sinne auch weniger als eine Rückkehr des Politischen zu verstehen ist. Immerhin versteht man ihn aus dieser Perspektive vor allem nur als Resultat einer postdemokratischen und globalisierungsbedingten wirtschaftlichen Krisenzeit. Womöglich aber ist er, mehr noch, Ausdruck einer anti-politischen Ablehnung der liberalen Demokratie in toto. So jedenfalls deuten Hochuli et al. (2022) den Rechtspopulismus und sie sehen in ihm eine kollektive Wutreaktion auf die Postdemokratie und eine Ablehnung der Konsens-Politik und der formellen Politik überhaupt. Sie zeigen, dass der Rechtspopulismus vor allem auch mit den Temporalstrukturen der Gegenwartsgesellschaft zu tun hat, mit ihrem proklamierten Geschichts-Selbstbild: deren Ende nämlich. Sie kommen zu dem überraschenden Schluss: »Der Populismus wurde durch das Ende der Geschichte geboren und hat am Ende des Endes der Geschichte die Post-Politik entthront.« (Hochuli et al. 2022, S. 49)
Damit wird der Rechtspopulismus zum Anzeiger des Endes dieses Endes der Geschichte,8 jener zentralen und wirkmächtigen Selbstbeschreibung, die die Spätmoderne über ihre historische Situation hervorgebracht hat (vgl. dazu die ausführlichere Diskussion in Kapitel 2.3) – und er ist damit nicht nur das Phänomen einer Krisenzeit. So legt es auch mein eigenes empirisches Material nahe. Wendet man nämlich darauf Kategorien, Begriffe oder Theorien von Postdemokratie, Desintegration und Krisenzeit – die Erklärungsmuster Angst, relative Deprivation und/oder Desintegration – an, dann lässt es sich nur äußerst unzureichend zum Sprechen bringen. Aus den narrativen Interviews mit den untersuchten AfD-Wähler*innen dieser Studie geht eher hervor, dass es sich beim Rechtspopulismus nicht nur um ein Phänomen einer Krisenzeit, sondern einer tieferliegenden Zeitkrise handelt.
1.1.Verlier*innen der Modernisierung
Die These, dass der Rechtspopulismus weniger eine Rückkehr des Politischen und weniger eine Angstreaktion und ein Versuch zur Rückgewinnung globalisierungsbedingter Kontrollen über Politik und kollektive und individuelle Identitäten ist, sondern eine Zeitkrise verarbeitet, lässt sich bereits aus den Diskussion entwickeln, die ihn seit den 1990er Jahren als sogenanntes Modernisierungs- oder Globalisierungsverlier*innen-Phänomen beschreiben.9 Man sieht in rechten Bewegungen aus dieser Perspektive eine politische Artikulation von »Opfern« (Klönne 1989; Schacht 1990) oder »Verlierer*innen« gesellschaftlicher Modernisierung (Falter 1994; Hadler 2004; Spier 2010; Ulbricht 2020).10 Häufig wird die Nachfrage nach rechten Politikangeboten als direkte Ableitung von wirtschaftlichen Lebenslagen modelliert: Die sogenannten Verlier*innen oder Opfern gesellschaftlicher Modernisierung seien aufgrund eines Transformationsdrucks und daraus erwachsender beständiger Umorientierungsbedarfe – etwa durch die parallele Abwertung beruflicher Qualifikationen und damit verbundene Statusverluste (Winkler 1996) – ökonomisch und sozial betroffen und entsprechend für extrem rechte politische Angebote disponiert (Betz 1994). Die sogenannte Modernisierungsverlierer*innen-These besagt zwar, dass Menschen im Prozess des sozialen Wandels eine ständige Anpassungsleistung erbringen müssten und dass damit in immer schnelleren Abständen Statusbedrohungen einhergingen. In der Wahlforschung wurde jedoch schon früh angenommen, dass subjektive Deprivationsgefühle, mehr als die objektive soziale Lage, Politikverdrossenheit, politische Protesthaltung und »rechtsextremistische Denkmuster« beförderten (Falter 1994).
In dieser Richtung lässt sich der Rechtspopulismus als Modernisierungs- bzw. Globalisierungsverlierer*innen-Phänomen in sozialpsychologischer Hinsicht als Resultat kollektiver »relativer Deprivation« verstehen (Lipset 1955; Rippl und Baier 2005; Wolf et al. 2006; Heyder und Gaßner 2012; Gidron und Hall 2017; Tutić und Hermanni 2018; Pickel 2019; Burgoon et al. 2019). Thematisiert werden mit diesem Konzept soziale Vergleichsprozesse, die bei Menschen zu Vorurteilen und abwertenden bis rassistischen Einstellungen führen11 (Davis 1959; Runciman 1961; Runciman 1966; Vanneman und Pettigrew 1972; Walker und Pettigrew 1984; Walker und Smith 2002; Pettigrew et al. 2008) – und zwar unabhängig davon, wie sich die objektive Lage in diesem Vergleich wirklich darstellt. Entscheidend ist vielmehr, dass sich beim Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen eine subjektive Benachteiligungswahrnehmungen einstellt (Olson et al. 1986; Walker und Smith 2002). Nationalistisch-rassistische Einstellungen spielen vor allem dann eine Rolle, wenn etwa die Lage »der Deutschen« mit den in Deutschland lebenden »Ausländer*innen« verglichen wird (Wolf et al. 2006; Klein und Müller 2016). Entsprechende politische Bewegungen oder Parteien beuten demnach nicht etwa individuelles, sondern kollektives Benachteiligungsempfinden aus (Lipset 1955; Gurr 1970; Vanneman und Pettigrew 1972; Power 2018), sowie damit zusammenhängende gruppenbezogen-menschenfeindliche und rassistische (Blumer 1958; Zick 1997; Pettigrew 2002; Wolf et al. 2006;...
Erscheint lt. Verlag | 19.7.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | AfD • Apokalypse • Baden-Württemberg • Bundesrepublik Deutschland • Chiliasmus • Distopie • Empirische Analyse • Gesellschaftsanalyse • Interviews • Qualitative Methoden • Qualitative Sozialforschung • Rechtsextremismus • Spätmoderne • Utopie • Wahlverhalten • Wutbürger • Zukunft |
ISBN-10 | 3-593-45463-7 / 3593454637 |
ISBN-13 | 978-3-593-45463-4 / 9783593454634 |
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